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20

Um die Mittagsstunde kam ein Schreiben von Petrikettenfeier ten Hompel. Darin machte er folgenden Vorschlag und sagte:

»Mein lieber Herr Douwermann! Uns liegt die Chronik am Herzen. Mir, dem Fernerstehenden, ebenso wie allen, die zu Ihrer Familie gehören. Der gestrige Abend war einer von denen, die nicht oft wiederkommen im Leben. Solche Abende sind wie Engel des Herrn. Ich kann mir nicht helfen, aber die gestern bei Ihnen verlebten Stunden sind mir unvergeßlich geworden. Noch unvergeßlicher und weihevoller werden sie sein, wenn sie unmittelbar zu uns sprechen. Der Geist des Verewigten redet am eindringlichsten aus seinem edelsten Werk, das seiner Auferstehung und Wiedergeburt harret. Und daher: wollen wir die Vorlesung nicht an die Stätte verlegen, wo dieser Geist atmet und umgeht? Wenn ja, dann bitte ich darum, sich ums Dunkelwerden dort einzufinden. Herrn Vogels werde ich verständigen; auch sonst das Nötige veranlassen. Für einen kühlen Trunk wird gesorgt. Sie verstehen mich schon: Beatus ille, qui procul negotiis ... und damit Gott befohlen und auf ein frohes Begegnen! Ich bitte um Antwort.

Herzlichst
Ihr Petrikettenfeier ten Hompel.«

Was war dem Alten erwünschter! Er sagte zu, auch im Namen Johannas, und konnte kaum die Stunde erwarten, wo er wieder den Spuren eines vielverschlungenen und eigenartigen Lebens folgen durfte.

Unmittelbar nach der Christenlehre und Mittagsandacht ließ Herr Bollig, unter Beistand zweier Meßjungen, die Halle neben der Sakristei für die Vorlesung herrichten. Bald darauf war er damit fertig geworden. Ein munteres Feuer plauderte im Kamin, Tisch und Sessel standen bereit; der ganze Raum war erfüllt von einer freundlichen Helle. Überall das Walten der Künstlerin; nur der nackte Bildstock hatte wieder seine Hülle gefunden.

Kurz vor fünf erschienen die Beteiligten. Zuerst Hochwürden. Dann Arnt Douwermann mit seiner Tochter. Sie war barhaupt und hatte nur ein weiches Tuch um die Schultern geschlagen. Stumm und erschöpft bewegte sie sich, aber doch in der ganzen Schönheit ihrer kirchenstillen und einsamen Ruhe.

Dirk Vogels trat auf sie zu und legte seinen Arm in den ihren.

Sie schreckte zusammen.

»Was hast du? Warum diese Erregung, Johanna?«

Sie gab ihm die Hand.

»Dirk, es geht schon vorüber,« lächelte sie, und doch sah sie aus, als wenn sie sagen wollte: »Frage nicht weiter. Ich kann doch keine Antwort darauf geben. Glaube mir: ich bringe mein Herz nicht bis zum andern Morgen.«

Der Alte geleitete sie bis zum nächsten Sessel.

Willenlos ließ sie sich nieder. Mit glanzlosen Augen stierte sie vor sich. Sie wußte nicht, warum sie hier war, was sie hier sollte. Sie hatte nur den einzigen Wunsch: nichts fühlen, nichts sehen, nichts denken. Wäre doch schon alles vorüber, wäre erst der nächste Morgen gekommen! Wenn die Menschen doch wüßten, was sie erduldete, was in ihrem Innern nagte und bohrte. Hätte sie es nur hinausschreien dürfen, es jedem mitteilen können – sie hätte wenigstens mit offenem Visier gekämpft und gerungen, wäre ehrlich geblieben ... so aber ...

Ein feines Klingeln war um sie.

Herr Bollig stellte die Gläser zurecht und schenkte Valwiger Herrenberg in die geschliffenen Kelche. Hierauf machte er Miene, sich still zu empfehlen, räusperte sich jedoch etliche Male und wandte sich an den Alten, der bereits die Chronik aufgeschlagen hatte und vorlesen wollte.

»Nun, Herr Bollig, womit kann ich dienen?«

»Ja so?« meinte dieser. »Um Vergebung, Herr Douwermann. Ich möchten nich im geringste scheniere, aber ich hörten davon, dat sich hier wichtige Bitrachtunge über die christliche Kuns abspiele solle. Un wenn ich mich auch so'n bißche verdutz fühlen, dat ich hierzu nich invitiert worde bin, so sag' ich m'r wieder, et is man bloß ein Vergesse gewese. Ehrwürdigen Herr Douwermann, bischeidenen Herr Douwermann! Biurteile Sie mich, bitte, von 'nem richtige Standpunk. Ich bin zu Kölle gebürtig, un alle, die zu Kölle gebürtig sind, habe 'ne verständige un feine Kurakter, denn sie bimühe sich immer, sich auf 'nem gewisse Poäng der menschliche Bildung vorwärts zu däue. Man will in seine saure Schweiß doch auch mal wat anderes habe, als nur immer sein alldägliches Brot zu mangiere. Bisonders dann, wenn so 'ne prachvolle Luff weht un et sich um 'ne Mann wie Heinrich Douwermann handelt. Da muß einer doch mitspreche könne, un drum möchten ich bitte ...«

»Aber natürlich, Herr Bollig! Sie werden einen tiefen Blick in ein bedeutsames Künstlerleben tun, aber auch viel von Ringen und Leid und Seelennot hören. Der Weg eines Künstlers hat seine Dornen.«

»Dat is gerade meine feinste Bikömmnis,« sagte Herr Bollig. »Wenn Sie also gütigs erlaube ...«

»Sie sind uns herzlich willkommen,« versetzte der Alte und zeigte auf einen leeren Stuhl, den Herr Bollig in weiser Voraussicht schon für sich zurechtgestellt hatte. Hierauf rückte er die Kerzen näher heran, fuhr sich etliche Male durch seinen fließenden Bart und begann mit tiefer Andacht zu lesen:

»›Meine Artschiere!‹ – Der Ruf der hohen Frau gellt mir noch heute zu Ohren, und es war wohlgetan, dem Rat Meister Arnolds zu folgen und landauswärts zu flüchten; denn andern Tages pochten die städtischen Knechte auf höheres Geheiß an die Tür meiner Mutter, um mich auszuheben und dingfest zu machen. Allein der Vogel war bereits auf und davon und über die städtische Mauer geflogen. Bei Tagesanbruch setzte ich bei Grieth über den Rhein, passierte Emmerich und Arnheim und konnte nach manchen Fährnissen Utrecht gewinnen, eine altehrwürdige Stadt, von den Römern Trajectum ad Rhenum genannt, und nicht unweit der Grenze gegen die Geest zu gelegen. Obgleich mir Land und Leute nicht sonderlich zusagten, die Menschen vielmehr hier steifleinene Gesichter haben und fischmäulig sind, auch sich immer bereit finden lassen, stinkende Bücklinge und versalzene Polche in das Heilige Römische Reich Teutscher Nation zu werfen, so gedachte ich doch in den Niederlanden zu bleiben und meiner Kunst zu leben, bis sich der Unmut der grande Puttana verloren oder sie selber eines seligen Todes verschieden. Solches kam mir schwer an, blieb mir jedoch keine andere Wahl, wollte ich nicht blindlings mein Verderben herbeipfeifen. So weilte ich denn unter den sauertöpfischen Menschen und harrte auf Meister Arnold und seine liebenswürdige Tochter.

Am Dreikönigstage, wo sie in hiesiger Gegend das Bohnenfest begehen, an welchem der Hosenteufel los ist und die Weiber jede Scham und Ordnung verlieren, vielmehr darauf ausgehen, die Röcke zu schwenken und die Mannsleute toll und kirre zu machen, kamen sie an und schätzten sich glücklich, mit mir einen gemeinsamen Tisch zu führen und unter denselben Sparren zu wohnen.

Nun folgte eine Zeit stillen Genießens und vielfältigen Schaffens. Der bestellte Schrein gedieh in gemeinsamer Arbeit, und als Meister Arnold nach Jahresfrist sah, wie meine Kunst immer höher emporstieg und es dem Falkhahn gleichtat, der den stolzen Turmhelm des Domes umkreiste, drehte er mir verlegen ein Knöpflein vom Wams und sagte: ›Es ist nicht wohlgetan, Feuer und Stroh allzulange nebeneinander nisten zu lassen. Wir wollen die Hochzeit begehen.‹ Und da lag mir ein Weib am Herzen, von dem ich sagen mochte: ›Ich bin kaum wert, mich dort niederzulassen, wo ihr Füßlein gerastet.‹

Etliche Tage nachher wurden wir in einem Kirchlein, so in der Nähe des Ständehauses gelegen, unter solenner Feier vereinigt und zusammengegeben, folgte auch eine schmausliche Hochzeiterei, der unter andern Herr Eustachius Federlin beiwohnte, ein Männlein, kaum so groß wie fünf gestapelte Holländer Käse, spinnwebhaarig und mit einer beweglichen Nase, die er gar sonderbar wie ein kalkuttischer Hahn aus- und einstülpen konnte, was groß Staunen erregte, war aber ein Gottbegnadeter, der es meisterlich verstand, Petschafte so kurios und sauber aus Erz und Steinen zu schneiden, daß man wähnen sollte, er habe sie aus dem Himmel gezaubert. Selbiger übernahm auch Patenstelle bei unserm zuerst geborenen Söhnlein, so wir Rüdiger hießen, und das fröhlich heranwuchs. Zwei Jahre später kam ein Mägdlein zur Welt, und wir nannten es Plektrud. Das schrie hell wie ein Pfau und war munteren Geistes, so daß ich nicht wußte, wie ich dem Herrn danken sollte für diese Fülle des Glücks, zumal auch der Schrein fertig geworden war und die Dominikaner nicht Worte genug finden konnten, den Ruhm unserer Namen in alle Winde zu streuen.

Da geschah es ... Meister Arnold kam eines Tages so verdrückt nach Hause, daß ihm sein Mäntelchen schlotterte und ich mir heimlich dachte: ›Das ist der Tod.‹ Er selber konnte solches weder schmecken noch wahrnehmen, wurde jedoch, wie es einem Christenmenschen gebühret, mit den Sakramenten versehen, und ist hierauf am Sankt Gordianstag, das ist der zehnte im Maien, gottselig entschlafen. Wunschlos ging er dahin. In seinem Testament verlangte er nur, daß von den Klerikern und Laien der Lobgesang Sanctorum Ambrosii und Augustini zur Orgel gesungen werde. Solches geschah in aller Form und zwar unter Kerzenbeleuchtung, Weihrauch und Myrrhen. Sechs Dominikaner trugen ihn hierauf zu Grabe.

Wir blieben in Utrecht und sorgten uns nicht um die weitere Zukunft; denn mein Ansehen machte die Runde wie der Tambour einer Scharwache. Auch flogen mir die Aufträge mehr als reichlich zu, daß ich glaubte, es seien Kriekenten oder Schnepfenvögel, die hier zu Land jeden Teich und Weiher ähnlich bevölkern wie die Luder- und Saatkrähen die heimischen Äcker. Unter andern verschrieb sich das Kapitel in Xanten einen Marienaltar, den ich mit Fleiß zu entwerfen begann und im Laufe mehrerer Jahre auch so meisterlich fügte, daß ich kaum Hände genug hatte, meine Lobpreisungen einzuheimsen und in die Scheuer zu tragen.

Item, kam auch ein liebes Schreiben vom Herrn Gratius an, worin er sagte, es sei alles vergessen; die Frau Herzogin habe Sehnsucht nach mir und gestatte eine baldige Heimfahrt. Traute aber dem Ansinnen nicht, blieb vielmehr, wo ich war, und ließ die hohe Frau weiter hungern und dürsten. Um diese Zeit fiel es mir ein, das Schermesser beiseite zu legen und mir den Bart wachsen zu lassen. Solcher gedieh zu einer prächtigen Zierde, war glänzend wie Siegelwachs und die Freude meiner trefflichen Hausfrau. Gefiel ihr auch so über die Maßen, daß sie in traulichen Stunden mit zärtlichen Fingern hindurchglitt, ihn streichelte, einen Knoten hineinschlug und sagte: ›Heinrich, so festgefügt wie dieser soll unsere Treue bestehen,‹ und da dachte ich glücklich: ›Ach, so ein Weib, so ein liebes! So eine Unschuld! – Sie bleibt keusch und rein, selbst dann noch, wenn sie ihr Fürtüchlein ablegt und sich rüstet, ihrer Pflicht zu genügen. Wie anders die hohe Frau zu Kleve in ihrem fürstlichen Mantel!‹ und ich freute mich dessen und war wie einer, dem sich die harten Kiesel in Edelsteine verwandeln.

Im Jahre des Herrn 1505 und gegen den Herbst zu, als mein neuestes Werk im Dom des heiligen Viktor aufgestellt wurde, begann das große Sterben im Herzogtum Kleve. Wie soll ich es nennen? Es war kein gewöhnliches Sterben; denn es zog eine daher, die aus dem Morgenland kam, fahl, grau und entsetzlich, und hatte einen giftigen Hauch vor dem Munde. Alle Dünste, die sie in den Ländern, Wüsten und Städten, so India, Arabia, Mekka und Konstantinopolis heißen, aufgesaugt hatte, brachte sie in meine engere Heimat und spie sie aus wie ein Untier. Es war die Pest, und sie pochte an Türen und Tore, sah in die Fenster hinein und erwürgte die Menschen. Ihre erste Aufwartung machte sie der Herrin in Kleve. Als sie eintrat, erbleichte Frau Mechtild und gebot einer Magd, ihr ein Paternoster zu reichen. Hat aber nichts mehr gefruchtet. Mit einem ›Hilf Gott!‹ stürzte sie nieder, als hätte eine blanke Sense einen Armvoll Ähren von der Koppel geschlagen. Sine crux et sine lux, wie ein ungelahrter Pfaffe sagte, ging sie erbärmlich mit Tod ab, von keinem bemitleidet, von keinem betrauert, obgleich sie Hermelin und Stirnreif getragen.

Ihr Gemahl, Johann der Zweite, und seine wohlmeinenden Räte hatten nunmehr ein Einsehen, sprachen mich des Bannes ledig und erlaubten mir, bei freiem Geleit wieder die Wohltat des eigenen Rauches im Herzogtum Kleve, zumal auch die Kalkarer und Xantener Stiftsherren, Provisoren und Kerzenmeister sich meiner annahmen und vorstellig wurden.

Am Palmsonntag des folgenden Jahres traten wir unsere Reise an, voll Dankes gegen den Herrn, der alles weislich gefüget, obgleich wir noch Leid trugen um meine liebe Mutter, so der Seuche erlegen war und nun hinpilgern durfte zu meinem in Gott ruhenden Vater, der, wie ich anfangs vermeldet, als klevischer Rat, Friedensrichter und Custos rotulorum ein segensreiches Wirken und Auskommen gehabt hatte.

Mit fliegenden Fahnen, Trommeln und Pfeifen zogen uns Kleriker und Laien, die Herren Pfleger des Armenstiftes, die Bruderschaften und die Mitglieder der Sankt Lukasgilde bis Moyland entgegen, holten uns ein und geleiteten uns mit herzlichem Zuspruch und Willkomm in unsere mit Tannenreisern, Wimpeln und Buchsbaum geschmückte Behausung, die mir der städtische Rat hochgemuten Sinnes und aus freien Stücken heraus für meine volle Lebenszeit bestellt und zugesagt hatte. War auch am selben Tage noch ein groß Bankettieren zu Rathaus, wobei aufgetischt wurde: das Fleisch von zwei Ochsen, an fünfzig Kapaune, Hechte und Karpfen in Hülle und Fülle, ferner Galreyen und Sülzen, dann eine stattliche Anzahl Schnepfen und Wildenten, die ein herzoglicher Förster und Hegemeister zugebracht hatte; wurden auch mehrere Änkerchen vortrefflichen Weines getrunken; denn die Gesellschaft war zahlreich und stellte sich auf dreihundert Männer und Frauen, die mir zujubelten und mich und meine Familie priesen. Hat auch die Schmauserei, wie mir nachher der städtische Säckelmeister erzählte, die Summe von hundertundacht Soldgulden und zweiundzwanzig Rader Alben gekostet ... und als dann gegen Abend die Teerfeuer brannten und alle Glocken zu läuten begannen, erhob sich der regierende Bürgermeister, Petrus Gyse mit Namen, faßte den getriebenen Becher und sagte: »Willkommen, Herr Heinrich, willkommen mit Euren Kindern und Eurer schönen und sittsamen Hausfrau! Nun mögen wir die Lauten schlagen und unsere Zukunft gesegnen; denn die schlimme Seuche ist von uns genommen, der Lenz bläst das Haberrohr vor den Toren und die Kunst hat ihren Einzug gehalten. Euch aber zur Ehrung ... Wir haben in ernster Sitzung beschlossen, bei Euch einen Schrein zu bestellen und in Auftrag zu geben, der die Sieben Schmerzen Mariä zur Anschauung bringen und seinesgleichen nicht mehr finden soll in der gesamten Christenheit. Die Bruderschaft Unserer Lieben Frau hat sich erbötig gezeigt, die Lasten zu tragen. Und nun, Meister Heinrich, gehet ans Werk und gebet Euch und Eurem Schöpfer die Ehre. – Ihr aber, meine lieben Mitbürger, großgünstige Herren und Freunde, rosige Frauen und Jungfrauen, schenket ihm gratiose ein und trinket ihm zu mit vollen Pokalen! Herr Heinrich soll leben!‹ und war darüber solch ein frohes Geräusch und Durcheinander, daß man sein eigenes Wort nicht mehr hörte, fielen auch die Pauker und Zinkenisten so herrisch ein, daß ich alle Mühe hatte, meinen Dank in geziemender Weise aus dem Munde zu bringen. – In Summa, alles war schön und wohlgelungen und perlenfrisch über alle Beschreibung.«

»Donnerwetter noch mal!« sagte Herr Bollig, während Arnt Douwermann sein Glas nahm und in gehobener Stimmung sich an die Zuhörer wandte: »Tun wir es dem regierenden Bürgermeister gleich, und gedenken wir auch nach Jahrhunderten des einzigen Mannes. Herr Heinrich soll leben!«

»Großartig, großartig!« stimmte Hochwürden ihm zu, und alle erhoben sich, tranken und setzten sich wieder.

Der Alte las weiter:

»Obgleich nun ein Taumel der Begeisterung über mich hereinbrach, so war doch soviel Weisheit und Vernunft in mir, daß ich mir sagte: ›Wenn man im güldenen Topf sitzt, auch ein vielbewunderter Mann ist, soll man seine Gravität nicht allein in privato sondern auch in publico sorglich behüten, damit man nicht in Ungelegenheit komme und seine Freundschaft verliere; denn alles auf dieser Erde ist leicht dem Verfall unterworfen.‹ Solches machte ich mir tapfer zunutz, blieb bescheiden in meinem Tun und Lassen und war nur darauf bedacht, das Banner meines Gewerkes noch stolzer als früher zu hissen und emsig ob meiner Werkstätte fliegen zu lassen. – Am Tage, als man das Fest des heiligen Johannes Baptista beging, wurde die betreffende Urkunde zwischen dem städtischen Rat, der Bruderschaft Unserer Lieben Frau und mir löblich getätigt. Die begonnene Arbeit sollte mein Lebenswerk werden. Auch wußte ich, zehn Jahre und mehr würden dahinschwinden, bevor ich vor den Rat treten und sagen mochte: ›Großgünstige Herren, der Schrein ist vollendet.‹

In beharrlichem Mühen vergingen die Jahre. Abgesehen von etlichen kleinen Schnitzereien, so einem Sakramentshäuschen für die Kirche in Hanselaer, einem Muttergottesleuchter für das Refektorium des Brigittenklosters in Zwolle und andern Sachen meines fleißigen Messers, hatte ich vollauf zu tun, mein Lebenswerk zu fördern und seiner Vollendung entgegenzuführen.

Inzwischen wuchsen meine Kinder heran: meine Tochter zu einer blühenden Jungfrau, schöner von Antlitz als die verewigte Herzogin Mechtild – mein Sohn zu einem mannhaften Jüngling, unerschrockenen Geistes und schon im fünfzehnten Jahre seines Lebens befähigt, Spachtel und Modellierholz wie ein kundiger Meister zu führen. Selbiger heiratete auch im frühen Alter des gelehrten Herrn Sebastian Brower ehrsame Tochter, mußte aber – Gott im hohen Himmel sei es geklagt! – sein junges Leben von sich tun, als ihm ein Söhnlein geboren wurde und die Fama sich anschickte, sein erlesenes Künstlertum zu verbriefen und ihm ein Lorbeerzweiglein um die Schläfen zu legen. Was mein Weib und ich dabei an Qual und Marter erlitten, kann nur der Himmel ermessen. Es war der erste wilde Schmerz, der uns traf. Ein wilderer sollte mir kommen ... aber ich danke noch meinem Schöpfer dafür, daß er mein Weib von hinnen nahm, bevor das Verhängnis seine Sehne straffte, um den entsetzlichen Bolzen zu schnellen.

Rüdiger war tot. Um so inniger rankte sich die elterliche Liebe um unsere Tochter Plektrudis. Keusch und rein ist das Mondlicht. Unser Kind war keuscher und reiner. Wundersam ist ein Flachsfeld anzuschauen, wenn es seine Blüten entfaltet. Die Augen unserer Tochter waren leuchtender und tiefer an Bläue. Am Komer See, so ließ ich mir sagen, sind Blumen auf den Wiesen und Lilien auf den Bergen, wie sonst nicht zu finden. So ähnlich war sie ... kein Wunder daher, daß sich alle Junggesellen des Landes um ihr Ringlein bewarben und Anstalten machten, sie in die hochzeitliche Kammer zu führen. War auch einer darunter, hieß Martin Scholander, eines schlichten Mannes Sohn und in Xanten gebürtig, wachen Verstandes und feurigen Körpers; denn er hatte die hohe Schule besucht, war in Bologna und Köllen gewesen und hatte alle Anwartschaft darauf, sich bald auf einem Lehrstuhl zu wissen. Selbiger nun warb um Plektrudis und hatte das Glück, ihre Gegenliebe zu finden, war auch dieses unserm Wunsche gemäß; denn wir sahen darin Gottes Fürsorge in löblichster Weise. Wurden auch nicht hochfahrigen Sinnes durch den preislichen Umstand, daß ein heimliches Gerede ob der überirdischen Schönheit unserer Tochter die ganze Gegend erfüllte, blieben vielmehr bescheidenen Trachtens und nahmen alles so hin, wie es lautern und ehrlichen Christenmenschen geziemet.

In dieser Zeit schloß ich eine innige Freundschaft mit dem weisen, bedachtsamen und gottesfürchtigen Herrn Sybertus von Ryswick, herzoglich klevischem Rat, Stadtpfarrer dahier und Propst der Kollegialkirche zu Wissel. Dieser nun wurde mir ein liebevoller Berater bei meinem Altarwerk, gab mir geziemende Winke, dieses und jenes nach den Gesetzen der Gotik besser und feiner zu schnitzen, so daß ich ihm nur danken konnte aus dem Grund meines Herzens. Er billigte auch die Wahl meiner Tochter, sintemalen er den jungen Scholander für einen Edelmann der Gesinnung nach ansprach, wohlberechtigt, die gelehrten Köpfe der Universitäten staunen zu machen. So konnten wir denn zufrieden sein und an das Beilager denken. Allein es sollte sich hinziehen, vielleicht gar ... Doch ich will in meiner Erzählung nicht vorgreifen. Meine Bekenntnisse sollen folgerichtig sich geben ...

In wachsender Tätigkeit und geziemender Muße war das Jahr 1520 gekommen. Ich befand mich gerade auf einer Reise in Köllen, um mir dort beim Dombaumeister wegen eines anzubringenden Stab- und Maßwerks Rat zu erbitten, als mich ein Brieflein meiner Tochter erreichte, worin sie sagte: ›Herzlieber Vater! Wisset, daß sich hier ein Unglück begeben, indem sich beim Ausflug ins Holz ein Würmlein um den Fuß der guten Mutter geringelt, sie auch derart verletzet, daß sie bettlägerig wurde und ihr Zustand ein gar schlimmes Ende verheißet. Sie lässet Euch grüßen, aber auch anhalten um eifrigste Rückkehr; denn sie verlanget nach Euch, weil sie glaubet, gar bald in den Schoß des Allerhöchsten zu kommen. Gegeben zu Kalkar, am Montag Unserer Lieben Frauen Abend nativitatis anno 1520.‹

›Herrgott!‹ schrie ich auf, ›da sieht der Tod durch die Scheiben‹, eilete heimwärts, konnte aber nur einen kalten Mund noch berühren und in die Worte ausbrechen: ›Nun habe ich auch diese verloren!‹

Und dennoch ... der Tod ist gnädig und barmherzig gewesen; denn wäre sie nicht von hinnen gegangen, das Leid, das noch ausstand, hätte ihren lieben Geist irregeleitet, und das wäre furchtbar gewesen. Requiescat in pace!

Mir blieb nichts weiter übrig, als mein dahingeschiedenes Weib in Ehren zu halten, weiter zu schaffen und auf das Glück und Wohlergehen meiner einzigen Tochter zu hoffen, die aber so traurig war, daß sie vorab nicht heiraten mochte und die heilige Feier immer wieder hinausschob.

Anno domini 1521 starb der regierende Herzog. Sein Folger im Amt, Johann der Dritte, vermählt mit der blassen Maria, der schönen und reichen Erbtochter des verewigten Herzogs Wilhelm von Jülich und Berg, vereinigte dessen Besitztümer mit dem Zepter von Kleve, führte eine fröhliche Herrschaft und ließ sich im Erntemond des folgenden Jahres in meiner Vaterstadt huldigen.

In vollem Prunk, in Wehren und Waffen und mit rauschendem Spiel zogen ihm und seiner jungen Gemahlin die Notabeln der Stadt und die gesamte Bürgerschaft am fünften des Monats vor den Toren entgegen. Es war eine prächtige Schau und ein großes Gelaufe. Item, auch die Welt trug Feiertaggewand; denn der Himmel erstrahlte in reinstem Sonnenschein, der rote Mohn bestickte das sichelreife Korn, und auf den Wäldern und Wiesen lag ein so feinmaschiger Duft, als wären sie mit einem feinen Hauch von Schmaltebläue getempert.

Auf einem schwarzen Ardenner ritt der gebietende Herr in die Stadt ein, ganz in Eisen und den Sturz nach oben geschlagen, auf einem Zelter die schöne Maria, entblößten Halses und einen Solitär im Haar, so eine Grafschaft wertete. Ihr zur Seite befand sich ihr Kapellanus, den sie von Jülich mitgebracht hatte, ein Schwärmergesicht mit tiefen, verlangenden Augen, die sich von der lichten Frau nicht abwenden konnten. Solcher trug eine lange Soutane, war barhaupt und tonsuriert, was ihm gut zu Gesicht stand, wußte sein Roß auch ruhig zu führen und sich weidlich im Sattel zu halten.

Auf dem Marktplatz fand großer Empfang statt. Der Bürgermeister sprach geziemende Worte und übergab die Schlüssel nach altem Gebrauch und wie es die Satzung erheischte, entbot auch für den heutigen Abend zu einer stolzen Lustbarkeit, die im goldenen Saal des städtischen Hauses stattfinden sollte.

Als zu den Honoratioren und Ehrenbürgern gehörig, präsentierte mich Herr Petrus Gyse dem erlauchten Besuch, und ich bekam von dieser Seite viel des Lobes zu hören, stand auch der auf hohem Zelter sitzenden Frau so nahe, daß ich das Rascheln ihres Kleides vernahm und mich nicht genug wundern konnte über die Biegung ihres schneeigen Halses.

Da sah ich ...

Möge der Herr mich verdammen und mich des ewigen Lebens für verlustig erklären, wenn ich Falsches vermelde ... aber da sah ich: unter den Brauen des jungen Klerikers flammte es auf wie Brunst und Lohe, und heimlicherweise suchte er sacht über die Hand seiner Herrin zu gleiten, hörte auch diese ängstlich ihm zuflüstern: ›Heribert, laßt das; es könnte Euch böslich ergehen.‹

Weiteres vernahm ich nicht; denn in diesem Augenblick begannen alle Glocken zu läuten und die Kartaunen von den Wällen zu rufen und über die Stadtmark zu donnern, während welcher Ovation der Herzog aus den Bügeln rasselte; desgleichen auch die Herzogin mit den Edelfrauen sich anschickte, von den Tieren zu steigen.

Ein Page sprang zu; aber der Kapellanus mit dem Schwärmergesicht und den glutenden Blicken war schneller als er ... und nun ein unerhörtes Spektakel, wie niemals geschehen ...

Sei es nun, daß sich des jungen Menschen Sinne betörten, oder sei es, daß er die lange zurückgedämmte Liebeswut nicht mehr zügeln konnte – mit einem Satz war er bei ihr ...

›Gnade, Jungfrau Maria ...!‹ und seine Arme umschlangen die Herrin. Taumelnd riß er sie an sich, küßte ihren bleichen Mund und biß ihr ein rosiges Mal auf das schneeige Weiß ihres Halses, gerade dort, wo er aus der weichgerundeten Schulter sich aufhob.

Ein einziger Schrei, dem eine Stille folgte, als wäre die Pest aufs neue unter die Menschen getreten.

Edelfrauen fingen die Geschändete auf und führten sie abseits.

Der Herzog aber wandte sich jählings. Ein Funke sprang von seinem Blick wie von einer Esse herunter.

›Pfäfflein, Pfäfflein,‹ sagte er heiser, ›das ahnte ich lange. Haltet Euch bereit; Ihr werdet morgen gehangen,‹ kehrte sich hierauf mit klirrendem Sporn und ließ sich zu seiner Herberge führen.

Desungeachtet und obgleich die hohe Frau sehr verstört schien, sich mancher der bösen Dinge halber weidlich entsetzte, der sündige Kapellanus auch von etlichen Artschieren abgeführt wurde, so ließ der gestrenge Herr doch am Abend desselben Tages zum Bankett auftrompeten und zum Fackeltanz rufen.

Unter den ersten der Stadt waren Herr Sybertus von Ryswick, ich und meine Tochter Plektrudis geladen, saß auch in eigener Person dem Herzog und seinem Gemahl schräg gegenüber und sah, wie sie bleich wie das Tafeltuch war, und nur das Mal am Halse, so ihr der Kapellanus verstörten Sinnes eingebissen, aufflammte gleich einer roten Rose im Sommer. Sie sprach keine Silbe, rührte die Speisen nicht an und wisperte nur scheu zu Herrn Sybertus von Ryswick: »Hochwürden, nachher möchte ich ein Wort mit Euch reden,‹ um dann wieder wie eine Tote in ihrem Lehnstuhl zu sitzen.

Nach aufgehobener Tafel, während der Schleifer anhub, stand ich beim Verzog, welcher mir sagte: ›Es ist zwar lange vorüber, aber ich weiß, daß meine hochselige Mutter Euch übel mitspielen wollte.‹

Ich tat so, als ob ich dieses nicht wisse, selbstverständlich nur aus dem Grunde heraus, das Andenken der Frau Mechtild zu schonen, allein er meinte zum andern: ›Ich weiß, ich weiß. Man kann mich nicht täuschen. Zu Eurem Heil seid Ihr tapfer geblieben, sonst wäre es Euch gewißlich wie dem anmaßenden, verbrecherischen und unkeuschen Pfaffen ergangen, der morgen gehenkt wird. Weil Ihr aber so herzhaft und treu gegen Euren Landesherrn verfahren, des ferneren Eure Kunst mir und meinem Reiche zu Nutze geworden, so will ich Euch lohnen und mich Euch gegenüber erkenntlich beweisen ...‹ und damit legte er mir seine kostbare Kette mit dem güldenen Pfennig, so auf seinem todschwarzen Wams ruhte, um Hals und Nacken, daß ich nicht umhin konnte, nach seiner besteinten Rechten zu greifen und selbe dankbarlichst und in aller Ehrfurcht zu küssen.

›Laßt nur, laßt nur!‹ winkte er wohlwollend ab, fragte mich hierauf nach meinen Unternehmungen, vornehmlich nach dem Schrein zu den Sieben Schmerzen Mariä, von dem er viel Rühmens gehört, wann solcher fertiggestellt und eingeweiht würde, und als ich ihm alleruntertänigst bemerkte, daß dieses um die kommende Weihnacht geschähe, da nickte er huldvoll mit dem Kopf, gab mir die Hand und sagte: ›So mir Gott das Leben behütet, werde ich mit dabei sein und kommen,‹ und wurde ich hiermit freundlichst und in allen Gnaden entlassen.

Während dieses Gespräches ging der Tanz durch die Räume, die alle in Girlanden und blendendem Fackellicht standen. Solches gefiel mir, und ich schaute ihm zu, bis ich gewahrte, wie meine Tochter Plektrudis im Arme eines jungen Edelmannes aus dem Gefolge des Herzogs dahinschwebte. Alle verfolgten die beiden mit leuchtenden Augen, auch hörte ich sagen: »Solch ein Paar muß man suchen,‹ und wollte des freudigen Getuschels kein Ende mehr nehmen. Selbiger Herr, der sie führte, Gerhard von Bungart mit Namen, hatte ein Junkergesicht, frei und offen, und gedachte, wie ich später erfuhr, am Kammergericht zu Wetzlar Karriere zu machen. War auch reichbegütert und besaß jenseits des Rheines, auf dem Emmericher Eiland, Hof und Haus, darinnen er zeitweilig als Junggesell lebte und Großes von der Zukunft erhoffte. Sollte sich auch auf alle verborgenen und geheimen Künste verstehen und Bücher studieren, die nur wenige lesen, als da sind: die des Hermes von den vierundzwanzig Figuren nach den Stunden und die tiefgründigen Scripte des Cornelius Agrippa von der heimlichen und verborgenen Philosophie, außerdem noch den Schlüssel Salomonis besitzen und daher befähigt sein, die Siegel aller Weiberherzen zu schließen und wieder zu öffnen.

Mir wurde weh zu Sinn, und als ich noch sah, daß er mein Kind über Gebühr hofierte und mehr als üblich seine Hände gebrauchte, trat ich auf ihn zu, unterbrach den Tanz und sagte ihm herzhaft: ›Wohl zufrieden, Herr Junkherr, aber es geziemet sich nicht, wenn Ihr meiner Tochter also begegnet und sie also herzet.‹

›Warum nicht?!‹ gab mir Plektrudis gegen alle Erwartung zur Antwort. ›Laßt uns gewähren. Er weiß mich gar kunstreich zu fassen und mir viel des Schönen und Gelehrten zu melden,‹ hierauf ließ sie sich abermals von dem Reigen dahintragen.

In diesem Augenblick wurde Herr Sybertus von Ryswick zur hohen Herrin befohlen, die noch immer das Leben suchte und sich kaum zu halten vermochte.

Kurz darauf trat er bewegt auf mich zu.

›Es ist nichts mehr zu ändern,‹ meinte er traurig. ›Der Kapellanus muß sterben. Sie ersuchte mich noch, ihm die letzte Zehrung zu geben und ihm dabei ihren Gruß zu vermitteln.‹

Auf solche Weise ging dieser denkwürdige Abend zu Ende.

Mit Bungen und Posaunen wurde das Fürstenpaar bis in seine Herberge geblasen.

Andern Tages, als das Morgengrauen auf den Dächern lag und die Dohlenvögel sich noch nicht im Nebel zurecht finden konnten, klagte das Armsünderglöcklein durch die dunstige Frühe.

Bald nachher wurde der junge Kapellanus gehenkert.

Als solches geschah, stieß die Herzogin einen herzzerreißenden Schrei aus – so hieß es. Der Schrei aber, den ich am ersten Tage der heiligen Weihnacht ausstoßen mußte, ist wilder und herzzerreißender gewesen, denn mir wurde alles, aber auch alles genommen. Die Feder sträubt sich, dieses wiederzugeben. Aber es muß dennoch geschehen. So hört denn und wisset, und wenn Ihr wissend geworden, sprecht ein kurzes Gebet für meine Tochter Plektrudis und für den, der dieses niedergeschrieben.«

Langsam, ernst und wie aus einem Traum heraus hob Arnt Douwermann den Blick von der Handschrift und sah alle an und nahm sein Glas und trank und setzte es stumm wieder nieder.

Und alle taten wie er. Dann erhob er sich und legte den Arm um Johanna und sah ihr tief in die Augen.

»Heute ist der erste Feiertag, der Tag des Geschenkes. Denke später daran ...« und er setzte sich wieder, um den Schluß der Chronik zu lesen, während der Dechant ihm zunickte und meinte: »Nur zwei Worte, mein Lieber! Bewegt lauschten wir dem, was ein Großer zu sagen hatte, und stehen in tiefer Erwartung, wie er das Ende wird finden. Ich sehe schon: er konnte seiner Tochter nicht helfen; aber er hat der Kunst und der Menschheit geholfen. In gemeinsamer Andacht hörten wir das und werden es weiter hören ... und in gemeinsamer Andacht und in schlichter Weise wollen wir den heutigen Abend beschließen – bei mir zu Hause, einfach und wie es einem Pastor loci geziemet. Es ist alles gerichtet. Keine Absage gilt ...« und da sagten sie zu und freuten sich auf die Stunde, die ihnen bevorstand.

Indessen hatte Herr Bollig die Kerzen geschnuppt und, wo es not tat, neue auf die Leuchter geschoben.

Vom Turm der Kirche kam ein sanftes Brummen herunter, dem einzelne Schläge folgten.

Johanna, die bisher gesessen hatte, als wäre es Zeit, sich mit dem Tod zu befreunden, warf einen langen Blick auf ihren Vater, hierauf sah sie Dirk Vogels an, innig und mit heißester Liebe, fiel aber gleich darauf wieder in ein verzweifeltes Grübeln und Brüten. Unauffällig verflocht sie die Hände, biß die Lippen zusammen und stammelte die unseligen Worte: »Entweder du kommst, oder aber ... dann jedoch öffne das Fenster, schärfe das Ohr und horche in den Abend hinaus. Ich für meine Person bleibe meinem Vorsatz getreu, um letzten Endes Sieger zu werden. Aber merke genau auf. Kurz nach acht wirst du einen Schuß fallen hören ... Mein Gott, soll ich eine Todbringerin werden ...?!«

Sie spann den Gedanken nicht weiter; eindringlich hallte die Stimme ihres Vaters herüber:

»So komme ich denn allgemach zum Abschluß meiner Lebens- und Leidensgeschichte.

Das Korn stand schwer auf den Feldern, in den dunkeln Wäldern war Orgelmusik, und als ich mich eines Tages auf den Deichen erholte, da sah ich, wie die Sensen lange Gassen durch die Roggen- und Weizenschläge bahnten. ›Nun ist Erntezeit,‹ sagte ich still vor mich hin und ward fröhlichen Sinnes; denn auch für mich war die Zeit der Ernte gekommen, voll und sichelreif und schön über alle Maßen. Bald konnte ich heimsen und die größte Arbeit meines Lebens beschließen ... und als dann von allen Tennen die hölzernen Flegel wie Glocken sangen:

›Hie Klocke, hie Tocke! wir sorgen für Brot.
Du, segne die Arbeit, Herr Zebaoth ...!‹

da legte ich meine Hände zusammen, sah verklärten Auges mein Werk an und pries meinen Schöpfer.

Der Schrein zu den Sieben Schmerzen Mariä war fertig geworden.

Um diese Zeit ließen die Hegemeister wieder die Hatz anblasen, und viele Herren kamen, hohe und niedere, den edeln Hirsch auf die Decke zu legen. Auch der Junker Gerhard von Bungart befand sich im Gefolge des Herzogs, wenn das Hifthorn ertönte und die Jagd, wie es häufig geschah, sich bis in den Bann unseres Kirchspiels erstreckte. Dieses benutzte er dann, mein Heim zu betreten, vorgebend, sich an meiner Festigkeit und meiner Lebensweisheit zu erbauen; war dabei vielfach auch um Plektrudis beschäftigt, rühmte ihre Sitte und ihren höfischen Anstand und bedauerte lebhaft, daß sie nicht vornehm geboren und kein Wappen besitze. So schön sie auch sei, erst die siebenzackige Krone mache die irdische Glückseligkeit aus und den höchsten Schimmer auf Erden. Kurz, er war eifrigst bemüht, ein Geweb von glitzerfeinen und goldenen Fäden um das schlichte Wesen meiner Tochter zu spinnen.

Solches gefiel mir nicht sonderlich, noch weniger ihrem Verlobten, dem wohlehrsamen Herrn Martin Scholander, der mittlerweile zum Magister in Köllen kreiert war und eifrigst drängte, die Hochzeit zu bestellen und das Brautbett zu richten.

Sie begegnete ihm in ihrer gewohnten Freundlichkeit, aber auch mit ihrer ebenmäßigen Ruhe, und meinte: »Weshalb diese Eile? Mein Antlitz ist rot beschienen vom Abglanz der Liebe. Auch deins, wie ich sehe. Nur die Liebe eines Weibes ist feiner geartet wie die eines Mannes. Ihr folgt nur dem Rufe des Fleisches, wir hören auf die Stimme des Herzens. Ihr seht nur das Weib im Weibe, wir blicken tiefer.‹ Und dann sagte sie mit ihrer schönen und weichen Stimme: ›Man soll nichts überhasten. Einer soll in dem andern sich finden. Da ist Einsicht geboten. Wir können noch warten, und drum geduldet Euch, Martin.‹

Mit einer steilen Falte über der Nasenwurzel überbrachte er mir diese seltsame Antwort, ließ auch durchblicken, daß ihn eine böse Ahnung beschleiche. Ich aber sprach ihm zu, so gut ich vermochte, und sagte ihm schließlich: ›Die Zeit bricht Rosen, und nur sie allein führet Richtscheit und Winkelmaß, den angefangenen Bau zu vollenden. Und daher meine auch ich: Geduldet Euch, Martin. Geduldet Euch, bis die Werkeltage dahin sind und wir sagen können: Christ ist geboren! An seinem Fest findet auch mein Schrein seine Weihe, und so mein Herz mich nicht täuschet, wird sie Euch an diesem Tage verkünden: Rüstet Euch, Martin; wenn die Schwalben heimkehren, machen wir Hochzeit.‹

Da sinnierte Herr Scholander still vor sich hin, gab sich zufrieden und reiste getröstet nach Köllen, um zur angegebenen Zeit wieder vorzusprechen und sich das Jawort zu holen.

Bedrängten Gemütes ließ ich ihn ziehen; denn der Gedanke war bei mir, es könnte vielleicht nicht alles so werden, wie ich es mir in meinem Innern vorgestellt hatte.

Die Tage vergingen. Der erste Frost kam über die Erde und dann eine Kälte, die wie ein gepanzerter Ritter einherschritt – eisern, im Harnisch und mit klirrenden Sporen. Tapfer ging es in den Winter hinein. Der heilige Thomas erschien und erzählte von dem kommenden Fest – da war es, als ich ums Abendläuten herum von Herrn Sybertus von Ryswick kam und sehen mußte, wie ein eiliger Schatten aus meinem Hause glitt, um lautlos bei der nächsten Straßenecke unterzutauchen.

Wie immer trat mir meine Tochter zum Willkomm entgegen, weiß und schön und in der freundlichen Stille ihrer ganzen Erscheinung. Nur eins fiel mir auf: sie trug ein güldenes Kettlein am Halse, das ich von früher nicht kannte; auch stand ihr Marderkräglein geöffnet.

Ich zeigte darauf und fragte: ›Wie kommt dies, Plektrudis?‹

›Gott ja!‹ sagte sie eifrigst, ›ich habe Garn und Zwillich geordnet, und dabei ist mir eine Nestel gesprungen.‹

›Und was bedeutet das Kettlein?‹

›Ach dieses!‹ meinte sie lächelnd und nahm es mit ihren zierlichen Händen und spielte damit und sagte dann ohne jede Erregung: ›Nun, damit Ihr es wisset – der Junker war hier und hat mir den Heiligen Christ schon in dieser Stunde verehret.‹

›Und du hast ihn genommen?‹

›Wie Ihr sehet, Herr Vater.‹

Da übermannte mich der Zorn und trieb meine Gedanken auseinander, wie der Jud die Kälber auseinanderzerret, um sie in die verschiedenen Metzgen zu führen.

›Bei Christi Marter und Blut!‹ fuhr ich auf, ›die Tochter eines Heinrich Douwermann läßt sich in dieser Weise nichts schenken; denn aus solchen Angebinden musizieret das Pfeiflein des Satans und bläst ein Wind, der das Jungfernkränzlein entblättert.‹

›Aber Herr Vater ...!‹

›Nichts will ich hören ...‹ und damit hatte ich bereits das Kettlein genommen, es ihr vom Halse gerissen und in das lohe Feuer geworfen, so hellauf im Kamin flackerte, dabei auch die Worte gesprochen: ›Ich weiß nicht – wie kannst du mir und deinem Verlobten also begegnen?! und ich sehe wohl ein: es ist schwerer, den Ruf einer Jungfer zu hüten, als ein Dutzend Heupferdchen, so auf den Wiesen hüpfen, in Zaum und Zügel zu halten. Allzu leicht und gern lästert die Schande vom Dache herunter, und damit ich dieses vermeide, ist mein ernstlicher Wille, dir das Handwerk zu legen. Herr Martin Scholander ist hierfür der beste Pfleger und Heger. Du bist ihm sein Augapfel, sein Adamant und nächst seiner unsterblichen Seele das Höchste auf Erden, und so hoffe ich denn, du wirst ihm beim Fest freundlich begegnen, ihm zusprechen und die Worte ihm sagen: Martin, wenn die Schwalben wiederkehren, segnet der Pfaffe.‹

Sie sah mich an, als wäre mir der Verstand aus den Fingern gerissen, behielt aber ihre eigenartige Würde und Hoheit und sagte so schuldlos, wie ihre Lippen nur zu sprechen vermochten: »Herr Vater, wie könnte ich anders? Dein Wunsch entscheidet!‹ und es war mir plötzlich, als wäre ihr Unrecht zugefügt, als hätte ich sie auf den Tod verletzt und verwundet ... und ich nahm ihre Hand und streichelte darüber hin in Liebe und Güte, gleichsam um ihr Abbitte zu tun und ihr Herz zu versöhnen.

Weihnacht, Weihnacht! – Herr Martin Scholander war da und der Bischof von Köllen und Herr Johann, der Herzog, und die schöne Maria ... und der Schrein stand in voller Glorie an der östlichen geraden Abschlußmauer des nördlichen Chores und harrte des Segens. Und von allen Dörfern und Flecken strömte das Volk zu, um das Werk zu sehen und der göttlichen Gnade teilhaftig zu werden. Weihnacht, Weihnacht! – allüberall sangen und jubelten die Engel des Himmels, Cherubim und Seraphim, und alle die Seligen, die nicht diese stolzen Namen besaßen. Aber wie Freude und Leid immer geneigt sind, sich die Hände zu reichen, so geschah es auch am heutigen Tage.

In der Emmericher Mark und in der Höhe von Brienen hatte sich eine mächtige Eisbarriere quer über den Rheinstrom geworfen, hatte das Bett verrammelt und ein haushohes Bollwerk gezogen. Mit dumpfem Grollen und Murren drängte der Strom nach, hob sich in seinen Ufern und stierte häßlichen Auges über die jammernden Deiche, als wenn er sagen wollte: »Von mir habt ihr kein Gutes zu hoffen ...‹ und lärmte und rasselte mit seinen verankerten Schollen und dem tobenden Stauwasser, daß davon die Dämme ächzten und stöhnten und das Binnenland den Atem verhielt, weil es denken mußte: ›Daß Gott erbarm! nun kommt die Not gerumpelt und stopft einem den Tod ins Maul oder schafft bresthafte Äcker und Menschen.‹ Aber die Feiertagsstimmen übertönten das alles, lobeten den Herrn und sangen den Gottesdienst ein, währenddessen der Schrein in Gegenwart des regierenden Herzogs seine Dignität erhielt und sich im Licht der Kerzen anließ, als wäre er nicht von irdischen, sondern von überirdischen Händen geschnitzet.

An diesem Tage erstieg mein Künstlertum den höchsten Gipfel des Erreichbaren, höher vermochte es nimmer zu steigen. Mein Menschentum aber legte sich Bettlerkleider zu und verhüllte sein Antlitz. Es sank in Moder und Staub und konnte nicht tiefer mehr sinken; denn als ich nach Hause kam und nach meiner Tochter fragte, die während der Feier wie eine Verzückte aussah und alle Gläubigen bezauberte, ich sie dabei auch noch angegangen war und gesagt hatte: »Heute wirst du ihm das Jawort geben, Plektrudis!‹ erhielt ich von meiner Schaffnerin eine ausweichende Antwort, dazu ein Brieflein behändet, das ich auf meine Kammer trug und hier das Siegel erbrach. Dann las ich:

›Herzlieber Vater! Meinen Gruß zuvor, auch einen solchen für Martin. Aber ich flehe Euch auf den Knien an: Forschet nicht weiter nach mir. Es wäre unnützes Tun und eine vergebliche Mühe. Ich bin mit dem Junker gegangen, und ist nichts mehr zu ändern; denn geschrieben steht: Du sollst Vater und Mutter verlassen, um der Wahl deines Herzens zu folgen. Es fehlt mir an nichts mehr; nur ein Pfaffe ist nötig, damit er mir zu einem ehrlichen Namen verhelfe. Drum sorget Euch nicht; auch dieses wird kommen ... und so küsse ich denn Euren Mund und verharre ...‹

Ich kam nicht weiter.

Es war Abend, als ich dieses las, und nur ein mattes Licht gab mir hierzu die nötige Helle; aber ich wähnte, der Jüngste Tag sei gekommen, solch ein Feuer war um mich.

Mein lieber Herr Jesus! ich mußte die Worte stammeln, die der beklagenswerte Peter Unverdorben im Turm ›Schütt den Helm‹ zu Neuenburg kurz vor seinem Ende gesungen hatte:

›Gott segne dich, Laub, Gott segne dich, Gras,
Gott, segne du alles, das da was,
Ich muß von hinnen scheiden.
Lieber Engel, steh' mir bei,
Weil Leib und Seel' beieinander sei,
Daß mir mein Herz nicht breche.‹

Brunst, Brand und wütige Lohe! – und ich griff in dieses Feuer hinein ... und sah Funken vor Augen und glühende Sonnen ...

Unter dieser Lohe brach ich zusammen und glaubte, die kalte Hand des großen Würgers zu spüren.

In der Nacht, die diesem Abend folgte, brach der Rhein seine Schranken, wurde jedoch von den Binnendeichen, die als Triarier in der Verteidigung dienten, am weitern Vormarsch behindert. War dieserhalb auch kein größeres Unglück geschehen, nur das Fährhaus von Brienen, so Verbindung hielt mit dem gegenüberliegenden Ufer, war von der Stauflut überschüttet und abgesperrt worden ... aber gerade aus diesem schlichten Fährhaus streckte das Unglück sein scheußlich Gesicht und riß das Maul auf und schrie über die Gegend: »Wollten da zwei nach dem Emmericher Eiland hinüber, wollten da hinein, wo zwischen den Wiesenkoppeln der Edelmannshof liegt, ganz mutterseelenallein und verlassen; aber der Strom litt es nicht und trieb sie in das Haus der Sünde zurück und in die einsame Kammer ... und da kam das Wasser ... Und nun liegen sie da wie Mann und Weib und sind stumm wie die Fische ... sie wie eine Heilige und er ... Ja, das kann niemand ermessen ...‹

Um die Mittagsstunde, als mir bereits der Wahnsinn im Nacken saß, kam weitere Nachricht. Das Spektakel, das sich nur langsam vortappen konnte, kam immer mehr ins Rollen, nahm Sturmschritt über Land und sang das Finale: ›Und sie, das Weib, hielt ihn mit ihren Armen umklammert und hatte ihn ganz mit dem Gold ihrer Haare umsponnen, gleichsam um ihn zu schützen in der Stunde des Todes ...‹

Also doch keine Heilige ...!

Ich weinte nicht mehr und lachte nicht mehr, sondern ich dünkte mich wie ein Großer im Reich ... und schlug mir den Krönungsmantel um die Schultern, den die Puppe getragen, als ich den König David geschnitten, und setzte mir seine Blechkrone auf und nahm sein Szepter aus vergoldetem Holz und trat auf den Markt und ließ mich vor den Menschen sehen und schrie sie an und lärmte: ›Achtung, die Herrschaften! Reverenz Eurem König! Ich bin der Kartenkönig von Kalkar, der sein Bestes verspielte, dem die eigene Tochter die Schande ums Maul schlug! Hurra! – es lebe der Kartenkönig von Kalkar!‹

Was weiter geschah, vermag ich nicht mehr zu sagen. Nur acht Tage später trat die Witwe meines hingeschiedenen Sohnes ins Zimmer und legte mir meinen Enkel sacht in die Arme.

›Der blieb Euch,‹ raunte sie leise.

›Der blieb mir ...‹

Und ich konnte zum erstenmal weinen und entgegnete ihr: ›Der letzte Stein aus einer köstlichen Krone! Auch hierfür bin ich dankbar. Aber es ist doch jammerschade um mich: ein Menschenherz und ein Künstlerherz wurden für immer auseinandergerissen. Das mein Gewinn; ich habe nichts mehr zu sagen. Nur das eine noch. Gott stehe mir bei in der Stunde des Todes und geleite mich in die Arme meines Weibes, so da schauet in das ewige Licht, das den ganzen Himmel erfüllt. Pater noster, qui es in coelis ...‹ Hiermit endigt meine traurige Botschaft.

Heinrich, der Schnitzer.«

Nicht der leiseste Ton, nicht das feinste Geräusch ließ sich hören. Aber jeder fühlte den eigenen Herzschlag, und der Alte am meisten. Mit zitterigen Händen fuhr er sich über die Augen, blickte in das Licht der tiefgebrannten Kerzen und legte mit einer gewissen Erregung die einzelnen Blätter des Manuskriptes zusammen.


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