Joseph von Lauff
Sinter Klaas
Joseph von Lauff

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17

»Welch reicher Segen!« sagte eine freundliche Stimme. »Hier die Champagnerreinette und dort der große Bohnapfel und weiter dahinten . . .«

Ein schlanker Mann in schwarzer Soutane schritt von Bäumchen zu Bäumchen und bewunderte die Früchte, die in seltener Fülle das gelbe Laub durchschimmerten.

Bei den Birnenspalieren blieb er wiederum stehen. Drei schöne Exemplare auf Reihe. Mit sorglichen Händen glitt er über die Grüne Sommer-Magdalene, über die Späte Hardepont und erfreute sich an den prächtigen Wangen der Roten Dechantsbergamotte.

Eine warme Spätsommersonne fiel in den kleinen Priestergarten, der sich an die Stadtmauer lehnte und mit seinem unteren Teil ein stilles Wasser begrenzte, über das hinaus der Blick in endlose Wiesen hineinging, die sich bis zu dem benachbarten Moyland erstreckten. Violette Astern blühten auf den schönabgezirkelten Rabatten, während krapprote Georginenstöcke so schnurgerade die schmalen Wege begleiteten, als hätte sie ein preußischer Korporal ausgerichtet und sie wie die Musketiere nebeneinander gegliedert. »Augen links!« Jeden Augenblick wartete man auf dieses Kommando. Allein es setzte nicht ein. Dafür aber begann die Mittagsglocke von Sankt Nikolai zu läuten, und ihre Klänge standen über dem Fleckchen Gartenerde wie singende Schwäne.

Da faltete Andreas Lobbers die Hände, und seine Lippen sprachen: »Laudate, pueri, Dominum; laudate nomen Domini! Sicut erat in principio et nunc et semper et in saeculorum. Amen

Mitdem rief irgendein weibliches Wesen aus der nahegelegenen Küche: »Herr Kaplan!«

»Was soll's, Therese?«

»Es ist jemand im Hausflur!«

»Ein Bekannter?«

»Herr Schnapp von der Waterkant!«

»In welcher Angelegenheit?«

»Er möchte Sie selber sprechen, Hochwürden!«

»Soll kommen!«

In den Augen des jungen Klerikers glänzte etwas Fideles auf, denn der Name des Angemeldeten wirkte auf seine Heiterkeit wie Spaniol auf die zarten Schleimhäute empfindlicher Nasen, und als der Biedermann erschien, sonntäglich gekleidet, und ein kräftiges »Deo gratias!« durch den stillen Gottesfrieden lärmte, trat Andreas auf ihn zu und fragte schmunzelnd: »In welcher Eigenschaft darf ich Sie begrüßen, mein Lieber? Als Bart- und Haarkünstler oder als früherer Lehrer? Ihr › Deo gratias‹ weist auf das letztere hin.«

»Wie es Ihnen bequem ist, Hochwürden. Beide Ämter habe ich in Ehren verwaltet, hoffe jedoch, im ›Glücklichen Diwan‹ weiter zu kommen. Er scheint mir wie die Sonne zu sein, die liebliche Lichter regnet. Der Lehrerstand warf mir ein Haar in die Bouillon. Ich hab's verwunden, Hochwürden.«

»Und der Zweck Ihres Besuches?«

»Ich möchte mich in den Stand der heiligen Ehe begeben, mit dem Ring am Finger mein Dasein weiter leben, denn meine jetzigen Unternehmungen und Arrangements rufen gebieterisch nach der waltenden Hand einer Hausfrau.«

»Ich hörte davon. Außerdem: Sie wollen Ihren Laden vergrößern?«

Der Streichriemen schüttelte bedauernd den Kopf und machte eine abweisende Handbewegung.

»Laden, Hochwürden? Vergrößern, nur vergrößern, Gestrenger?! Das sind keine Worte, Sie barmherziger Samaritan. Ich verwerfe sie mit dem Abscheu der Verhinderung. Was Sie mit ›Laden‹ bezeichnen, wächst sich zum Ereignis aus, und was Sie unter ›Vergrößern‹ verstehen, ist ein glänzender Umbau geworden. Ich will über die Kreisstadt hinaus, will mit dem alten Schlendrian aufräumen, will arabischen Zauber und dartun, wie Kunst und Hygiene sich geschwisterlich paaren.«

»Ein großes Ziel!«

»Kein Zweifel, Hochwürden . . . und 'ne Aufmachung sage ich Ihnen . . .!« und Schnurr umschrieb mit langsamem Zeigefinger ein längliches Viereck, das sein lebhafter Geist ihm vor die Seele stellte. »Und solche Spiegel, Hochwürden! Selbstverständlich Goldrahmen und geschliffene Gläser. Dazu Phiolen und Flaschen aus bestem Kristall, seltsam und absonderlich wie die Gebetmühlen der Tibetaner, und aus diesen Phiolen werde ich Ambra, Pomeranzenwasser und alle Düfte des Orients verstreuen. Kultur am Niederrhein! überhaupt ganz etwas Extraordinäres, von dem man sagen wird: Ecce nunc benedicite!«

»Das wird Geld kosten, mein Lieber.«

»Nur keine Sorge! Wir haben Aschrafis, und mein Schwiegervater ist bereits auf dem Wege, den hierzu nötigen Fundus sicher zu stellen, und darauf basierend, gedenke ich das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden: Schönheit und glücklicher Diwan, Hochzeit und die Freuden der Ehe. In vier Wochen vielleicht, und ich möchte Sie bitten, das erforderliche Aufgebot in die Wege zu leiten. Mit Freude und großer Lust. In sensu Evangelii, um es beim richtigen Namen zu nennen.«

»Ja, wenn ich zuständig wäre! Aber das bin ich nicht. Da müssen Sie sich schon an meinen höheren Amtsbruder wenden, und das ist der Dechant.«

»Hören und Gehorchen! aber Sie wissen, Beherrscher der Gläubigen, wollte sagen Hochwürden, ich stehe so recht nicht mit ihm . . . kleine Mißhelligkeiten . . . Tausend und eine Nacht . . . die weisheitsvollen Sprüche der Königin Scheherezade und ähnliche Dinge . . . und da möchte ich fragen, ob Sie nicht die Freundlichkeit hätten . . . Es wäre mir lieber . . .«

»Gut, ich werde die Vermittlung übernehmen und vorstellig werden. Somit würde dann das erste Aufgebot am nächsten Sonntag erfolgen . . . und in Ihrem Interesse, mein Lieber: Ihre orientalischen Fieberkurven und gewagten Sentenzen, die etwas nach derber Erotik schmecken, müssen Sie allmählich abflauen lassen. Nur so wird eine christliche Ehe gezeitigt, die allen Anfechtungen des Lebens zu begegnen imstande ist; nur so sind Sie fähig, die auferlegten Pflichten zu tragen und die Miseren hinzunehmen, die sich mit diesem Sakramente verbinden – nur so werden Sie glücklich.«

»Hoffen wir!« sagte Schnurr Schnapp mit einem getragenen Hochgefühl in der Brust, ganz beseligt von den gütigen Worten des jungen Seelsorgers. Aber den alten türkischen Adam zog er nicht aus. Der blieb ihm. Mit diesem Kaftan angetan, gedachte er sich dereinst auf die letzten Kissen zu strecken, wenn für ihn die Fabeln und Wunder der tausend Nächte und der einen Nacht wie ein Schemen zergingen.

»Ich danke Ihnen, Hochwürden, und auf unserer Hochzeit sollen Sie den Ehrenplatz haben, direkt neben Lena. Ich sage Ihnen« – und Daumen und Zeigefinger der rechten Hand stellten sich spitz gegeneinander – »eine Rose des Südens, wie Milch und Blut und mit zwei Granatäpfeln ausgestattet . . . O, o . . .

Er sprach es besonnen und leise, eine kaum bemerkbare Wehmut im Ton, aber so schön, als sähe er in einer lieblichen Vision die Minaretts und Palmen von Bagdad, als sähe er Lena am Brunnen, wie sie sich entschleierte in der abendlichen Kühle, über sich die goldene Sichel, und ein Gewand nach dem andern fallen ließ – eins nach dem andern . . .

Dann trat er mit nochmaligen Dankbezeigungen über den Kiesgang den Rückweg an und sang dabei verloren in die Georginenstöcke hinein: »Vivant omnes virgines . . .« wobei er an seine Gazelle dachte, duftend nach Benzoesalbe, an seinen gütigen Schwiegervater, der selbstwillig die Lasten des Tages auf sich genommen hatte und nach dem Aukamp gepilgert war, um ein halsstarriges Frauenzimmer gefügig zu machen und dem Geheimnis der zukünftigen Ehe die noch geschlossenen Augen zu öffnen. Aber er wollte sich ihm gegenüber auch erkenntlich erzeigen, das nahm er sich vor, er wollte . . . Ja, was wollte er denn? Kurzum, es sollte großartig werden, und zwar heute noch, heute so ums Schummern herum, wenn die Weezer Post fällig war und die ersten Laternen an den Straßenecken aufblinzelten . . . niedagewesen und mit allen Schikanen! und diesen Gedanken ausspinnend, zog er durch den herbstlichen Priestergarten.

Andreas Lobbers sah ihm nach.

Um seine Augenwinkel spielte der Schalk. In seinem Inneren kicherte ein fröhlicher Triller.

»Unverbesserlich!« meinte er lustig. »Er bleibt, was er ist: ein Gottestropf, oder besser gesagt: ein Dämel in Allah. Aber der Alte . . .! Er scheint das Wasser trüben zu wollen, um fette Schleien zu fangen. Achtung, Andreas!« und der vergnügte Menschenkenner und Diener des Herrn kehrte sich abermals seinen Spalieren zu und bewunderte eine gestreifte Dechantsbergamotte, die er mit ihren rosigen Bäckchen und ihrem stattlichen Bäuchlein für die schönste erkannte.

»Ein Prälat unter den Birnen!« erklärte er übermütig.

»Ein Präsent für Hans Harkort!« und mit zärtlichen Händen streichelte er das schmackhafte Gebilde aus seinem Zier- und Nutzgarten und sprach es an, als wenn er zu einem vernünftigen Menschenkind spräche. Dann wurde er unterbrochen.

»Herr Kaplan!« rief es von der Küche herüber.

»Nun, Therese . . .

»Die Saucischen sind fertig! Saucischen mit Wirsing.«

»Mein Leibgericht,« sagte Andreas. Dann rieb er die Hände und lächelte: »Der reinste Lucullus oder Trimalch! Es fehlt nur ein Petron, um mein einspänniges Symposion würdig zu besingen. Mit Rosen im Haare . . .«

Die Weise vor sich hinsummend, trennte er sich von seinen Obstbäumchen. –

Ungefähr um diese Stunde hatte Jan van den Birgel den Aukamp betreten, um eine halbe Stunde später wie ein Reisender in Buckskin, den man vor die Tür gewiesen, wieder über die Schwelle zu stolpern und landeinwärts zu treiben.

Als er die Begleitung des zottigen Neufundländers los war, wandte er sich um und streckte noch einmal seine blutleere Faust nach dem Gehöft aus.

Ein Fluch knatterte von seinen Lippen herunter.

»Gott's den Donner noch mal, dies Weib ist mir über!« und er sah eine Leere vor sich, die ihn für einen Bankrottierer erklärte. Seine schönsten Trümpfe versanken wie bleierne Enten. Was er jetzt anfangen sollte, wußte er nicht. Er befand sich zwischen zwei Feuern: Schnurr Schnapp und Franziska. Jener drängelte, und diese hatte den traurigen Mut, ihm das Gewerbe eines Erpressers in die Schuhe zu schieben. Kein Zweifel: die Karte hatte eine niederträchtige Volte geschlagen. Seine Schläfen fieberten. Er konnte keinen energischen Gedanken mehr fassen, sich nicht selber gebieten: »Das tust du, und jenes ist unumgänglich nötig geworden.« Er fühlte sich wehrlos und machtlos. Die Waffe, die er zwischen den unbarmherzigen Fingern hielt, sah ihm rostig und schartig entgegen. Wie sollte er sie nutzen und sachlich gebrauchen? Ebenso gut hätte man ihm zumuten können, ein kleines Erdbeben zu inszenieren, den Popocatepetl in Bewegung zu setzen oder 'ne Stute zum Wallach zu machen. Einfach scheußlich! – und wie ein armseliger Sterblicher, der mit seinem Eselgespann in einen Bunzlauer Kram geraten war, torkelte er unter den Chausseebäumen hin, die ihn höhnisch mit ihren gelben Blättern bewarfen; er aber hoffte, in der ›Ewigen Anbetung‹ wieder Mensch unter Menschen zu werden.

Allein Aloys Boßmann hatte inzwischen einen kleinen Abstecher nach Kevelaer gemacht, und so blieb ihm nichts übrig, als nach Weeze zu stakeln, um dort die abendliche Post zu erwarten. Gegen drei kam er an. Noch vier Stunden hatte er bis zum Abgang der schwerfälligen Kutsche totzuschlagen. Das besorgte er auch redlich in den verschiedenen Ausspannungen und Kneipen, an denen Weeze so reich war wie der benachbarte Gnadenort an Seufzern und Rosenkränzen. Im ›Spanferkel‹ genehmigte er sich ein Schellrippchen mit Sauerkraut und diverse Glas Bier, im ›Fröhlichen Landmann‹ spielte er eine Partie ›Schafskopf‹ und genoß die dazugehörigen Schnäpse, und als er im ›Blauen Schiffchen‹ fünf vollgemessene ›Dornkaats‹ getrunken hatte, mahnte der Schwager zum Aufbruch. Fünf Minuten später rollte der schwefelgelbe Wagen, Jan zwischen den abgeschlissenen Polstern, über die eintönige Heerstraße. Kurz vor Abschluß der Reise machten die Laternen ihre plierigen Augen auf, und unter den feierlichen Klängen »Allabends, bevor ich zur Ruhe geh',« die allerdings von Zeit zu Zeit mit einem Knödel in der Kehle aufwarteten oder mit einem unvermeidlichen Kickser behaftet waren, stuckerten die Räder über das holperige Straßenpflaster, um bald darauf vor dem Königlichen Postamt zweiter Klasse zu halten.

Ganz verweht erschien Jan auf dem Trittbrett. Aber wie erstaunte er! Fünf rosige Lampions strahlten ihm entgegen, fünf rosige Lampions aus Zuckerrüben, die Schnurr Schnapp von der Waterkant von andermanns Acker stibitzt, ausgehöhlt, mit Kerzenstummeln versehen, auf Haselstecken geschoben und sie fünf Mitgliedern des Männergesangvereins ›Frohsinn‹ in die Hände gedrückt hatte. Und diese stimmgewaltigen Brüder, diese Fackelträger und Gesinnungsgenossen . . .

»Eins, zwei, drei!« kommandierte der Inhaber des ›Glücklichen Diwans‹, und sangesfreudig klang es über den Marktplatz:

»Alles schweige! Jeder neige
Ernsten Tönen nun sein Ohr!
Hört, ich sing' das Lied der Lieder,
Hört es, meine deutschen Brüder!
Hall' es wieder, froher Chor!«

Jan wollte Einwendungen machen, die Lage der Dinge erklären, sich rechtfertigen . . . allein eine neue Strophe brauste schon wieder über ihn fort:

»Nimm den Becher, wackrer Zecher,
Vaterländ'schen Trankes voll!
Nimm den Schläger in die Linke,
Bohr' ihn durch den Hut und trinke
Auf des Vaterlandes Wohl!«

Der Gefeierte gestikulierte mit Armen und Beinen, er gedachte zu sprechen, die Ehrungen von sich zu weisen, sein trostloses Nichts zu beteuern, aber seine Zunge stand still, wie die Sonne auf Josuas Geheiß stille stand zu Gibeon, als er auszog, um die Amoriter mit der Schärfe des Schwertes zu schlagen. Sein gedunsener, konfuser und verschnapster Zustand machte ihn völlig vertapert. Was sollte er überhaupt mit dem Hut und dem Schläger beginnen? Dazu kamen noch die lärmenden Zurufe: »Beherrscher der Gläubigen! Hurra und Vivat! Jan van den Birgel soll leben!« und bevor er sich noch zurechtfinden konnte, hatte ihm sein zukünftiger Schwiegersohn einen festen Kuß auf die Wange geklebt und den Arm in den seinen geschoben.

»Mensch!« rief er ihm zu, »ich seh' es dir an: deine Mission ist gelungen. Ich staune im höchsten Erstaunen. Um Allah und bei deiner Bescheidenheit: du bist ein Vezier, ein Kalif, dem die Aschrafis von den Fingern springen wie die Mäuse vom Mehlsack. Der Himmel träuft von der Fülle des Segens. Nun komm' man! Auf nach Mekka, die Herren!« und widerwillig, Schnurr zur Linken und den Bocken-Wilm zur Rechten, unter Fackelbeleuchtung, hergestellt durch fünf glimmende Zuckerrüben, unter Hoch- und Vivatrufen, sah sich Jan über den Marktplatz gezogen. Dazu sangen die Jünger Arions:

»Hab' und Leben dir zu geben,
Sind wir allesamt bereit.
Sterben gern zu jeder Stunde,
Achten nicht der Todeswunde,
Wenn das Vaterland gebeut.«

Dreimal ging es im Triumphzug um die eingedunkelte Linde, fünfmal um das Standbild des Reitergenerals Friedrich Wilhelm von Seydlitz, am ›Dicken Tommes‹ vorüber und dann johlend nach Hause.

Hier angekommen, legte ihm Schnurr den Arm um den Nacken, beugte sein Entenschnabelgesicht tiefer und sagte: »Beherrscher der Gläubigen, Erzeuger der Jungfrau, würdig unter den schwarzäugigen Bräuten des Paradieses zu sitzen, ich bitte um fünf Taler Vorschuß.«

Jan sah ihn fassungslos an, versenkte die Hände in die Hosengehäuse und beutelte die leeren Taschen auswärts.

»Nichts!« lächelte er krampfhaft. »Das letzte Kastenmännchen ist im ›Blauen Schiffchen‹ geblieben. Reineweg nichts mehr!«

Schnurr wurde zur Salzsäule, und als die Starrheit sich löste, fragte er, von einer aufdringlichen Ahnung gefoltert: »Und die sonstigen Aussichten . . .

Jan zuckte die Schultern. Der Fuselnebel zerfloß, die Wirklichkeit verkörperte sich, und er fand nur die Worte: »Das verfluchtige Fraumensch!« dann blickte er stier vor sich hin, stumm wie ein Fisch und in frommer Ergebung.

»Du schweigst,« donnerte Schnurr, »und sitzt auf deinem sonst so eifrigen Maulwerk? Du meinst, das Grauen des Tages zu spüren, und hältst inne in der verstatteten Rede? O du Bettelvogt und entlarvter Pocher und Prahler!« und verzweifelt warf er seine langen Arme aufwärts, den Sternen, der ewigen Gottheit zu. »Meine Ahnung, meine furchtbare Ahnung! Das ›Sesam, öffne dich‹ ist purer Schwindel gewesen. Ich wähnte alle Dinge des Geschehens in bester Verfassung und sah mich bereits tagtäglich vor einem gemästeten Sandhuhn, gefüllt mit Pistaziennüssen und Kardamomen, sitzen – und nun dieser Wandel! Man sollte dich in diesem Falle auf das Blutleder stoßen, wie es Allah gebietet. Mein Diwan versinkt, mein Halbmond erbleicht, meine Phiolen und Flaschen lösen sich auf als Fata Morgana. Aber das ist keine Fata Morgana: trotz Aufgebot und dem übrigen Schwindel, ich ziehe mich zurück, ich bin nicht mehr willens, mich auf ehelichen Krücken fortzubewegen. Friede mit dir, aber deine undurchbohrte Perle – behalte sie, Jan; dieses köstliche Gefäß weiblicher Reize – vererbe es einem andern, Jan . . . ich mache nach Holland,« und mit großen Schritten suchte er ein möglichst erkleckliches Wegstück zwischen sich und den Alten zu legen.

Die erhellten Zuckerrüben verloren sich. Die Schritte der verdutzten Fackelträger verhallten allmählich.

Es war einsam um Jan van den Birgel geworden – ganz einsam.

Gesenkten Hauptes trat er in das Haus seiner Väter.

* * *

Die schmucken Kränze und Girlanden, die Kosman Kraneboom zum Empfang seiner Herrin an der Eingangstür des stattlichen Wohnhauses hatte anbringen lassen, knisterten bereits vertrocknet im laulichen Wind, und die schöne, fast kürbisrunde Dechantsbergamotte im kleinen Priestergarten ging ihrer Reife entgegen.

Die Tage, die jetzt kamen, waren wie Feiertage, und die Nächte wie Träume, die mit ihren Himmelslichtern wie mit lieblichen Perlenschnüren spielten. Die Georginen prunkten noch immer in ihrem heitersten Flor, und die Asternbeete schauten aus wie bunte Teppichmuster, rosa und violett und mit einem tiefen Indigo dazwischen. Das Mariengarn segelte in langen Fäden durch die Luft oder verhäkelte sich mit den Bäumen, die in der Niederung standen. Aber so resigniert der sterbende Sommer auch zu lächeln vermochte, so rot und golden die Wälder auf dem nahegelegenen Monreberg auch aufflammten, so kregel der Halbmond über der Eingangstür des Schnurr Schnäppchen Frisier- und Barbiersalons auch seine Strahlen versandte – eines Morgens sahen die vorübergehenden Leute und die, die sich vor dem Hochamt noch ›schön‹ machen wollten, die Blenden vorgelegt und die Schwelle verrammelt, und mit Staunen lasen sie auf einem mit Oblaten angeklebten Papierschildchen:

»Ich trank das Glas der Strenge bis zur Hefe;
Demütig warf ich mich vor ihre Füße.
Das Schicksal schwor, uns Liebende zu trennen.
Es hielt sein Wort: ich weiß es, weil ich büße!

So geschrieben in der zweihundertundelften Nacht, und ihr da, die ihr da wähnt, daß das ›Sesam, öffne dich‹ noch immer zu euren Diensten stände – ihr irrt euch. Mit dem heutigen Tage bleibt der Diwan verschlossen. Dringende Gründe zwingen mich, mein Lokal zu verlegen. Allah gebot es. Ich will mich verändern und mache nach Holland. Schnurr . . .« und als diese Hiobskunde in das dem Untergang geweihte Häuschen hineinkroch und sich dort einnistete, wandelte sich Lena, die noch immer harrte und hoffte, in das Weib des gottesfürchtigen Mannes Loth, während Jette in vorahnender Weise Pfötchen und Rüssel putzte und sich sacht auf die Sprünge machte, weil sie sich in ihrem Nagerverstand sagen mußte: »Bald gibt es auf dieser Stätte nichts mehr zu brocken und nichts mehr zu knabbern. Also warum denn?« und die Undankbare drehte sich der Behausung und der Stätte des Bocken-Wilm zu, wo das Geschäft immer noch blühte.

Jan sah sie wandern.

Da faßte ihn eine ohnmächtige Wut. Der Zorn des göttlichen Peliden kam über den Ärmsten. Mit der Faust stieß er sich gegen die Stirn, daß es knallte.

»Die Ratten verlassen das Schiff!« rief er schäumend und brach lautlos zusammen . . . und als Andreas Lobbers von dem Unheil hörte, das der Streichriemen und Antlitzverschönerer angestellt hatte, um sich wie Masrur, der Träger des Schwertes, seinen Verpflichtungen zu entziehen und sacht zu verflüchtigen, da suchte er sein kleines Gartenidyll auf und gab sich Betrachtungen hin, die sich mehr oder weniger mit der Unbeständigkeit und der Wandelbarkeit des irdischen Glückes befaßten. Und dennoch vergnügte er sich, denn er sah diesen seifenschaumschlagenden Don Quichotte von der Mancha vor sich, wie er leibte und lebte, und seine Seele ward heiter. »Nein, nein,« sagte er im Weitergehen, »diese Affenkomödie! Diese Farce in optima forma! Da muß einer schon die Brille aufsetzen, um einen solchen Schnorranten und verschnapsten Theaterkönig aus hartgewordenem Papierbrei zu finden. Aber mit welcher Glorie und Grazie verließ er die Bretter! Einfach zwerchfellerschütternd. Wenn es nicht so traurig wäre, man könnte vor eitel Wonne einen Purzelbaum schlagen. Applaudite! comoedia finita est,« und er ging hin und streichelte die ihm liebgewordene Bergamotte, diesen Prälaten unter den Birnen, mit gütigen Fingern – und da geschah es: die vollreife Frucht brach schmerzlos vom Holz, drehte sich um die eigene Achse und bettete sich sorglich zwischen die weißen Hände des jungen Geistlichen, rundlich, mit zartem Arom und über und über mit feinen Stippsern gepunktet.

»Für Hans Harkort,« sagte er nachdenklich. »Eine kleine Freude für ihn. Es ist gerne gegeben. Andreas Lobbers Donator.«

Etliche Stunden später war er auf dem Wege nach Op gen Oort. – – –

An demselben Tage hatten sie sich im Hochamt gesehen, nach langer Zeit wieder: er, Hans Harkort, und sie, Franziska Simonis, und als das Credo einsetzte und die Stimme des Priesters ertönte: »Credo in unum Deum. Deum de Deo, lumen de lumine. Deum verum de Deo vero!« trafen sich ihre Augen, aber nur im Nu, mit der Gedankenschnelle eines Blitzes, wenn er den Horizont aufhellt, um gleich darauf wieder in die Nacht des Schweigens und der Finsternis zu gleiten. Allein für Hans Harkort blieb diese Helle bestehen: sie züngelte auf wie ein Feuer in der Osternacht, das stetig zu wachsen schien und mit seinen lichten Garben die dunkle Kuppel berührte, und als das ›Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis‹ verhallte, der Priester den Segen erteilte und anhub zu sprechen: »Benedicat vos ominpotens Deus, Pater et Filius et Spiritus Sanctus!« als sie die Kirche verließ, in ihrem ebenmäßigen Gang und in der Ruhe einer Abgeklärten, da erinnerte er sich wieder der eindringlichen Worte seines Freundes: »Nur an diesem Weibe kannst du gesunden«, und diese Worte gingen ihm nach wie eiserne Gebote, wie Glockenrufe, und sie waren bei ihm, als er einsam durch die kahlen Felder nach Op gen Oort schritt und die Stunden sich langsam in den Nachmittag verloren. Da wußte er, was er zu tun hatte, denn ein fester Wille befahl ihm: »Heute hast du über dein Geschick zu würfeln, über Auferstehung und Niedergang, über Tod und Leben. Res ad triarios venit. Die Zeit ist gekommen«, und da riß er sich zusammen wie ein Großer und Starker, wie einer, der bereit ist, die Viktoria zu erzwingen oder auf verlorener Walstatt sich in die Fetzen seines Fahnentuches zu hüllen, um den ehrlichen Soldatentod zu sterben. Eins oder das andere. Ein drittes gab es nicht mehr, und so entschloß er sich denn und machte sich auf den Weg zu den Wassermühlen.

War für ihn die Zeit wirklich gekommen? Ja und nein, und wenn er alles überlegte: eigentlich nicht; denn seit dem Tode des Verhaßten waren kaum fünf Monde vergangen. Noch hatte sich dieser nicht in der Ewigkeit eingerichtet, noch sich nicht die Erde gesetzt, die ihn deckte, noch waren die Kränze nicht verwelkt und zermürbt, die auf seiner Grabstätte ruhten. Aber was galt ihm Simonis? Was sollte ihm dieser? Um seinetwillen war ihm das Leben verwüstet, war er bis an den Abgrund des Wahnsinns getaumelt. Um seinetwillen hatte man seiner Liebe die Sterbegebete gesprochen, hatte man ihn hineingestoßen in die Gemeinschaft der Verzweifelten, die untätig vor sich hinmurmeln und nicht mehr darauf sinnen, möglichst bald aus dem Bereich ihrer bösen Gedanken zu kommen . . . und im Angesicht dieser Ungeheuerlichkeiten sollte er sich noch Pflichten auferlegen? Pflichten gegen wen denn? Gegen Simonis? Der Welt gegenüber? Rein lachhaft! Er hatte keine anderen Pflichten mehr als gegen sich selbst, nur das verdammte Muß und die Schuldigkeit zu erfüllen, seinen geraubten Besitz, sein Höchstes und Liebstes aus der ekelhaften Umklammerung des Toten zu reißen . . . und dieses als starres Gesetz, als das Recht des Lebendigen mit sich führend, hatte er die Rote Schleuse erreicht, die an dieser Stelle den Paternosterdeich unterlief und mit ihrem gewaltigen Mauerwerk, ihren Sielen und Rosten einen Ausgleich des Wassers herbeiführte, wenn bei Überschwemmungsgefahr die Neuflut in die Niederung wollte, um alles hinwegzunehmen, was sich ihr entgegenstellte. Der Deich grenzte das Op gen Oortsche Gebiet von dem ab, was zu den Mühlen gehörte.

Hier an der Schleuse blieb er stehen.

Der Himmel hatte jene eigenartige Färbung angenommen, wie der Herbst sie dem Niederrhein bringt, wenn der Nachmittag sich danach sehnt, Abschied zu nehmen und sich von dem sanften Dämmerlicht des Abends umschmeicheln zu lassen. Die unbestimmten Geräusche des Tages ebbten langsam zurück. Ein kupferfarbiger Ton überspannte das weite Land, in dem die Bäume ihr Säuseln vergaßen und die Teiche so ruhig zwischen den Ufern lagen, als wären sie flüssige Lava gewesen. Nichts störte die große Einsamkeit; keines Menschen Ruf ließ sich hören, keines Vogels Stimme war über den Altwassern. Nur drüben neben der linken Deichflanke bewegte sich ein einzelner Schatten, der langsam heraufkam . . .

Unbewußt und des Weges kaum achtend, ging er diesem Schatten entgegen. Da sah er . . .

Nun war die Stunde gekommen. Er brauchte die Schritte nicht weiter zu lenken; das Geschick wollte: sie sollten sich finden, und sie fanden sich ohne ihr Zutun, ohne daß einer von dem anderen wußte, ohne daß ihnen eine innere Stimme geboten hätte: »Begebt euch zur Roten Schleuse; da wird Gott mit euch sprechen!«

Sie war barhaupt und leicht gekleidet; nur ein dunkles Spitzentuch hatte sie um sich geschlagen, das die Formen ihres geschmeidigen Körpers und die zierlichen Konturen der Schultergelenke nicht zu bergen vermochte. Straffgezogen, legte es sich um die runden Arme und das keusche Wunder ihrer ganzen Erscheinung.

Gefaßt sah sie seinem Kommen entgegen. Nichts verriet, was in ihrem Inneren vorging. Ihre Züge wiesen nicht die geringste Veränderung auf. Ebenso gut hätte sie mit diesen Zügen zum Tische des Herrn schreiten können, um mit der Gläubigkeit eines schuldlosen Kindes niederzuknieen und das Abendmahl zu empfangen. Der Spiegel ihrer Seele schäumte nicht über; kein Windhauch kräuselte ihn. Er lag so friedlich wie die Oberfläche eines verschwiegenen Wassers. Nicht einmal die zarte Schwinge eines Vogels machte ihn unfreundlich. Still und gelassen begegnete sie seinen hungrigen Blicken.

Jetzt stand er vor ihr und suchte sie an sich zu ziehen.

»Franziska . . .

Sie wehrte ihn ab.

»Nein du,« sagte sie schmerzlich, »das ist vorüber. Du weißt doch: wir wollten uns nicht mehr begegnen . . . ich bat dich darum . . . ich flehte dich an um meiner Ruhe und Seligkeit willen . . .«

»Und das sagst du auch jetzt noch?«

»Auch jetzt noch.«

»Franziska, Franziska . . .

Wie ein Trunkener war er ihr zu Füßen gefallen, hatte ihre Knie umspannt und das gequälte Antlitz in die Falten ihres Kleides geborgen.

»Erlöse mich, hilf mir! Willst du mich denn völlig verderben?!«

Mit einem rauhausgestoßenen Laut brach er ab. Die Welt brauste auf und tobte ihm zu wie die dröhnende Arbeit in einem Hammerwerk, und war doch alles so still in ihr wie in einer Totenkammer, wo selbst die Sterbekerzen nicht zu knistern wagen und die Schuhe der Seelfrau so geräuschlos über den Boden gehen, als scheuten sie sich, die Dielen zu berühren. Aber das Hammerwerk pochte und stampfte. Mit einem unterdrückten Schrei hob er den Kopf. Der ganze Mensch schüttelte sich vor wilder Erregung.

»Hans,« sagte sie weich, »sei doch nicht so gänzlich verzweifelt!«

Sie beugte sich zu ihm. Ihre weißen Hände legte sie ihm auf die Schultern und dann auf die Stirne. »Du weißt, was ich denke und daß ich dich namenlos liebe. Erinnere dich meines Briefes von damals. Es ist mir so, als hätte ich ihn erst heute geschrieben. Keine Silbe ist mir entfallen, auch nicht die geringste. Hans, ich flehe dich an: Vergib mir, mache mich nicht noch kränker, als ich bin. Denke daran: unsere wechselseitige Neigung muß absterben, muß sich in sich selber verzehren. Das gilt heute mehr noch als damals.«

»Auch jetzt noch,« sagte er schmerzlich bewegt, »wo der Tod die Schranken niederriß, die sich zwischen uns stellten? Auch jetzt noch, wo ich dir zujubeln wollte: Mors imperator? Auch jetzt noch, Franziska?«

»Erspare mir die Antwort darauf!« versetzte sie schluchzend. »Es wäre zwecklos und würde dich und mich nur noch tiefer in die Versuchung hineintreiben. Quäle mich nicht! Beende diese entsetzliche Stunde! Du hast kein Recht, mir das Siegel vom Munde zu nehmen, und es steht dir nicht zu, meine Seele durch das Grauen zu peitschen. Überlasse mich meinem eigenen Schicksal. Wende dich von mir! Wir wollen in Frieden scheiden, ohne Groll im Herzen, und nur der Erinnerung leben. Aber noch einmal du . . .« und ihre Stimme war wie die einer Verzückten, »was ich damals in Gedanken begehrte: noch einmal du . . . werfe ich mich in deine Arme hinein . . . drücke mich an dich . . . küsse dich mit einem langen, verzehrenden Kusse!« Und das Weib war in ihr lebendig geworden, das Weib, das nach dem Manne schrie wie der Sterbende nach den Heilssakramenten . . . »Hans, Hans, Hans!« und sie zog ihn empor, umschlang ihn, und ihre Nasenflügel weiteten sich über dem halbgeöffneten Munde, den sie ihm preisgab. »Küsse mich, küsse mich, Hans! und wenn ich vergehe!«

In wütiger Hast riß er sie an sich.

»O du, du, du! Geliebte! Himmlische!« und zwei Menschen standen in der großen Einsamkeit, in der endlosen Stille, die so heilig war, wie die in der Kirche, wenn der Priester die Hostie aufhebt und das große Wunder verkündet – zwei Menschen, deren Körper sich scheiden mußten wie Feuer und Wasser, Monde hindurch und lange Jahre hindurch, und die doch zueinander gehörten wie der junge Tag und das Licht auf den Bergen.

»Und du liebst mich noch immer?!«

»Fühlst du es nicht? Du mußt es fühlen!« und ihr Mund preßte sich auf den seinen wie eine Flamme des Herrn . . . und schmerzte ihn . . . und nahm ihm das Blut von den Lippen.

Dann ließ sie von ihm ab. Mit einer jähen Bewegung warf sie sich rücklings. Ihre Arme stemmten sich gegen ihn an. Ihr Antlitz war bleich wie Wachs geworden.

»Hans,« sagte sie mit geschlossenen Augen, »das ist mein letztes Vermächtnis. Es ist mein Höchstes und Bestes. Mehr kann ich nicht geben. Mit diesem Kuß kaufe ich mich los von dir . . . nehme ich Abschied . . . will ich in mein eigenes Leben zurück . . . sonst: die Vergangenheit hätte dir etwas zu sagen.«

Sie wandte sich zum Gehen.

»Du bleibst.«

Seine Stimme klirrte. Mit eiserner Faust umspannte er ihr Handgelenk.

»Also auf- und davongehen, das willst du?« sagte er heiser. »Glaubst du denn, ich wäre ein Gottestropf, ein Spielzeug, das man achtlos beiseite wirft, wenn man seiner überdrüssig geworden ist? Du bist wohl von Sinnen? Du –« und seine Blicke zuckten in die ihren hinüber – »für wen hältst du mich denn?! Bin ich dazu bestimmt, den Bajazzo mit dem durchstochenen Herzen zu spielen?! Du reißt mir die Schale vom Munde, die du mir botest, um mich verdursten zu lassen. Du gibst mir deinen Leib zu kosten, um mich wie ein lästiges Tier vom Leibe zu schütteln . . .«

»Hans, verstehe mich doch! Ich flehe dich an!«

»Nein, ich kann dir nicht folgen. Ich schlage die Pforte des Himmels ein, um mir den Eingang zu erzwingen. Ich reiße sie auf, und sollte ich darüber irrsinnig werden. Und wäre der Grund und Boden, auf dem du lebst und atmest, tausendmal sündig geworden, und hätte sich die Schuld eines andern an dich geworfen und dich übergeifert, um auch dich zu vergiften – drüben auf Op gen Oort ist heilige Erde. Mag hinter dir alles versinken – auf meinem Grund und Boden wirst du entsühnt. Dorthin gehörst du, du mein Weib, du mein Alles, mein Leben und Sterben!« und, seiner Sinne nicht Herr, hob er sie auf und preßte sie an sich.

»Was tust du? Was machst du aus mir?!«

Sie warf sich an seiner Brust herum und suchte aus seiner Umstrickung zu kommen; aber er hielt sie wie mit eisernen Klammern, die sie immer fester umschlossen.

»Hans, ich darf nicht und kann nicht! Ich entweihe die Erde, deinen Besitz, deine Scholle!«

»Du,« lachte er gellend auf, »du und entweihen . . .?! Sühnen tust du, segnen tust du! Unter deinen Füßen grünt der Acker, schwillt das Saatkorn, werden die Felder begnadet . . . und drüben auf Op gen Oort: da wird Verlöbnis gehalten, da werden die Ringe getauscht, da wartet die Kammer auf dich, da fällt die Nacht des Vergessens über uns her . . . eins werden wir dort . . . ein Leib, eine Seele . . .! denn um deinetwillen brach ich die Fesseln, zerpflügte ich den Verstand meines Vaters, warf ich die Soutane von mir und wurde zum Siegelbrüchigen . . . aber für all diese Qualen: an deinem Leib will ich gesunden, will ich die Freude genießen, will ich wissen, wie Weibesliebe tut und Weibesliebe beseligt!« und mit der Kraft eines Gewaltigen trug er sie aus dem sündigen Reich der Deichkrone zu, hinter sich die Wassermühlen, wo eine dunkle Schuld brütete, vor sich Op gen Oort mit seinen hellen Fenstern, die im Abendfeuer brannten und über sich Gottes Himmelreich, in das er hineinwollte.

»Und wenn ich mit dir in den Schatten des Todes hineinmüßte, ich will dich besitzen!«

Sie stemmte sich gegen ihn an.

»Lasse mich los – du, ich bin deiner nicht würdig!«

Es half nichts; willenlos wurde sie aufwärts getragen, immer höher und höher, immer freier und stolzer. Sein Atem keuchte, seine Brust stürmte, die Nähe des geliebten Weibes berauschte ihn. Ihr Duft ging über ihn fort. Er war wie ein Königssohn, der ausgezogen war, ein Königskind aus der Umklammerung eines Unholds zu retten.

Endlich . . .! – er hatte den Scheitel erreicht, und inmitten des Deiches, auf neutralem Gebiet, ließ er sie nieder, unmittelbar neben dem Gemäuer der Schleuse, die schroff in die Tiefe fiel, wo ein schwarzes Wasser gurgelte und Blasen trieb und geheimnisvoll rauschte . . . und er streckte die Hand aus: »Hier scheidet sich Gutes und Böses, hier fällt alles von dir ab, was deine Tage umdüsterte und deine Nächte schlaflos machte, und dort« – und er deutete auf das weiße Gehöft, das im Abendlicht glutete – »und dort ist unsere Kammer bestellt. Komm' mit mir!«

Er suchte seinen Arm um ihre Schulter zu legen.

Da stieß sie ihn von sich.

Ihre Blicke erstarrten, ihre Brust hob und senkte sich stürmisch. Ihr Antlitz war wie das einer Gerichteten. Schaudernd hatte sie ihr Spitzentuch um Brust und Schultern gezogen.

»Rühr' mich nicht an – du! Ich gehöre dir nicht! Du und ich, wir sind geschieden für immer. Verpestete berührt man nicht. Du hast mir das Siegel vom Munde gerissen. Gut denn, so wisse: ich bin das Kind eines Gezeichneten, eines Verbrechers, und mit einem solchen pflegt man keine Gemeinschaft mehr, nicht die der Seele und nicht die des Leibes.«

»Und wenn du es wärst . . .! Ich will . . .!« und er taumelte vorwärts.

»Keinen Schritt weiter!« schrie sie ihm zu. Ihre Gestalt reckte sich wie die einer Gorgo, und ihre Augen waren auf einen Gegenstand gerichtet, den sie nicht oder nur halbwegs zu sehen schien. Dann flammte es in ihnen auf wie ein drohendes Feuer.

»Und tust du es dennoch . . .« mit einer jähen Bewegung deutete sie auf den schroffen Abgrund, auf das dunkle Wasser, »wagst du es nur: dort findest du mich, und Tote begehrt man nicht mehr.«

Er stand wie angekettet, nicht fähig, ein Glied zu bewegen. Er wähnte, die Tatzen einer Pantherkatze zu fühlen.

Langsam hob sich ihr Haupt.

»Hans, lebe wohl!« sagte sie mit einer Stimme, die ihn völlig zermalmte. »So wollen wir scheiden. Ich gehe in das Haus der Sünde und ins Elend zurück. Du aber, Hans, tritt in das schuldlose, weiße da drüben! Vergiß und suche glücklich zu werden!«

Große Tränen hingen an ihren Wimpern. Ein herzzerreißendes Lächeln, das nicht absterben wollte, machte sie zur Märtyrerin, zur Blutzeugin ihres eigenen Schmerzes, der durch ein graues Meer von Enttäuschungen und Qualen schritt, durch ein Meer, das weder Anfang noch Ende hatte. Und dennoch fluchte sie nicht, verdammte sie nicht. Sie hatte noch Mitleid mit dem, der ihr diese Stunde vermocht und bereitet hatte. Sie gedachte ihres armen Vaters in Liebe.

Noch einen letzten Blick warf sie auf Hans. Sie wollte etwas sagen, ihm den Abschied leichter machen.

Er winkte ihr ab.

»Geh' nur, geh' nur!« sagte er kaum hörbar und stützte sich schwer auf das Gemäuer der Schleusenwehr. Jetzt hatte er sie völlig verloren. Nur einmal noch glaubte er, das feine Knistern ihres Kleides zu hören und den Duft ihres Haares zu spüren.

Er täuschte sich.

Mit Gewalt riß er die Lider auf.

Sie war nicht mehr da. Nur ihr Schatten bewegte sich durch die abendlichen Wiesen, die still und versonnen einschlafen wollten.

»Franziska . . .

Mit leeren Blicken sah er ihr nach, und er wähnte, sie noch zu sehen, als sie schon längst hinter den schwarzen Erlen verschwunden war, die in der Niederung standen.

So traf ihn Andreas.

Er befand sich auf dem Wege nach Op gen Oort, um ihm eine Freude zu machen, eine Freude, die in seinem kleinen Priestergarten gereift war.

»Hans . . .!« sagte er fassungslos.

»Da geht sie, und sie kommt nicht mehr wieder,« versetzte der Ärmste. »Das Spiel ist aus; die Szene, auf der keine Kränze liegen, dunkelt ein. Ich bin ein schlechter Mime gewesen.«

Und er lächelte noch und konnte noch lächeln; aber das Fieber war in ihm.

* * *


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