Joseph von Lauff
Sinter Klaas
Joseph von Lauff

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8

Um fünf Uhr war alles vorüber.

Der Hügel wölbte sich auf, die Leidtragenden verliefen sich, und die schwarzen Lebensbäume, die den Kalvarienberg umstanden, säuselten mit traurigen Stimmen: »Tu est pulvis et ad pulverum reverteris.«

Auch die Herren von der Solopartie machten es den anderen nach, warfen noch einen letzten Blick auf die dunkeln Grabschollen und empfahlen sich der Stätte des Todes. Die drei Zylinder pilgerten wieder durch die niederrheinische Landschaft, drei Zylinder in Reihe, die sich vom rechten Flügel aus allmählich nach links abdachten. Der von Dores Schweißgut überragte sie alle. Cornelis seiner hielt die mittlere Straße inne, während Pitt Lörksens Hut merklich gegen die übrigen abfiel. Aber alle drei machten einen stattlichen Eindruck, suchten ihresgleichen in der kleinen Stadt und zogen wie selbstgefällige Protzen durch das Abendlicht, das friedlich heraufdämmerte, nachdem das Graue, Trübe und Dunstige des verflossenen Tages sich wieder aufgelöst hatte. Sogar einige Lerchen hingen in der Luft, und es war einem so, als wäre Trumpfsieben selig geworden und pfiffe seine feinsten Touren zum Himmelsfenster heraus, so fröhlich wirbelte es aus der Höhe herunter.

Am Kesseltor machte die Solopartie Halt. Hier verabschiedete sich Cornelis von seinen Kumpanen und ging straffen Schrittes seiner Windmühle zu.

Dores und Pitt sahen ihm nach.

Als er außer Hörweite gekommen war, sagte der emeritierte Kappesbauer und Schnapsbrenner: »Ich will 'ne Pfeife Tabak dran hängen – der Matador weiß mehr, als er sagt.«

»Laß ihn,« versetzte Grünober, »denn was er tut und nicht tut, wird schon seine Richtigkeit haben und den sogenannten Fundus besitzen.«

»Aber so unter uns Freunden . . . Man möchte doch gern hinter die Gardine mal gucken. Indessen jedoch: nicht rühr' an die Sache. Auch gut. Lassen wir ihn, denn ich sage ja selber: Immer leschär, meine Herren! Aber was mir absolut nicht gefällt . . . dieser Jan van den Birgel . . . Der Kerl pflügt nicht, sät nicht, erntet nicht und lebt doch wie der Flachsfink im Rübsen.«

»Um die Wahrheit zu sagen: das besorgt ihm die Tochter.«

»Aber er behauptet ja immer, er hätt' 'nen reichen Verwandten am Misipippi dahinten.«

»Unsinn! Die Tochter besorgt's ihm und mit ihr der verfluchte Simonis. Gott hab' ihn selig!«

»So'n Rindvieh!« fiel Pitt Lörksen dazwischen. »Der Kerl ist mir als Ökonomiker immer ein Rätsel gewesen. Was war er? Ein armseliger Schlucker, dann Schreiber bei 'nem Halsabschneider von Anwalt, dann Kassenrevisor bei die Deichkorporationen von Kleve und Geldern und schließlich Herr und Besitzer vom Aukamp. Allen Respekt, wenn ich auch glaube: die Totalität ist mistig und stinkig.«

»Und was die Hauptsache ist,« bestätigte Grünober mit lurksender Stimme, »der Mensch konnte Malthus beschwatzen und den armen Kalviner um sein Höchstes betrügen.«

»Auch da steckt Jan van den Birgel dahinter.«

»Und erst recht seine Tochter.«

»So, so! Dann ist also die Geschichte mit dem reichen Verwandten am Misipippi dahinten . . .«

»Erstunken und erlogen! Simonis allein ist das Karnickel gewesen, und du sollst mal sehen: die beiden machen der jungen Witwe noch schwere Molesten, haben sie ihr immer gemacht, besonders das Weibsbild, das immer herumgeht wie die leibhaftige Sünde.«

»Ja, die auch! Die macht Nägel mit Köpp. So 'ne Leberklöße und so 'ne Augen! Da läuft einem schon bei's Angucken das Wasser im Mundwerk zusammen.«

Dores Schweißgut warf dem Begeisterten einen mißbilligenden und strafenden Blick zu.

»Das ist kein christkatholischer Standpunkt.«

»Bei dir nicht, aber bei mir . . . Nichts für ungut, Grünober, aber in meinen Verhältnissen . . . Junggeselle und einzelner Herr . . . Da kann einer schon 'n halbes Auge riskieren.«

»Wenn auch! aber mit Jan van den Birgel die seine . . .

»Brustlatz ist Brustlatz!« lachte Trumpfsieben. »Immer leschär, meine Herren! Aber herauskriegen tu ich's, ob Simonis oder der reiche Verwandte vom Misipippi dahinten . . .«

»Der Fluß in Amerika tut sich Mississippi benennen,« verbesserte ihn Dores Schweißgut.

»Merci! Will's mir merken für später. Bloß die Frage ist die: von wem hat sie ihr Salär und ihre Honorierung bezogen? Von Simonis oder von dem reichen Verwandten am Misipippi dahinten? Herauskriegen tu ich's! Aber alles, was recht ist, und ganz partie egal, ob sie die heiligen Ehesakramente empfangen hat oder nicht – die Lena hat was anzupräsentieren und kann einem schon lange Stielaugen machen. Drum keine Feindschaft, Grünober! Wie wär's denn, wenn wir uns noch 'nen kleinen Türlütüttü vergönnten, dem Malthus zu Ehren?«

»Können wir machen,« versetzte der würdige Kolonial- und Schnittwarenhändler, »aber wenn ich bitten darf: keine leichtfertigen Redensarten mehr. Ich bin christkatholischer Bürger und kein einzelner Herr und habe immer den Standpunkt vertreten: das Weib soll sein wie ein fruchtbarer Weinstock vor deinem Hause. Nur meine ehelich angetraute Frau darf mir ihre Plüschpantoffeln unter die Bettlade stellen. Sonst keine und könnte sie das Feinste und Sehnsuchtsvollste mang die Kissen placieren. Verstanden?!«

Ja, Pitt Lörksen hatte verstanden.

»Auch 'ne Ansicht,« sagte er schmunzelnd. »Als Junggeselle und Kappesbauer jedoch muß ich 'ne andere Meinung vertreten. Wo käm' ich sonst hin? Immer leschär, meine Herren! Indessen jedoch: nichts für ungut, Grünober,« und damit nahmen die beiden wieder ihren früheren Schritt auf, um sich ihren Abendschoppen im ›Dicken Tommes‹ zu gönnen.

Auf ihrem Gange mußten sie die schmale Gasse passieren, die parallel mit der alten Stadtmauer lief und aus diesem Anlaß im Volksmund die Bezeichnung ›Achter de Mur‹ erhalten hatte. In diesem entlegenen Viertel wuchs das Gras zwischen den Steinen, duftete es nach Ziegen- und Bockmist, standen die Häuser so recht nicht im Senkel und wohnten nicht die sanften Klänge eines Klaviers hinter den Schirtinggardinen. Aber hier und da, ganz leise und sachte . . . zuweilen tönte aus einem verlorenen Winkel eine Ziehharmonika herüber, und dazu sang eine heisere und verrostete Stimme:

»Es waren einmal zwei Knaben,
Die hatten ein Mädchen so lieb.
Der eine, der war ein Schiffer,
Der andre dem Amtmann sein Jung.

Sie tät die Mutter fragen,
Wen sie wohl nehmen sollt.
Laß du den Schiffer man laufen
Und nimm den Amtmannsjung!

Der Schiffer und der tat weinen.
Als er den Abschied bekam.
Der Düwel soll dich holen
An deinem Hochzeitstag.

Der Düwel kam geritten
Auf einem schlohweißem Roß,
Tanzt dreimal in die Ru-hun-de,
Fuhr mit ihr zum Fenster hinaus.
         Juhu!«

»Da singt der Bocken-Wilm,« meinte Pitt Lörksen. »Der kann's wie'n Kanalljenvogel und ist hinter der Musik her wie sein Bock hinter der Ziege. Aber ich bitte dir, Dores, bleib' bei 'ner Besinnung . . . da hinten . . . vor ihrem eigenen Häuschen . . . da steht ja die Lena . . .«

Und richtig, da stand sie, mit untergeschlagenen Armen, auf denen ihre jungfräulichen Äpfel wie auf Buttermilch und Mandelkleie ruhten, in einer blau- und weißgewürfelten Bluse, mit prallen Schenkeln und derben Waden, die unter dem kurzen Röckchen wie bronzene Säulen hervorsahen. Donnerwetter noch mal! Die Lena war schon ein üppiges Fraumensch, riemig und herzhaft gewachsen, rassig und gierig und eigens dazu geschaffen, ein Mannsmensch heiß und kirre zu machen, und dabei wuscherte sie mit ihren blanken Augen herum wie 'ne fidele Bachforelle im Strudelwasser. Selbst Dores Schweißgut war wie besessen, tat aber so, als hätt' es für ihn nie eine Lena van den Birgel gegeben, obgleich er jetzt, wenn auch nur heimlicherweise, das fleischliche und pralle Geheimnis der blau- und weißgewürfelten Bluse zu ergründen versuchte, schlug jedoch mit dem Daumen der rechten Hand ein Kreuz in der Hosentasche, um sein Gewissen zu beruhigen und seinen ausschweifenden Sinnen eine weniger verdorbene Richtung zu geben.

Pitt Lörksen hingegen, als ein gerader und aufrichtiger Mann und nicht dazu angetan, aus seinem munteren Herzen eine Mördergrube zu machen, hatte keine seelischen Bedenken, ließ sich auch nicht nötigen und knabberte mit seinen gütigen Pupillen an dem schmucken Weibsbild herum wie 'ne Ratte an einem fetten Edamer Käse.

Hierauf gab er Dores einen kurzen Stoß in die unteren Rippen und sagte: »Spiritus, merkst du was? Jetzt krieg' ich's heraus, ob Simonis oder der reiche Verwandte vom Misipippi dahinten . . .«

»Der Fluß tut sich Mississippi benennen,« korrigierte Grünober zum andern. »Man muß doch sich als gebildeter Staatsbürger benehmen, sonst ist einer man power beschlagen,« und seine Korinthenäugelchen nahmen wieder ihren verstohlenen Patrouillengang auf und blieben wie Fliegen auf Sirupspapier an den Buckeln der saftigen Schildjungfrau haften.

»Merci!« sagte Pitt Lörksen, kniff seinem Kollegen noch ein fideles Äugelchen zu, als wenn er ihm dartun wollte: »Dores, nun kommt die Geschichte,« nahm sein putziges Beinwerk zusammen und fragte verbindlichst: »Na, Mamsell Lena, wie geht's denn, wie steht's denn?«

»Danke der Nachfrage. Nicht besonders, Herr Lörksen.«

»Kann's mir denken; es hat sich vieles verändert.«

»Das ich nicht wüßte, Herr Lörksen.«

»I der tausend noch mal! ich sollte doch meinen, wo sie Christian Franz Malthus begruben . . .«

»Kümmert mir nicht; die Wassermühlen sind mir immer schnuppe gewesen.«

»Das allerdings; aber das mit Simonis . . . Vielleicht habt Ihr 'ne Aufmunterung nötig.«

Die molligen Halbkugeln des jungen Weibes kamen in eine sanfte Bewegung.

»Gott ja, das mit Simonis!«

»Und da sollte ich annehmen,« fuhr Trumpfsieben wehmütig fort, »es wäre Euch bekömmlicher, in 'ne propere Stelle zu kommen.«

»Bei wem denn?«

»Zum Beispiel . . . nehmen wir an . . . ich denke bei mir; denn in meinen Verhältnissen und als einzelner Herr, darüber könnte man schon 'ne Lippe riskieren.«

»Als was denn?«

»Als Jungfer für allens, um doch dem Kind 'nen Namen zu geben, und das bei guter Salärung.«

»Das sollte Euch passen!« fauchte sie auf und kicherte dabei wie'n Kuckucksweibchen beim Liebesstrich. »Aber warum denn, Herr Lörksen?«

»Ich dächte doch: Simonis ist tot . . . oder sollte der reiche Verwandte am Misipippi dahinten . . .«

»Wa . . . was . . .?!«

In ihren Augen begann es zu flackern.

»Menschenskind, ich bitte mir aus . . . Was soll's mit Simonis? Ich kenne ihn nicht, das heißt, ich habe mich nie um seine Details und seine Talers gekümmert.«

»Hoho!« machte Trumpfsieben und warf seinem frommen Solokollegen einen pfiffigen Blick zu. »Lena, Ihr wollt doch die Geschichte nicht wahr machen: ehe der Hahn zweimal kräht, hast du mich dreimal verleugnet?«

»Lörksen, ich sage noch einmal . . .«

Der leuchtende Glanz in ihren Augen war bleiern geworden. Ihr Busen hob sich wie eine kräftige Dünung.

»Wer hat Euch denn mal früher die Taille verdorben?« schäkerte Trumpfsieben, »und wer so was betreibt, muß doch die Honorierung bezahlen.«

Er kam nicht weiter, denn es war aus mit Lena.

Sie hatte verstanden.

»Ihr nicht und Simonis erst recht nicht!« schrie sie auf und warf ihren Kopf in den Nacken. »Vater, komm' mal mit dem Medaillenstab her, um die beiden Kerls im Trauerbibi über die Köppe zu hauen. Die Drecksknochen wollen mich als Saumensch verschleißen!«

Als ihr Erzeuger jedoch auf sich warten ließ, setzte sie ihr Mundwerk in Bewegung, daß es man so rasselte und prasselte, wobei die fette Ratte, die sich mittlerweile eingestellt hatte, mit ihren nadelscharfen Zähnen fletschte und grimmige Männchen machte.

»Dreckspropheten, infame! Lausegesellschaft! – mir so unter die Augen zu kommen!«

Ein Eimer mit Spülichtwasser folgte dem andern, bis sie's endlich über hatte und in die Worte ausbrach: »Jette, wollen man gehen. So 'ne Package soll man nicht von vorne betrachten.«

Damit machte sie Kehrt, hob die Röcke bis zu den straffen Schenkeln auf, knickste etliche Male und trat in den Hausflur.

»Wer schreit, hat unrecht,« konstatierte Pitt Lörksen mit stoischer Ruhe. »Und sie hat wie Speck in der Pfanne geschrien. Immer leschär, meine Herren! Jetzt weiß ich's. Dores, du hast richtig vermutet. Nicht der reiche Verwandte am Misipippi dahinten, sondern Simonis ist das unschuldsvolle Karnickel gewesen. Der gab die Monetens, und ich will meinen kleinen Finger verwetten: nu kommt Schnurr Schnapp von der Waterkant an die Reihe, um sich als Thron- und Bettfolger anzuempfehlen.«

»Der?« fragte Grünober.

»Aber natürlich. Der Mann hat Grütze im Kopf. Erst Schulmagister, dann Balbierer und nebenher so'n halber Kümmeltürke. Das imponiert ihr. Aber wollen mal Leine ziehen, sonst macht sie retour, und wir können noch an ihrem Maulwerk ersticken. Indessen jedoch: ein kapitales Fraumensch ist sie und bleibt sie. So 'ne Leberklöße, Grünober!«

Mit beiden Händen machte er die hierzu gehörige Anmerkung.

»Pitt, um die Wahrheit zu sagen: wir haben in ein reguläres Wespennest gestochen,« entgegnete Dores.

»Aber es war trotzdem pläsierlich,« und damit marschierten sie ab und trugen ihre Zylinder dem Stammtisch im ›Dicken Tommes‹ entgegen, während Trumpfsieben fidel dazu pfiff:

»Ein Kreuz, ein Leid, ein böses Weib
Hat mir der Herr gegeben;
Nimm's Kreuz von mir und's Weib zu dir,
Dann kann ich ruhig leben.«

Als sie sich noch einmal umschauten, stand Jan van den Birgel in voller Montur und als Tempelwächter vor seiner Hausschwelle und gestikulierte drohend mit seinem Medaillenstab hinter ihnen her, der ernst und feierlich im matten Licht des Abends erglühte.

Die Gasse ›Achter de Mur‹ bekam ihren Frieden und ihre weihevolle Stille zurück. Nur aus einem verlorenen Winkel tönte noch immer die Ziehharmonika herüber – ernst und getragen und von zierlichen Variationen begleitet. Dazu sang eine heisere und verrostete Stimme:

»Es waren einmal zwei Knaben,
Die hatten ein Mädchen so lieb.
Der eine, der war ein Schiffer,
Der andre dem Amtmann sein Jung.«

* * *

Andern Tages, als noch die Nebel zwischen den Baumkronen hingen und mit lautem Klatschen ihre Feuchte niedertropfen ließen, begann sich schon das Leben auf den Wassermühlen zu regen.

Das Herrenhaus schlief noch, aber in der Gesellen- und Mägdekammer standen bereits die Fensterrahmen sperrangelweit auf. Ein Geklapper von Holzschuhen und Sohlen war auf den Treppen, und in der großen Küche mit dem allmächtigen Rauchfang, von dessen Gesims blankgescheuerte Zinnteller und Schüsseln herabäugelten, knatterte die Kaffeemühle so überlustig und rege, als wäre drüben im nahen Gehölz eine Schützenlinie in emsiger Tätigkeit. Auf dem Herd züngelte ein munteres Holzfeuer. Leise begann es in dem kupfernen Kessel zu sieden. Ein Duft nach Kaffee und frischgebackenen Wecken durchwölkte alle Räume.

Fünf Uhr!

Im tiefen Osten nahm der Himmel eine rosige Färbung an. Die Nebel zerteilten sich. Das Bläßhühnchen tackte im überständigen Ried. Der rosige Schleier wurde zu einem purpurnen Vorhang, aus dem Strahlenbündel und Feuergarben aufloderten. Langsam und dunstig zog das Tagesgestirn hinter ihnen her. Menschen und Vieh, Bäume und Gräser schauerten dem jungen Morgen entgegen.

Alles rang nach Betätigung. Nur zwischen den Dämmen und Schleusenwerken herrschte noch Ruhe. Kein Rauschen und Brausen! höchstens daß sich durch die schweren Balkenroste und Schaufelräder glucksende Quellchen zu drängen versuchten. Es war wie ein mühseliges Schlappen und Lecken.

Drei Tage hintereinander hatten die Wasser gefeiert. Sie stauten sich an und sahen gierig über die hölzernen Brustwehren. Ein Ziehen, ein Auf- und Niederschwadern fältete die breite Fläche, die den Augenblick nicht abwarten konnte, mobil zu werden und sich wie ein Tobet auf Gangwerk und Schaufeln zu stürzen. Die Zeit mußte bald kommen, denn mit dem heutigen Morgen waren die Trauerflore von den Mühlen genommen.

Dreiviertel Stunde später stülpte Kosman Kraneboom seine Kaffeetasse über den Untersatz, rückte seine silbernen Ohrringe zurecht, erhob sich und zog sich seine Schirmmütze über. Langsamen Schrittes verließ er die Küche, trat ins Freie hinaus und begab sich zur großen Einfahrt, wo sich bereits der Speichermeister, die Müllergesellen und die Lehrburschen versammelt hatten. Es war eine stattliche Anzahl von Menschen, die seiner harrte, meist bodenständige Leute, dem Hause Malthus zugetan und von dem Grundsatz überzeugt: der Eigennutz unseres Herrn und Meisters ist unsere eigene Wohlfahrt. Für Kosman Kraneboom gingen sie durch dick und dünn, durch Wetter und Sonnenlicht, und selbst vom Verstorbenen war das hohe Verdienst dieses seltsamen Mannes in jeder Weise anerkannt worden. Sein Wort galt und wertete wie pfündiges Silber.

Ein zustimmendes Gemurmel empfing ihn.

»Tag, Leute!« sagte er ernst und griff an seine Kopfbedeckung.

»Tag, Kosman!«

»Leute!« begann er, nachdem er vorher seine Mütze abgesetzt und unter die Achsel geschoben hatte, »daß ich heute früh, wo wir eigentlich keinen richtig gehenden Herrn mehr haben, mit 'ner gewissen Bangigkeit, aber auch mit 'ner rechten Forsche und 'nem bestimmten Programm vor euch erscheine, hat folgende Bewandtnis.«

»Sehr gut,« bestätigte Klaas Schulten, ein kleiner Mann mit einem sanften Glanz in den Augen. »Was du redest, hat immer so 'nen aparten Schwung und Turnus besessen. Fange man gleich mit's Programm an! Wir hören.«

Kosman fuhr fort.

»Malthus ist tot, und die Madam, was seine eingeborene Tochter bedeutet, ist übrig geblieben. Das muß festgestellt werden, denn von heut' an gezählt, haben wir mit Frau Simonis zu rechnen.«

Alle nickten ihm zu.

»Vorneweg sei gesagt: Malthus ist zu seinen Vätern versammelt, hat uns aber zeit seines Lebens in 'ne opulente Behandlung genommen, und solches wird auch seine Tochter besorgen.«

»Bravo!« meinte ein rothaariger Herr, der schon fünfundzwanzig Jahre hindurch den ersten Mahlgang bediente.

»Trotz destoweniger,« nahm Kosman wieder den Faden auf, »befinden wir uns in einer herrenlosen Verfassung, denn was sie ist, was die Madam ist, sie hat mir ihren Willen noch nicht kundgetan und zu wissen gegeben. Man hat keine Ahnung, was kommt. Entweder so oder so, aber Bestimmtes kann man nicht sagen. Ob sie wieder ins Geldrische macht, um dort ihre Felder und Ziegeleien in eigene Bestellung zu nehmen, oder ob sie sich anderweitig besinnt und mir sagt: Kosman, nu will ich hier auf die Mühlen selber regieren – darüber muß erst 'ne Entscheidung noch kommen. Der Wasserriese ist tot. Das hindert nicht: der Wasserriese muß aufgeweckt werden. Bis dahin aber« – und mit einem energischen Ruck zog er sich die Schirmmütze über den Schädel – »hat man zu sorgen, daß das Rüstzeug in Gang bleibt, und ich frage daher: Wer soll während dieser Zeit hier kommandieren? Ich oder ein andrer? Ich bitte um Antwort.«

»Du selber, du bist unser Mann,« sagte der Alte mit dem sanften Glanz in den Augen.

»Bist du, bist du!« pflichteten alle ihm bei. »Und deshalb bin ich dafor,« ergänzte der rothaarige Herr, der schon fünfundzwanzig Jahre hindurch den ersten Mahlgang bediente, »daß du den Zepter ergreifst, um die Mühlen über Wasser zu halten, denn ich gehöre nicht zu die neumodischen Kerle, die in 'ner Biesterei sich wohl und mollig befinden wie 'ne Laus im Schorf, sondern zu die, die gern Ordnung besitzen und 'nen ordentlichen Zepter zu estimieren verstehen. Also tu's man, denn wir schwören zu dir mit Leib und Leben und folgen dir alle.«

Ein beifälliges Gemurmel bestätigte die ehrlichen Worte bis ins kleinste hinein.

»Na denn,« sagte der Alte, und seine hellen Augen gingen von einem zum anderen, »so was tut wohl, und ich bedanke mich daher vielmals für getätigten Zuspruch. Leute!« – und ein sehniger Ruck streckte ihn hoch – »ihr kennt mich ja alle. Ich heiße Kosman Kraneboom, bin ledigen Standes und auf dem Emmericher Eiland zu Hause, werde aber meistens als preußischer Kosman verschlissen. Das soll 'ne Art von Blamation für meinen ehrlichen Namen bedeuten, denn die meisten wissen so recht nicht, was sie mit ihren dämlichen Gedanken anfangen sollen. Aber ich sagte schon dem von Op gen Oort, den sie ja auch den Kalviner benennen – Herr Harkort, hab' ich gesagt, ich bin stolz auf den Namen, denn in ihm liegt Kraft und Reellität und das preußische Bewußtsein: erst das Ganze, dann die eigene Person, ein Erbteil von dem Grenadierkönig, der nur Ducksteiner Bier trank und weiße Rüben verzehrte, dafür aber sorgte, daß der Staat florierte und die Leute ihr Deputat und ihr Essen bekamen.«

»Bravo!«

»Und so ergreife ich denn im Namen des verstorbenen Malthus und seiner eingeborenen Tochter den mir angebotenen Zepter, um nach bestem Wissen und Gewissen, nach bestem Wollen und Können das Wohl der Herrschaft zu betreiben und euer Interesse nicht dabei zu kurz kommen zu lassen – und will diesen besagten Gewaltstab mang die Mehlgassen und Schleusenwerke führen, bis die Madam mir sagt: Kosman, ich danke dir vielmals, aber nu komm' ich an die Reihe.«

»Bravo!«

»Und daß es so gehalten sein soll,« kam Kosman allmählich an den Schluß seiner Ansprache, »und wir alles daran setzen wollen, die Reputation der Wassermühlen hoch und in Ehren zu halten, ohne Ansehen der Person, aus purem Gefühl heraus und ohne Nebengedanken, das sollt ihr mir als brave und ehrliche Kerls hier in die Hand 'nein schwören, auf daß wir bestehen können vor Gott und unserm Gewissen.«

»Hier meine Hand!«

»Und hier die meinige!«

»Und hier und hier und hier . . .

Alle Hände streckten sich ihm freudig entgegen und schlugen ein, daß es knallte.

»Abgemacht, Leute! So was hört einer gern! und nu frage ich dich, Klaas Schulten, was steht noch zu mahlen?«

»Per primus! Hundertundzehn Malter Korn vom Fingerhutshöfer.«

»Und weiter.«

»Fünfundzwanzig vom Baron Steengracht in Moyland.«

»Und weiter.«

»Zwei Fuhren Gerste aus der Wisselwarder Gemarkung.«

»Und dann noch,« fiel der rothaarige Herr ein, »zweimal dreiunddreißig Scheffel Buchweizenkorn von die Nönnchen der ewigen Anbetung. Das wäre wohl alles.«

»Denn los dafür!« gebot Kosman. »Musik, aber mit allen Kulören! – Schleusen hoch! – und alle Gänge in Betrieb! Die Welt soll doch sehen, daß wir arbeiten können. Respekt vor die Wassermühlen! – und was die Hauptsache ist: der verstorbene Bas wird sich freuen . . .« und keine fünf Minuten vergingen, da stand Kosman Kraneboom auf dem obersten Wehr und sah in die Tiefe.

Sechs Uhr!

Langsam und schwerfällig kamen die einzelnen Schläge von der Sankt Nikolaikirche herunter, und als sie verzitterten, da polterte und rumpelte es zwischen den Balkenrosten und Sielen. Mit dumpfem Gebrüll nahmen die angestauten Wasser ihren herrischen Weg, schäumten und gurgelten und warfen sich wie lechzende Tiere in das Gangwerk der Mühle. Weiße Tatzen griffen in die gekuppelten Achsen. Die Abgründe donnerten. In majestätischer Ruhe begannen sich die gigantischen Räder zu drehen. Schaumspritzer und flockige Fetzen wurden in die Höhe gerissen. Mit blechernem Ton riefen die Läutewerke herüber. Die Mahlsteine knirschten. Zwischen den Müllergazen stiebte und stäubte es. Die Kammern ächzten und seufzten, und durch das Klopfen und Hämmern, das Tosen und Dröhnen lief die Stimme Kosmans: »Musik, Musik! Malthus ist tot – aber die Tochter lebt – und hier diese Fäuste . . .«

Die Worte zergingen in der lärmenden Arbeit.

Ein kräftiger Geruch nach Mehl und frischem Brot hüllte ihn ein.

Die Stunden nahmen ihren vorgeschriebenen Weg. Es wurde Mittag und Vesperzeit. Kosman Kraneboom war überall tätig und sah nach dem Rechten. Als er sich dann eine Viertelstunde gegen einen Torpfosten lehnte und sein späteres Geschick überdachte, legte sich ihm eine weiße und schlanke Hand auf die Schulter.

»Kosman, so in Gedanken?«

Er wandte sich.

Franziska Simonis stand vor ihm.

»Ja, Madam,« sagte er treuherzig, »so in Gedanken, aber in Gedanken, die sich mit's Geschäft und mit die Zukunft befassen, denn ich muß immerzu drüber nachsimulieren: was soll mit die Mühlen nu werden? Das Gröbste ist ja so ziemlich in die Wege geleitet, und wir arbeiten wieder. Meinetswegen kann's munter so weiter gehen, weil wir in 'ner guten Position uns befinden; aber es kommt doch immer drauf an, wie Sie darüber verfügen und was Sie aufstellen wollen. Indessen, man muß auch in Berücksichtigung nehmen: es hat sich vieles geändert, und es schafft sich so leicht nicht. Ein Herr muß wieder heran, es kann auch ein weiblicher sein, denn ein Herrenauge ist dem eines besten Gesellen tausendfach über, und da Ihr selber im Geldrischen sitzt und dort Euer tägliches Brot habt, sind verschiedene Standpünkter möglich. Man muß das bemessen und sich 'ne gewisse Perspektive vergönnen. Und ferner: was ist von der Zukunft unserer Leute zu halten? und schließlich: kann man meine eigene Person noch gebrauchen?«

Er zuckte die Achseln. Verloren und mit einem traurigen Zug um die Augen sah er nach dem schmalen Tagesschein hin, der durch die große Einfahrt hereindämmerte.

»Gebt mir Eure Hand!« versetzte sie ruhig, und als sie diese zwischen ihren schmalen Fingern hielt und leise drückte, meinte sie mit zuversichtlicher Stimme: »Unsere Hände haben etwas Gemeinsames, Kosman, und dieses bedeutet: auf solche Hände kann sich ein Mensch schon verlassen. Sie nehmen nichts Falsches an, und wenn es darauf ankommt: die eine weiß nicht, was die andere tut oder getan hat, und dennoch wissen sie schließlich ganz genau: es ist etwas Gutes gewesen. Drum keine Sorge, mein Lieber. Vorab sei gesagt, und zwar im Hinblick auf dieses Anwesen: Gefeiert wird nicht, denn wenn Körper und Seele hier brach liegen wollten, dann schlüge einem das Leid überm Kopf zusammen, würden einem die Tage zur Qual und die Nächte zu Feinden. Und was Euch betrifft, Kosman – darüber zu sprechen, ist der Abend ganz wie geschaffen.«

»Total meine Ansicht,« versetzte der Alte und tat einen langen und befreienden Atemzug, »und wenn dann alles in Schick und Richte gekommen und lieblich postiert ist, und wenn man dann weiß, wie man dran ist . . . entweder so oder so . . . Schon gut, schon gut! und wann darf ich vorsprechen, Madam?«

»Gegen acht. Bis dahin ist noch viel zu erwägen. Dieses und jenes. Außerdem: ich habe noch mit meinem Herrgott und mit meinem Vater zu verhandeln. Das läßt sich nicht aufschieben. Inzwischen bin ich schlüssig geworden. Ist das geschehen, dann kommt Ihr an die Reihe, und ich glaube, wir fahren gut miteinander.«

Als die jugendliche, schöne Frau so mit ihm redete, da wurde er um eine Handbreit größer, und sein Herz klopfte härter.

»Das sollte mich freuen!« sagte er mit leuchtenden Augen.

»Bis später denn,« versetzte sie lächelnd und ging dem nahen Gehölz zu, um sich hier zu sammeln und Ruhe zu holen.

* * *


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