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Keine dreihundert Schritte von der Sankt Nikolaikirche entfernt, auf der Herrenstraße, die sich in großem Bogen um den westlichen Stadtteil herumzog, lag das Haus des emeritierten Lehrers Arnt Douwermann. Es stand mitten in einem räumigen Garten, woselbst in sommerlichen Tagen Phlox, Feuerbohnen, Zentifolien und Nelken blühten und stattliche Baumkronen ihren wohligen Schatten verstreuten. Mit seiner hintern Front stieß dieser Besitz an ein langsam fließendes Wasser, über das hinaus der Blick in endlose Wiesen und Weiden hineinging, eine weite Niederung, mit Dämmen und Deichen durchquert und von dem schwermütigen Säuseln kanadischer Pappeln umzittert.

Jetzt lag alles verschneit, wie in Watte verpackt, und das Leben, das frierend an dem kleinen Anwesen vorbeihuschte, ging auf lautlosen Socken. Nur auf dem nackten Birnbaum, der seitlich der blaugestrichenen Haustür aufragte, hockte ein gedunsener Krähenvogel, plusterte den schwarzen Kittel und suchte durch ein heiseres Krahahen die spitzbübische, nadelscharfe Kälte weniger empfindlich zu machen. Über der schneeverwehten Haustür stand ›Salve‹ geschrieben, und dieses ›Salve‹ war weiß überglitzert und mit Eiskristallen umhangen.

Der Eingang war niedrig, und man mußte den Nacken bücken, um nicht gegen den tiefliegenden Oberbalken zu stoßen.

Salve! – und wenn ihr eintretet, dann wendet euch zur Linken, pocht leise an und drückt auf die Klinke.

Hinter der ersten Türe befindet sich das Wohn- und Studierzimmer des alten Herrn. Es ist eine einfache, aber geräumige Stube. Drei Fenster mit Schieberahmen geben ihr eine freundliche Helle. Vor den blanken Scheiben hängen weiße Mullgardinen, an den Wänden alte Kupfer von niederländischen Meistern. Nichts Halbes; alles gediegen und vollwertig. Eine kleine, aber gewählte Handbibliothek, klassischen und theologischen Inhalts, füllt den Raum zwischen den Fenstern. Friedlich stehen des Eutiner Schulmagisters Werke neben denen der Gebrüder Grafen von Stollberg. Annette von Droste ist da, der krause Achim von Arnim und Klemens Brentano mit seiner rührsamen und seinen Geschichte ›Vom braven Kasperl und dem schönen Annerl‹. Neben den weltlichen begrüßen uns die frommen und asketischen Bücher, so die theologischen Schriften des Jakobus Canisius aus Kalkar, Vetter des seligen Peter Canisius S. J., und des trefflichen Heinrich von Venedien Predigten, die er unter dem Titel ›Fruchtbarer Himmelstau‹ zum Beschluß seines erbaulichen Lebens edierte. Seitlich des mittleren Regals ruht ein grobbehauener Stein auf einem niedrigen Rüstwerk, ein Überbleibsel des einst prächtigen Montores, das vor vielen Jahrzehnten niedergelegt wurde. Arnt Douwermann rettete den Fund in seine stille Behausung. Als Inschrift sind die Worte eingemetzt:

»Mille et quingentos post et bis quatuor annos
Lustris quando novem des quoque lustra novem
Ante diem Cristi, peperit quo Virgo Maria,
Urbis ab Hispano tanta ruina fuit ...«

was besagt, daß an diesem furchtbaren Tage der Admiral von Aragon, Don Francesco de Mendoza, seine Bombarden und Feldschlangen spielen ließ, hierzu den spanischen Marsch über die Mauern zu trompeten und zu trommeln befahl und dem roten Gockel gebot, auf die trockenen Sparren zu fliegen. Ein Aschenregen kam über die Stadt und Brunst und Brand, und was sollst noch geschah, das erzählt das gerahmte Pergament, das über dem Stein an der Wand hängt, in lateinischer Fassung, die, ins Deutsche übertragen, also vermeldet: »Am Tage Heiligabend und im Jahre des Herrn 1598, als der Spaniol gar schrecklich wütete, begab ich mich, ich meines Namens und Zeichens Joris Douwermann, Magister der freien Künste und Urenkel des gefeierten Schnitzers, in die Sankt Nikolaikirche, um im Namen des dreieinigen Gottes meine Andacht zu verrichten und die seltenen Altarschätze in den Schutz und Schirm einer gütigen Vorsehung zu stellen. Sankt Nikolaus bat ich um freundlichen Zuspruch, Sankt Anna um Beistand und die allerseligste Mutter des Herrn um liebreiche Hilfe bei ihrem göttlichen Sohn und den Chören der Engel – als ein spanischer Reiter erschien, ein Trunken- und Raufbold, der seinen langen Schatten wie die schleichende Sünde hinter sich her schleppte. Des Schandbaren Hände streckten sich aus, griffen nach den heiligen Gefäßen, so sich im Tabernakel befanden. Schon hatte er die silberne Monstranz und die köstliche Pyxis ›pro sacro oleo infermorum‹ zwischen den Händen, als ich laut in meiner Nische zu beten anhub und also redete: ›Michael, Archangele, veni adjutorium populo Dei!‹ Dann war ich bei ihm. ›Herr,‹ schrie ich ihn an, ›so Ihr unsern Herrn Jesum Christum beraubet, seid Ihr ein Kind des Todes!‹ Er aber lachte mich aus und hielt mir sein schweres Reiterpistol entgegen, willens, mir das infame Teufelslot zwischen die Schläfen zu pulvern. Was dann geschah, ging wie eine Feuerbrunst an meinen Sinnen vorüber. Bevor er noch abdrücken konnte, hatte ich den schweren Leuchter, so seitwärts des Tabernakels aufragte, vom Tische des Herrn gerissen, ihn wie eine Keule geschwungen, herzhaft und bieder, und ihn alsdann mit dem Jubelruf ›Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes!‹ auf den Schädel des Tempelschänders geschmettert. Der Tod stand neben mir. Aber ich konnte noch lächeln und wie Franziskus Seraphikus dem Herrn lobsingen; denn ich hatte in seinem Namen gehandelt und war rein und sorglos in meinem Gewissen geblieben. Und so sah ich denn, wenn auch verstörten Sinnes, so doch freudigen Herzens, zum Gekreuzigten auf und sprach die Worte: ›Per signum sanctum crucis libera nos Deus noster!‹ und ging meines Weges. Weder Runde noch Sentinelle derlegten mir die Gasse. Andern Tages zog der Spaniol weiter rheinaufwärts. – Solches habe ich niedergeschrieben, nicht im Hinblick aus meine Tat und aus lauterm Ehrgeiz heraus, sondern zum Zeichen dessen, daß unser himmlischer Vater auch allmächtig und stark ist durch ein schwächliches und armseliges Werkzeug. Und solcherlei Art und Gesinnung bin ich, ich Joris Douwermann, Magister der freien Künste zu Kalkar und Urenkel des ruhmreichen Schnitzers. Möge der Tod mir leicht werden und der Herr mich berufen zu einer glorreichen Anschauung des ewigen Lebens.«

So das Schriftstück ... und weiter: an der freien, breiten Wand neben dem altfränkischen Sofa mit den gehäkelten Schonern und den mit bunten Perlen bestickten Schlummerrollen ziehen sich Glasschränke hin, reichlich mit ausgestopften Vögeln, ihren Nestern und Eiern bestellt; denn Arnt Douwermann ist von jeher ein großer Ornithologe gewesen, ein Mann, der das Leben in der Natur belauschte, Zwiesprache mit ihm hielt und wußte, was das Rotkehlchen bewegte, wenn es mit großen Augen und klopfendem Westchen seine anspruchslose Strophe in den laulichen Frühlingsabend hinausdämmerte. Und dort hängt so ein Rotkehlchen in einem mit frischem Tannengrün geschmückten Bauer, hat aber freien Flug und sitzt wie von Träumen umgaukelt, als vernähme es das Klingen der Eiskristalle draußen im Winterwald und das feine Knistern der Schneeflöckchen zwischen den Zweigen. Und dazu zwitschert es heimlich und leise. Und durch dieses Gezwitscher hindurch klingeln die Eiskristalle, immer schöner und heller, wirbeln die Schneeflocken, immer reicher und lustiger, wispert der Wisperwind, geigen die Heimchen am Herdfeuer ... und niemand hört es, niemand, keine menschliche Seele.

Und doch hörte es jemand. – Ein stiller und versonnener Mann, der mit seiner langen Kalkpfeife seitlich des Ofens saß und in das Schneetreiben hinaussah, vernahm es mit innigem Schmunzeln und in der Feiertagsstimmung einer geläuterten Seele. Und dieser Mann gehörte zu denen, die von sich sagen mochten: »Ich habe ein langes Leben durchlebt, abseits der großen Heerstraße, von meinem Herrn und Heiland geleitet. Tage der Arbeit und Stunden der Muße, sie reihten sich aneinander wie die Bilder in einer Zauberlaterne. Meine Gedanken und Werke waren schlicht und einfach, ohne viel Aufsehens zu machen, und dennoch waren sie wie ein Blinkfeuer, das über das Meer dahinlief. Sie schienen heiß wie die tropische Sonne und dennoch kühl wie die Winde, die von Osten kommen. In mir wohnen zwei entgegengesetzte Naturen, die sich wechselseitig befehden. Und dennoch ergänzen sie sich. Ich bin ein gerechter und milder, aber auch ein harter und unbeugsamer Richter gewesen. Ich fürchte den Tod nicht und das nicht, was nach ihm kommt. Ich lebe gern und freue mich meines Daseins. Aber werde ich abberufen, ich gehe unbefangenen Herzens und harre des Urteils.« – »Er hätte die Bibel schreiben können,« sagten die Leute ... und er sah auch so aus, als wenn er sie geschrieben hätte. Arnt Douwermann, groß und hager gewachsen, stand in der Mitte der siebziger Jahre, mit schneeweißem Scheitel und einem fließenden Bart, graulich wie die zarte Asche von einem Holzkohlenfeuer und weich wie seidenfadiges Ziegenhaar; und wenn er in sommerlichen Tagen, mit brennender Kalkpfeife, die leichte Schirmmütze etwas zur Seite gerückt, über die Äcker und Felder seiner Heimat spazierte, mit kindlichen und herrischen Augen die weite Landschaft absuchte, dann mutete er an, als wäre er für die Gegend eigens geschaffen. Er gehörte zu ihr wie die bedächtigen Windmühlen und wie die todstillen Wasser, die nur zur Frühlingsschmelze unruhig wurden und aufbegehrten, als wären sie im Fieber gewesen. Er wurzelte in ihr wie die endlosen Wiesen und Weiden und die alten Schleusenwerke, die der Stauflut geboten: »Bis hier und nicht weiter,« und dadurch das Binnenland vor der Versandung bewahrten. – Und so waren die Jahre gekommen und die Jahre gegangen. Aus dem jungen Magister war ein alter geworden und aus dem alten einer von denen, die ihr Amt niedergelegt hatten, um nach wohlverbrachtem Sorgen und Schaffen sich allmählich in die weißen Kissen zu drücken und der ewigen Anschauung Gottes teilhaftig zu werden. Und so saß er denn in seinem bequemen Binsensessel, blies zierliche Ringel zur Decke und sah in das Schneetreiben hinaus, das immer emsiger und flockiger niederkräuselte und alles Leben mit einem wohligen Weltvergessen bedeckte.

Aus dem gartenwärts gelegenen Nebenraum klang zuweilen ein Raspeln und Feilen und das näselnde Geräusch eines Schnitzmessers herüber. Dazu plauderten die Buchenkloben behaglich ins Zimmer hinein, lichte Fünkchen knisterten nieder, und das Rotkehlchen sang erneut seine anspruchslose, vernebelte Strophe – ganz fern, wie über den Wald fort, wie aus einem zarten und duftigen Musselinschleier heraus. So ein Rotkehlchen – so ein armseliges, so ein kleines, verträumtes! – und als es sang, da kam dem einsamen Mann die Jugendzeit wieder, und er schritt als junger Magister über den Paternosterdeich und ging zu den Stauwerken und weiter landeinwärts, wo der Schleusenmeister Grades opter Heyden an einem kleinen, mit Schilf und Erlen umstandenen Binnensee wohnte. Aber unter den roten Ziegeln, da wohnte auch sie, sie, die einzige Tochter des weltfremden Mannes, der mit dem gespenstischen Deichreiter auf du und du stand und die lautlosen Schreie der Dämme hörte, wenn sie in Not waren. Er sprach nur selten; aber wenn er es tat, dann rollte seine Stimme wie die Sturmglocke auf dem städtischen Rathaus. Das war meistens in den Hochwasserzeiten, und dann ging Grades opter Heyden in Südwester und Ölrock einher und lachte in die gelbe Stauflut hinein und legte ihr die Kette zwischen die grimmigen Zähne – und bändigte sie und peitschte sie wie heulende Wölfe über die Deiche zurück. So war das schon vierzehn Jahre gegangen, und neben ihm wuchs seine Tochter heran. Deren Schritt ähnelte dem der Nonnen, und ihr Leib war weiß und rein wie die Hostie in der Hand eines Priesters. Der junge Magister und die schöne Maria opter Heyden kannten sich und kannten sich doch nicht. Sie gingen aneinander vorüber wie Haß und Liebe, wie Frost und Flamme. Dennoch begegneten sie sich nachts im Traum, und dann war es ihnen, als wenn der Duft von blauen Glyzinen über sie herfiele. – Es war Juni geworden. Aber den Wiesen und dem stillen Wasser, auf dem jetzt die Teichrosen blühten und an dessen Rand die Schwertlilien ihre gelben Lichter aufgesteckt hatten, breitete sich ein Sommerabend von unendlicher Klarheit. Von den immensen Grasflächen kam das Dengeln und das einförmige Sirren der Sensen herüber. Da lag er am Ufer zwischen Erlen und Wasserhanf und sah über den blanken Spiegel hin und verfolgte die zierlichen Jungfern, die gleich stahlblauen Nadeln den weichen Abend durchstießen. Es war eine Sabbatstille ringsum wie am Tage des Herrn ... und durch diese Sabbatstille hindurch ... ein Plätschern und seliges Rauschen ... Dann sah er. Bei Gott, er wollte nicht sehen! Es war nicht seine Schuld, daß er in Gottes Himmelreich schaute, in seine Wunder hinein und in alles, was sein war. Maria opter Heyden – da stand sie zwischen Seerosen und hängenden Zweigen – nur für eine Gedankenspanne, kaum daß das Herz dreimal zu schlagen vermochte, um dann lautlos zu schwinden. Ein blutroter Nebel bedeckte ihn, ein Branden und Brausen ging über ihn fort. Er hatte gesehen. »Küsse mich!« schrie seine Seele, und seine Schläfen hämmerten gegen den feuchtwarmen Boden, als wollten sie springen. Lavaströme hüllten ihn ein ... und doch war der Abend so laulich und weich wie die fernen Stimmen der Sensen, die langsam erstarben.

Drei Tage später lag er vor ihr auf den Knien. – »Du!« sagte sie mit aufgerissenen Augen. »Du hast mich gesehen?« – »Wie ich dir sagte,« schluchzte er heftig. Feuer fiel über ihn her. Sie war totenbleich geworden. Ihre Hände streckten sich abwehrend aus. »Barmherziger Gott! – dann, dann ...« Sein Blick suchte flehend den ihren, »Heilige,« schrie er auf und war in die Höhe gefahren, »du und ich, wir gehören zusammen!«– »Nein, nein!« – Sie suchte sich aus seinen Armen zu winden, sie stieß ihn zurück, um ihn dann an sich zu ziehen und ihren heißen Mund auf den seinen zu heften. Sie küßte ihn nicht, sie biß und trank seine Liebe. Ein roter Tropfen fiel von seinen Lippen herunter.

»Nimm mich, nimm mich; aber das weiß ich: ich gehe an deiner Liebe zugrunde!«

Wie das Rotkehlchen sang! – In dem kleinen Magisterhause wohnte das Glück, lebte die Freude, nahmen sich die Tage bei der Hand wie spielende Kinder auf einer Frühlingswiese. Nie war der Magister so versonnen und gütig, nie sein junges Weib so in sich gekehrt und blühend gewesen. So vergingen fünf Jahre. Er fühlte sich wohl in seinem Lehrerberuf, schrieb nebenher Abhandlungen über die niederrheinische Geschichte, auch solche pädagogischen Inhalts, und beobachtete das Vogelleben in seiner engeren Heimat. Und da eines Tages ... er hätte sein Glück in die Welt hinausschreien mögen. Seligen Auges und doch stammelnden Mundes hatte sie ihm eine stille Botschaft verkündet. So ein jubelnder Liebesfrühling war in ihr und doch ein Winter, der alle Blüten erfrieren machte. – »Meine Maria!« – Im Klang seiner Stimme barg sich eine sorgliche Wärme. Sie aber ging hin und kehrte ihr Bild, das über dem Schreibtisch ihres Mannes hing, auf die andere Seite. »Später, wenn es so weit ist,« sagte sie ruhig, »dann richte es wieder; stecke aber eine weiße Rose daran und lasse eine Wachskerze drei Tage brennen; denn ich kann mir nicht helfen: so schön es auch war, ich gehe an deiner Liebe zugrunde.«

Wie das Rotkehlchen sang! – und wiederum waren lange Monde verflossen. Das Gras auf den Wiesen stand in Schobern, die Sensen legten das Getreide zu Boden, die Scheuern füllten sich, und das ›Tocktock‹ der Dreschflegel ging wie der Ruf von hölzernen Glocken über die weite Niederung. Da geschah es ... Es war um die Zeit, wo die Kälte an den Fenstern ihr Spitzenwerk klöppelte und die dicksten Buchenklötze ins Feuer hineinschob, da sollte ihre bange Ahnung zur Wirklichkeit werden. Noch einmal sah sie ihn an, um gleich darauf ihr fieberheißes Haupt rücklings zu werfen. Er lauschte auf jede ihrer Bewegungen, bis er todmüde einschlief. Ihre Stunde kam. Mitten in der Nacht weckte man ihn. Die Wärterin glitt unhörbar hin und her. Im Zimmer roch es nach Seife und lauem Wasser. Ein kleines Wesen beschrie die Wände. Des Kindes hatte er nicht acht. Was sollte das Kind ihm? Aber sein Weib, seine angebetete Frau ... sie röchelte leise und sagte: »Den Trauring mußt du mir lassen. Ich möchte ihn mitnehmen.« – Kurz nachher erfüllte er ihren letzten Willen, drehte ihr Bild wieder auf die andere Seite, steckte eine weiße Papierrose zwischen Glas und Rahmen und ließ eine bleiche Wachskerze drei Tage lang brennen. Das Licht kohlte mit langer Schnuppe. Als er vom Friedhof zurückkehrte, schlug er die Hände zusammen, löschte die Kerze und weinte bitterlich. Anfangs wußte er nicht, ob es Tag oder Nacht war. Er ging wie durch ein endloses Heideland; seine Hände tasteten sich durch greifbares Dunkel. Keine Hoffnung, kein erlösender Lichtstrahl! Die Menschen sprachen ihm zu; aber er hörte ihre Stimme nicht mehr. Die Welt tat ihre Wunder aus; aber er schob diese Wunder beiseite, als seien es die nutzlosen und flatterhaften Künste eines Taschenspielers gewesen. Er war von grauen Gestalten umgeben. Die Schatten des Todes senkten sich über sein betrogenes Dasein. Die Auferstehung wollte nicht kommen. Er tat seine Arbeit mehr als sonst und lebte seinem Berufe in mustergültiger Weise, aber nur aus Pflichtgefühl, nicht aus innerer Freude heraus, und so war es ihm denn, als zöge er in einem endlosen Zuge von bedrückten Pilgern, die ihr Ziel verfehlt hatten und nun haltlos, gleichgültig, von Gott und den Menschen verlassen, in die Irre hineingingen. – Eines Tages jedoch, als das Abendrot feierlicher denn sonst in sein Arbeitszimmer hineinspielte, wähnte er, das schlichte Bild der Verstorbenen sei lebendig geworden. Weißgekleidet trat sie aus dem Rahmen heraus, und wie im Märchen zeigte sie auf ein Tränenkrüglein, das nahe daran war, überzulaufen. Ein heller Schein erfüllte die Stube, der an Innigkeit zunahm und ihm die Augen blendete. Er mußte sie schließen vor der Überfülle des Glanzes. Als er sie von neuem öffnete, glaubte er, eine Offenbarung zu haben. Sein Weib stand neben ihm, nur jünger und eben im Entfalten begriffen. Es war seine Tochter Johanna ... und seit dieser Stunde war ihm das Leben wiedergegeben, war er wieder der Alte von früher, der Seher und Sucher und der Mann, der es verstand, sein Schaffen und Ringen nach seinem Willen und mit schönen, feiertägigen Händen zu formen. Klar wie Brunnenwasser strömte ihm der Odem Gottes zu, kam ihm die Luft der Freiheit wie aus einem blühenden Garten entgegen, und sein Dasein war köstlich. Dann war er in die Jahre gekommen. Lichter Rauhreif umglitzerte ihn, und hinter den stillen Bäumen, die seinen irdischen Acker begrenzten, lächelte das Antlitz eines seligen Abends. Da legte er sein Amt in jüngere Hände und wartete auf den Stern über dem Walde. Hinter jenem Stern wohnte sie. Nur zwei Wünsche hatte er noch. Seine Tochter glücklich zu sehen und sich mit seinem Weibe für immer vereinigt zu wissen.

Wie das Rotkehlchen sang! Und wie zierlich die Rauchwölkchen der Kalkpfeife zur Decke kräuselten! Arnt Douwermann folgte dem allem mit sinnigem Schmunzeln, sah die Schneeflocken wirbeln und hörte auf das Glumsen und Glosen der Buchenscheite, die immer emsiger ihre lichten Funken verspritzten. Aber er hörte und sah nicht, wie leise die Tür sich drehte und eine hagere Frauensperson unauffällig in die Stube trat – eine Frauensperson, wie sie die alten Niederländer zu malen pflegten: das wächserne Gesicht von einem enganliegenden Spitzenhäubchen umrahmt, schwarzgekleidet und mit wispernden Ohrgehängen. Als Tochter eines Deichwärters war sie mit der jungen Frau ins Haus gekommen, hatte mit den Eheleuten Freud und Leid gemeinsam getragen, hatte Sterbelaken und Kissen gerichtet und dann als treue Sorgerin das Herdfeuer in dem verwaisten Anwesen gehütet. Wo sich Tränen fanden, nahm sie diese Tränen hinweg, wo Rat vonnöten war, gab sie ihn mit Liebe und Umsicht, und wollte das Sonnenlicht in die Stube herein, dann fältelte sie die Gardinen sacht auseinander, um dem warmen, wohligen Strahl den Eintritt leichter zu machen. Schultern und Arme in einen Umhang gehüllt und die bleichen Hände sorglich darin verwickelt, trat sie auf leisen Zehenspitzen näher.

»Herr Douwermann,« sagte sie mit ihrer stillen und angenehmen Stimme, »der junge Lehrer fragte soeben an, ob er vorsprechen dürfe.«

Der Alte fuhr aus seinem Sinnen und Träumen auf.

»Herr Vogels ist mir immer willkommen.«

»Hab's schon in Bestellung gegeben,« meinte die Jungfer, wickelte die Hände aus ihrer Umhüllung und legte die schmalen Finger spielend zusammen, »Herr Douwermann,« fuhr sie in ihrer abgeklärten Ruhe fort, »Mynheer Bollig ist bei mir gewesen. Von dem hörte ich: sie haben den Altar zu den Sieben Schmerzen Mariä besichtigt.«

»Ich weiß es.«

»Aber das wissen Sie nicht,« ergänzte sie mit erhobener Stimme, »auch Franz Türlütt und Herr von Klotz sind in der Kirche gewesen.«

»Auch das ist mir bekannt,« sagte der Insichgekehrte und blies neue Wölkchen zur Decke.

»So! – und Sie nicht?« fragte sie lauernd.

»Herr von Klotz ist Kirchenrendant und Herr Türlütt Präsident der Bruderschaft Unserer Lieben Frau. Das muß man berücksichtigen. Lediglich in dieser Eigenschaft wurden die beiden geladen.«

»Mir ganz engal,« versetzte die Jungfer, und ihre stahlgrauen Augen gerieten in ein herrisches Leuchten. »Herr Türlütt ist allzeit mit seinen Ideen im Punschglas und Herr von Klotz mit den seinen bei dem entsetzlichen Fraumensch mit der roten Turnüre. Was verstehen die beiden von den Sieben Schmerzen Mariä? Sie aber, Herr Douwermann ... Sie sind doch gewissermaßen der Vater von's Ganze gewesen.«

»Der Dechant weiß, was er tut. Sorgen wir nicht. Er wird seine Gründe haben. Greifen wir daher nicht vor. Auch an uns kommt die Reihe.«

»Wenn's man wahr ist,« gab sie heftig zurück und warf dabei den Kopf in den Nacken, daß ihre langen Ohrgehänge wie Zwitschermäuschen sirrten und sangen. »Herr Douwermann, ich hab' so meine eigenen Gedanken. Mir ganz engal, wie Sie darüber befinden; aber ich kann die beiden Schleicher nun einmal nicht leiden. Besonders den mit dem grindigen Kopf und den fidelen Manschetten. Der mengeliert sich in jedes hinein, weiß alles besser und gönnt seinem Nachbar nicht das Schwarze unterm Nagel. Der Mann hat mir niemals gefallen. Niemals, Herr Douwermann.«

Ihre Ohrgehänge klingelten aufs neue, aber schärfer und nachhaltiger. Es lag eine gewisse Dosis von Mißmut in dem harten Geklingel.

»Wo soll ich das hintun?« fragte der Alte, etwas aus seiner Fassung gekommen.

»Wohin Sie wollen, Herr Douwermann. Man muß nur Beobachtung halten.«

»Der Mann ist ein Sonderling, ein Schwärmer, einer von denen, die in der Vergangenheit leben und den heutigen Tag nicht mehr finden.«

»Wenn auch; aber ich sage, er betreibt noch andere Sachen; denn wenn er so an unserm Hause vorbeikommt, den Kopf reckt und in unsere Fenster hineinkuckt, dann ist es mir immer, als wenn er uns 'ne richtig vollgemessene Portion Unglück auf den Hals wünschen täte.«

»Das sind Grillen, Therese.«

»Grillen, Herr Douwermann, wo ich das tagtäglich in der Beurteilung habe und mir jedesmal 'ne richtige Gänsehaut über den Rücken herabkriecht?! Nein, Herr Douwermann« – und sie streckte die Hand aus, um sie gleich wieder unter den warmen Umschlag zu ziehen – »dafür habe ich denn doch zu lange auf Posten gestanden, dafür habe ich denn doch meine zwei sehenden Augen im Kopfe und kann taxieren, was der Mensch mit der entsetzlichen Mamsell immer herumsimuliert. Das Frauenmensch soll ja längst nicht mehr leben, sagen die Leute; aber er empfängt sie noch manchmal als Tote, und das verstößt doch gegen unsern heiligen Glauben und die christkatholische Kirche.«

»Was die Leute reden, ist Unsinn.«

»Wohl wahr, Herr Douwermann; aber man kann immer nicht wissen ... Unser lieber Herrgott hat schon 'n nettes Quantum rarer Kostgänger auf einem Hümpel zusammen. Besonders den einen. Warum gibt er denn alljährlich sein Punschbowlenfest, macht bengalische Beleuchtung mit Rot und tut so, als wenn die Revoluzer mit den ekligen Mützen noch heutzutage ihre Berechtigung hätten?«

»Was ich soeben schon sagte: das sind halt seine fixen Ideen. Jeder Mensch hat nun mal seinen eigenen Sparren. Man muß sich damit abfinden, Therese.«

»Mir ganz engal,« trumpfte sie auf, »unheimlich bleibt es auf alle Fälle, Herr Douwermann. Und so was bekümmert sich um den Altar zu den Sieben Schmerzen Mariä, und so was reckt immer den Hals und vigiliert mißgünstig in unsere Fenster hinein, und so was hat 'nen Sohn, den André, in die Welt gesetzt, dem ich noch weniger traue; denn wenn er sich hier auf Urlaub befindet, dann ist mir immer so, als wenn ich seinen Schatten fortwischen müßte.«

Der alte Herr merkte auf.

»Wie kommen Sie jetzt zu einer solchen Behauptung?« fragte er unwillig.

»Weil es endlich heraus muß. Weil ich endlich Luft haben möchte. So geht das nicht weiter. Nein, auch für den jungen von Klotz kann ich so recht keine Estimierung besitzen.«

»Eine vage Vermutung! Der junge Herr stellt etwas vor in der Welt, ist Privatdozent, hat sich einen Namen gemacht, und daher kann ich den Stolz des Vaters vollauf begreifen. Auch die andern Leute im hiesigen Kirchspiel haben ihn nur von der guten Seite kennen gelernt. Allen Respekt vor seinem Talent, vor seinem Können und Wissen. Selbst der Herr Dechant...«

»Soll mir engal sein,« bestätigte Therese und drehte sich fester in den molligen Umhang, als wenn sie fröre. »Ich weiß, was ich weiß; denn immer so'n infamer Finger tuppt mir in den Nacken hinein, und immer so 'ne infame Stimme ist bei mir... Herr Douwermann« – und ihre stahlgrauen Augen stachen wie Nadeln – »der junge Mensch rasiert uns noch das Glück aus dem Hause.«

Die Worte rissen den Überraschten vom Stuhl auf.

»Aber Therese!«

Sie reckte sich hoch: »Herr Douwermann, auf Leben und Sterben! Sie sollen sehen: er und Johanna.«

»Was?! – meine Tochter...?!«

Sie kniff die Lippen zusammen.

»Was sie ist, nicht rühr an die Sache; aber was er ist...«

Der Alte atmete tief auf.

»Das wollte ich mir auch ausgebeten haben, Therese.«

Dann warf er den Kopf herum.

»Herein!«

»Bitte, Herr Vogels!« sagte die Jungfer. »Dem Herrn Douwermann wird's angenehm sein.« Mit diesen Worten begrüßte sie einen schlankgewachsenen Mann mit einem glattrasierten, ausdrucksvollen Gesicht, in dem die Augen selbstherrlich ruhten, still und abgeklärt und von einer sanften Güte durchleuchtet. Stock, Hut und Mantel hatte er draußen gelassen.

Eine erquickliche Wärme floß ihm aus dem behaglichen Zimmer entgegen, und warm strahlte es aus dem Antlitz des alten Herrn, als er seinen jungen Kollegen gewahrte.

»Ich komme doch nicht unpaß, Herr Douwermann?«

»I Gott bewahre! – aber ich bitte Sie, woraus wollen Sie das schließen?«

»Herr Douwermann, ich bemerke eine gewisse Erregung bei Ihnen ... Auch Fräulein Therese ... und da habe ich das unbestimmte Gefühl: ich bin ungelegen gekommen.«

»Keineswegs,« versetzte der Alte und legte die Kalkpfeife beiseite, »aber offen gestanden: zwischen Therese und mir haben sich zurzeit kleine Differenzen entwickelt.«

»Wohl wahr,« bestätigte sie mit energischem Kopfnicken, »und daß ich's man sage, Herr Vogels, man kann nicht immer seine schweren Gedanken haben und in 'ner Todesnot sitzen. So was kann man Tage ertragen, meinetwegen auch Wochen und Monate; aber dann hat's ein Ende, und bei mir hat's ein Ende genommen. Ich weiß nicht, Herr Vogels, ob Sie sich noch des verflossenen Sommers erinnern, wo die Wiesen 'nen dritten Schnitt hatten und die Bauern ihre Weizenernte nur so hineinscheffeln konnten? Da waren die Nächte heiß und voll Sternengefunkel; und solche Nächte sind nicht gut für die Menschen. Sie machen erregtes Blut und verkehren die Sinne ... und in solchen Nächten ist er immer an diesem Hause vorübergegangen.«

»Ich weiß nicht, worauf Sie hinaus wollen, Fräulein Therese,« sagte er ruhig.

»Ach, du himmlische Güte! – diese Unschuld vom Lande! Was die Ameisen betreiben und die alten Götter für Liebschaften hatten – das wissen die Herren, auch das, wie sie die Kinder belernen, um sie mit 'nem richtigen patriotischen Awek zu beglücken; aber das andre, ich meine, wie das Leben wirklich ist, und wie da so viele sind, die sich heimlicherweise bemühen, das Zufuhrwasser des Nächsten auf die eigene Mühle zu graben, mit dieser Erkenntnis sind sie meistens nur schwächlich behaftet.«

Der junge Lehrer schmunzelte.

»Ich verstehe noch immer nicht, Fräulein Therese.«

»Dann muß ich fester einkacheln,« sagte sie heftig, und ihre Ohrgehänge zwitscherten wieder, aber nicht so, wie es die Feldmäuschen tun, sondern wie die bissigen Hamster es machen, wenn sie an laulichen Sommerabenden vor ihren Röhren sitzen und den Gegner erwarten. »Der junge Mann, der im verflossenen Sommer an unsern Fenstern vorbeiging, ist der nämliche, von dem ich vorhin schon sagte: Er rasiert uns noch das Glück aus dem Hause.«

»Auf wen zielen Sie?« fragte Dirk Vogels. Seine Stimme war fahrig geworden.

»Auf keinen andern als auf den jungen von Klotz.«

»Aber Fräulein Therese!«

»Und nun,« legte sich Arnt Douwermann erklärend ins Mittel, »ist sie auf die seltsame Ansicht verfallen, ihn mit meiner Tochter in Verbindung zu bringen.«

»'ne Ansicht, die ich auch vollauf vertrete,« gab sie lebhaft zurück, »denn nur um unsere Rabatten zu betrachten und die Feuerbohnen als rare Gewächse anzusprechen, aus diesem Grunde allein ist er nicht Abend für Abend und Nacht für Nacht um die Wohnung geschlichen – damals im Juli. Ich bin nicht so ohne. Man hat auch das Seine gelernt und ist klug mit den Jahren geworden. Und da am Nußbaum hat er gestanden und förmlich Löcher in die Gardinen hineingebohrt, hinter denen sich der Schatten von Fräulein Johanna bewegte.«

»Und das wissen Sie ganz bestimmt?« fragte der junge Lehrer.

»Ganz bestimmt,« sagte sie ruhig.

»Fräulein Therese, darf ich mir gestatten, ein Bedenken zu äußern?«

»Ich bitte.«

»Warum griffen Sie nicht ein, als Sie dieses beobachten konnten?«

»Ich wollte kein Aufheben machen und dachte, die Sache wird sich schon geben. Aber gibt sich die Sache? Im Gegenteil, sie zieht ein schiefes Gesicht und ist auf dem Rollweg. Man muß seine Leute kennen. Der eine ist so, und der zweite ist anders geartet, und der junge Baron ist einer von denen, die sich nicht mit Kleinigkeiten begnügen. Der macht rechtschaffene Arbeit; nur fragt es sich dabei, wer den Schaden und wer den Profit hat. Jedenfalls wir nicht, und Fräulein Johanna erst recht nicht. Von Ihnen will ich gar nicht mal reden, Herr Vogels. In jetziger Zeit, wo es heißt, er ist wieder auf der Achse und kann täglich antreten, da soll man nicht auf den Ohren sitzen und sich nicht die Augen verkleistern. Die Erzählung von der Schwalbe und dem alten Tobias ist zwar sehr pläsierlich und erbaulich geschrieben; aber sie paßt nicht mehr für die heutigen Tage; denn die Engel des Herrn sind rar geworden auf dieser Erde. Man muß sich auf sich selber verlassen, Herr Vogels, sonst ... die Geschichte von David und der schönen Bathseba könnte sich aufs frische begeben, und dann wäre so'n Skandal noch nicht unter den hiesigen Pfannen gewesen.«

Dirk Vogels verfärbte sich. Ein Rucken und Zucken ging durch seine Gestalt. Benommen trat er ans Fenster und ließ sich dort nieder. Mit einem wehen Gefühl sah er in die weiße Landschaft hinaus. Soeben noch war sie ihm köstlich erschienen, mit feinen Brabanter Spitzen umkleidet, und jetzt sah er nur ein einziges Leichentuch, ein kaltes Bild des Vergehens und Sterbens.

Es war lautlos und unbehaglich in dem geräumigen Zimmer geworden. Nur die Standuhr tickte wie immer, und mit zartem Knistern rieselten die Schneekristalle an den Fensterscheiben herunter. Eisigkalt lag es auf den Giebeln und Dächern, und die Rauchfähnlein, die über den Schornsteinen standen, froren beim Aufstieg und legten sich matt auf die Seite.

Ebenso fröstelte die Seele Dirk Vogels. Plötzlich riß er sich auf und tat so, als ob er zu sprechen gedächte.

»Halt!« sagte der Alte und drückte ihn sacht in den Lehnstuhl zurück. »Mir ist noch grau vor den Augen, und das Wort ist mir auf der Zunge schrumpflich geworden. Ich möchte nicht reden und bin dennoch gezwungen dazu; denn eine steht vor mir, die hat den Ärmel gekrempelt und ist willens, den Stein, den sie vom Boden gerafft, auf den Nächsten zu werfen.«

»Wenn Sie mich damit meinen, Herr Douwermann,« versetzte die Schaffnerin mit knochenharter Stimme, »so kann ich nur sagen: Sie haben ins Schwarze getroffen; denn es ist immer schon besser, man schlägt den roten Hahn tot, bevor er sich auf die Sparren gesetzt hat.«

Dabei warf sie den Kopf so energisch zurück, daß ihre Ohrgehänge sprangen und hüpften.

»Da muß eingegriffen werden, ehe es zu spät ist.«

Arnt Douwermann hörte das alles und wollte nicht hören.

Gewaltsam drückte er seine innere Erregung zu Boden und setzte den Fuß drauf, wie man einem giftigen Reptil Kopf und Nacken zertritt.

»Therese,« sagte er alsdann mit erkünstelter Selbstbeherrschung und suchte dabei in ein bequemes Wasser zu kommen, »ja, Therese, Sie sind mir und meinem Hause stets eine gute Sachwalterin in allen Lebenslagen gewesen, in Freude und Fröhlichsein, in heiligen und unheiligen Dingen; auch dann, wenn die Trauer auf der Türschwelle saß und bitterlich weinte. Und das danke ich Ihnen. Aber ich will nicht« – und seine Stimme flackerte hoch – »daß Sie den Richter hier spielen. Das ist Ihres Amtes nicht, Jungfer Therese.«

»Mynheer ...!«

»Lassen Sie mich aussprechen, Therese! Gewiß, die Herren von Klotz sind aus einem andern Leder geschnitten wie unsereins, und ich kann nicht gerade behaupten, daß sie mir besonders sympathisch erscheinen; aber so eine kleine Stadt hat ihre eigentümlichen Gewohnheiten und Lebensbedingungen, und diese kitten zusammen. Da ist jeder dem andern verpflichtet, sonst reißt alles mit Strunk und Stiel auseinander und der Gemeinschaft der Seelen wird die Totenglocke geläutet. Man hat sich eben in die Verhältnisse zu schicken, sie hinzunehmen, wie sie nun einmal liegen. Man kann nicht über sie fort, wenn man auch möchte. Auch trotz seiner Schwächen hat man den Menschen zu achten, ist er sonst ehrlich und rechtlichen Herzens. Kleine Unarten nimmt man hin, um den Frieden zu wahren. So hab' ich's allzeit gehalten und gedenke in diesem Sinne auch weiter zu leben. Da habt Ihr's. Mag der Kirchenrendant in unsere Fenster hineinvigilieren. Was schadet's? Mag der junge Baron nur immerhin unsere Rabatten und Feuerbohnen bewundern. Sie werden nicht schlechter dadurch und verdorren nicht unter seinen gierigen Blicken ... und was Johanna betreibt, das ist schon auf rechtschaffenem Grund und Boden gewachsen. Ihm und ihr kann ich nicht die Augen verbinden, kann nicht den Aufpasser machen und auf jeden Klingelzug achten. Johanna ist wie ein blankes Wasser. Ich sehe bis auf den Grund ihrer Seele und bange nicht um sie. Aber wenn einer es wagen sollte, mir diesen Spiegel zu trüben ...« Arnt Douwermann suchte nach Atem; seine Brust ging schwer.

»Therese, bis dahin soll man nicht die Ehre des Nächsten zerbrechen, noch ihr Gewalt antun; denn wenn man so redet, dann ist es mir so, als stünde der Tod vor der Haustür, gewillt, über die Schwelle zu treten. Aber ich rufe nicht ›Entree‹! Ich tu' ihm den Gefallen nicht. Ich will nicht. Ich will Eintracht im Hause haben und Frieden und Freude. Das merkt Euch.«

Er machte eine große Handbewegung, und das Gesicht des sonst so stillen und versonnenen Mannes flammte auf, als wäre ein tiefes Abendrot darauf haften geblieben.

»Wie Sie meinen, Herr Douwermann,« sagte Therese, zog ihr Umschlagtuch enger zusammen und verließ klingelnd das Zimmer.


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