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12

Daß es dahin kommen mußte, war schmerzlich gewesen und hatte die Gemüter auf geraume Zeit hinaus unliebsam durcheinander gerüttelt. Was man bezweckte, um in launiger Weise auf die Wunderlichkeiten des Alten einzugehen und hierdurch die Eintracht und den Frieden in der kleinen Gemeinde zu fördern, das war alles durch die herrische Herausforderung des Doktors in die Binsen gegangen. Höchstens – der überreichlich von ihm eingenommene Alkohol, in Gestalt von Punsch und Burgunder, konnte entschuldigen, und trotzdem war noch so viel des Unverantwortlichen übrig geblieben, um die ganze Handlungsweise des jungen Menschen doppelt und dreifach verächtlich zu machen. Daß er selber dies fühlte, war anzunehmen; denn keine vierundzwanzig Stunden später hatte er bereits seine Zelte abgebrochen und war wieder rheinaufwärts gefahren.

Den alten Herrn nahm man noch hin, wenn man sich auch gelobte, das letzte Revolutionsfest bei ihm gefeiert zu haben; aber mit dem Kunsthistoriker, mit André von Klotz, war man ein für allemal fertig geworden, und als eines Tages Petrikettenfeier ten Hompel und Dirk Vogels bei Arnt Douwermann vorsprachen, sagte der Dechant: »Warum sich ärgern? Es fruchtet nimmer und bringt nur vergrämte Gemüter. Ich habe heute in den Sprüchen Salomonis geblättert und mich erfreut an der Weisheit eines Jesus Sirach. Irgendwo las ich: Ein Mensch, der vom Wege der Klugheit irret, der bleibt ewiglich in der Toten Gemeine. Und ferner: Und siehe, da begegnete ihm ein Weib mit üppigem Schmuck, listig, wild und unbändig, und sprach zu ihm: Komm, laß uns buhlen bis an den Morgen und laß uns der Liebe pflegen! Und er folgte ihr nach, wie ein Ochs zur Fleischbank geführt wird, und wie zur Fessel, da man die Narren mit züchtigt. Das ist es, was ich zu sagen habe über den Mann, der es wagte, ein jungfräuliches und reines Weib zu betasten.«

Arnt Douwermann nickte.

»Hochwürden, das ist mir aus der Seele gesprochen; denn ich sagte mir selber: Bis dahin und nicht weiter. Dem Augenblick wurde Rechnung getragen. Ein Mehr wäre vom Übel gewesen. Sollte die Zukunft stärkere Maßnahmen verlangen, dann ist es immer noch Zeit, sie durch Wort und Tat in Anwendung zu bringen. Vorderhand ist Warten geboten.«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung, mein lieber Herr Douwermann,« versetzte der Dechant, »denn es steht ferner geschrieben: Ein weiser Mann schweigt, bis er seine Zeit erstehet; aber ein jäher Mann kann die Zeit nicht erharren ... und was den Rendanten angeht, mögen wir uns mit den Worten trösten: Des Toren Herz ist wie ein Rad am Wagen, und seine Gedanken laufen um wie die Nabe. Mögen sie laufen! Sie machen die Welt nicht besser und schlechter; denn sie bringen kein Unheil...« und damit gingen die Herren still auseinander.

Nur das Gemüt Dirk Vogels' blieb voll Groll und Bitternis. Wie unter einer wuchtigen Marter fuhr er zusammen.

»Ruhe, nur Ruhe,« sagte er grimmig in sich hinein und suchte das Kirchenarchiv auf, um in seinen Regesten und Akten die ersehnte Ruhe zu finden. –

Etliche Tage nach dem verhängnisvollen Punsch- und Revolutionsabend drehte sich Charlotte Corday in ihren Seelenwärmer hinein und preßte ihre Patschhand auf ihren stürmischen Busen.

Sie war nicht mehr die Alte von früher. Ihre Fixigkeit hatte nachgelassen, an Stelle des Leuchtenden in ihren Maronenaugen war eine getragene Wehmut, ein verdrücktes Zweifeln getreten. Gründe fehlten hierfür; nur ein dunkles, vages Empfinden, über dessen Herkunft sie sich keine bestimmte Erklärung zu geben vermochte, hatte sich ganz unvermittelt unter ihr weitläufiges Mieder geschlichen. Es war alles so seltsam, so ganz anders geworden.

Seit dem festlichen Abend hatte sie Herrn Remmelmann nicht mehr gesehen, war ihr dieser scheu und offenkundig aus dem Wege gegangen. Gewiß, früher wäre das nicht weiter aufgefallen; unter den jetzigen Umständen aber gab es zu denken. Irgendetwas stimmte nicht in ihrer Berechnung. Da war irgendein Häkchen ober gar ein Haken verborgen, und so entschloß sie sich, ihr bittersüßes Geheimnis mehr oder weniger preiszugeben, bei Therese vorzusprechen und sich deren Erfahrungen anzueignen; denn Therese erfreute sich in dieser Beziehung eines begründeten Rufes, war kundig wie Salomo und hatte in vielen kitzeligen Angelegenheiten schon manchen gordischen Knoten nicht schnurstracks durchhauen, sondern in feinster und sauberster Weise gelöst und entwirret.

In zierlichen Schnörkeln und Winkelzügen trat sie an die Herzenskundige heran, lotete sich wie eine vorsichtige Brigg allgemach vor, kreuzte auf, um schließlich mit vollen Segeln auf ihr Ziel loszusteuern und Anker zu werfen. Hinter ihr lag eine haushohe Dünung, um sie ein friedliches Wasser, und getrostes Mutes konnte sie ausfrachten und ihre schwerbeladenen Planten erleichtern. Das tat sie denn auch, und nach viertelstündiger Arbeit war Therese im klaren.

»Hm!« meinte diese nach einigem Nachdenken.

»Und Ihre Ansicht?« fragte Stina in großer Erwartung.

»In diesem Falle, nur ja kein langes Besinnen,« sagte Therese. »Wenn man ein Plätteisen angefaßt hat, muß man auch bügeln, sonst geht die feinste Wäsche koppheister. Brautschaft liegt vor; aber Herr Remmelmann ist einer mit Ärmels. Der ist wie seine Angorakarnickels und in gewisser Hinsicht noch schlimmer als der junge von Klotz. Überhaupt keine Moral nicht. Solche Kerle gehen über 'ne Jungfernschaft fort wie 'ne Sense über 'ne blumige Wiese. Ich kenne das, Stina. heute hier und morgen auf 'ne andere Stelle. Und besonders das mit die Apothekenbesitzers! Da sieht man – also richtig in die Arme genommen?«

»Am es denn einfach zu sagen: Gott ja!« meinte Stina.

»Und das sogar Bluse an Weste?«

»Auch das,« nickte die Ärmste.

»Unglaublich! auch so 'n bißchen Enkörchen ist bei der Sache mit untergelaufen? Selbstverständlich, nur so 'n ganz kleines bißchen.«

»Wenn es denn sein muß,« wispelte Stina, »ja, so 'n ganz kleines bißchen. Aber das ist auch alles gewesen.«

»Und dann, Stina ... Seien Sie aufrichtig, Stina, sonst kann ich den richtigen Ratschlag nicht geben: hat er Sie nicht auch in 'ne Ecke gedrängelt, in so 'ne ganz kleine, verschwiegene Ecke?«

»Schon möglich; aber um es einfach zu sagen, es ist vielmehr 'n regelrechter Lehnstuhl gewesen.«

»Um so schlimmer,« konstatierte die Herzenskundige in tiefster Entrüstung, »und da gibt es nichts weiter: Sie muß persönlich vorstellig werden. Aber sofort, ohne Ansehn der Person und direkt ins ›Einhorn‹ hinein.«

»Wenn Sie denn meint ...«

»Aber natürlich, direkt ins Kontörchen, Auge um Auge und Wort gegen Wort, und wenn alles nicht hilft, muß der alte Baron und der Herr Dechant dahinter. Besonders empfehle ich Ihnen Seine Hochwürden; der kann Berge versetzen und wird den richtigen Turnus schon finden. Nein, diese Apothekers! und extra ausgerechnet der Ihre. Hals muß er geben. Das wäre noch schöner, erst den Schmand vom Milchrahm zu löffeln und dann zu sagen: Prosit die Mahlzeit! Da muß Sie, wie schon eben behauptet, unter allen Umständen ein übriges tun und direkt vorstellig werden.«

»Dann will ich man hingehn,« beteuerte Stina und drückte sich ihr Taschentuch vor die schluchzenden Lippen.

»Wenn Sie gescheit ist,« versicherte Therese, »sonst kann es immer passieren, daß der Einhornbesitzer Ihr durchgeht.«

»Merci und meinen gehorsamsten Ausdruck,« und damit glitt sie aus der Douwermannschen Küche auf die Straße hinaus, um den schwersten Gang ihres Lebens zu machen.

Hinter ihr war ein zuversichtliches Wispern.

Therese gab ihr das Geleit mit ihren klingelnden Ohrgehängen.

Die Kälte hatte nachgelassen, ließ ihr straffes Fähnlein sinken und schlich marode über die ausgefranste Schneedecke, die immer mehr zerfaserte und schmutzige Wässerchen in die Straßenrinnen hineingurgelte. Auch von den Dachtraufen kam es in dicken, larmoyanten Tränen herunter. Auf der alten, ehrwürdigen Linde, die im Verein mit dem prächtigen Rathaus die Hauptsehenswürdigkeit der kleinen Stadt ausmachte, liefen die blanken Schnee- und Kristallkandelaber aus und tropften ab wie zerfließende Stearinlichter. Der schöne, knusperige Frost hatte Abschied genommen. Alles grau in grau, mißfarbig, schmutzig; selbst das vergoldete Einhorn über der Haustür des Herrn Remmelmann hatte seine kandiszuckerweiße Schrabracke verloren.

»Schmeißwetter!« grämelte Stina stumpf vor sich hin, sammelte die letzten Hoffnungsscherben und trat über die Schwelle, wo alles so lieblich nach den Würzen des Orients duftete und an Nöllecke erinnerte.

Sie hätte aufschluchzen mögen.

Herr Gummerich stand hinter der Theke, hatte sein Toupet à la Bonvivant pomadisiert und beschäftigte sich damit, diverse Seydlitzpulver in buntfarbige Schachteln zu ordnen. Dabei sang er über den Ladentisch fort: »Ich ging mal bei Nacht, ich ging mal bei der, Killekillekill, ich ging mal bei der Nacht,« stoppte aber sofort ab, als die Klingel lärmte und die üppige Busenfülle bei der Anrichte auftauchte.

»Ah, diese Ehre! Vielleicht Pomeranzen gefällig?«

»Nein,« sagte Stina, »ich möchte bloß fragen, ob Herr Remmelmann zu Hause sein täte.«

Herr Gummerich mußte leider bedauern. Sein Chef sei ausgegangen, knobele möglicherweise seinen Frühschoppen aus, Makao vielleicht, und würde wahrscheinlich vor dem Mittagessen nicht wieder erscheinen.

»Ach Gott, nee!« sagte Stina.

Traurig sah sie sich um und um und vigilierte durch den allerliebsten Spion, hinter dem sie so glückliche Augenblicke verlebt hatte.

»Wenn ich aushelfen kann,« sagte Herr Gummerich, »dann bin ich gerne erbötig, die Bestellung zu machen.«

»Ich möchte nicht gerne; ich bin zu schanierlich dazu; aber wenn Sie erlauben, spring' ich ums Vespern noch mal herüber.«

»Wie Sie befehlen,« meinte er zuvorkommend und fuhr sich mit seinen schlenkrigen Fingern durch die nach Lavendelwasser duftende Haartolle.

Stina empfahl sich wehen Herzens, um nach vier langen und bangen Stunden wieder über die nämliche Schwelle zu treten.

Genau wie vorhin lärmte die Klingel, hauchten die Würzen des Orients sie an, stand Herr Gummerich hinter der Theke, aber dieses Mal eifrigst beflissen, eine abgelebte Winterfliege, die krank und flügellahm auf einer Emser Pastillendose marschierte, mit gedrehten Lakritzkügelchen über den Haufen zu knipsen. Dabei sang er: »Und die Nacht, sie war so duster, und die Felder und die Wälder und die Muskelkraft, daß man kein Sternlein. Killekillekill, daß man kein Sternlein sah ...«

Der Herr Provisor hielt die Luft an.

Stina trat näher.

»Darf man jetzt fragen, Herr Gummerich ...?« meinte sie schüchtern.

Der Heilkundige bewegte schmerzlich den Kopf, wobei er eine zarte Wolke süßen Lavendelwassers verteilte.

»Mein Gott, Fräulein Stina!« sagte er tonlos, denn er mußte wieder bedauern. Herr Remmelmann sei Stadtrat, erklärte er mit bedenklicher Miene, sei im besondern Ausschußmitglied, und der Herr Bürgermeister habe gleich nach dem Mittagessen gerufen, 'ne wichtige Sitzung: hypothekarische Schuldnerschreibungen – Rentenbriefe – Wiesenverpachtungen für das kommende Frühjahr und ähnliche Dinge ... kurz, die wichtigste Tagung gleich nach Martini ... Herr Remmelmann sei untröstlich; aber es wäre nicht anders zu machen gewesen, und so sei er denn schweren Herzens aufs Rathaus gegangen.

»Ach Gott, nee!« sagte sie wieder, und ein schwerer Stein, ein regulärer fünfundzwanzigpfündiger Feldstein wälzte sich auf ihre zermarterte Seele.

»Herr Gummerich, wann ist er denn noch heute zu sprechen? Nach dem Abendessen vielleicht?«

Herr Gummerich nickte.

»Ganz sicher?«

»Aber natürlich! Ohne Zweifel; denn heute zu Abend gibt's westfälische Mettwurst mit Grünkohl. Darauf ist er versessen wie Herr Türlütt auf Spickgans. So was läßt er nicht aus und schlüge ihm selbst ein heilig Himmeldonnerwetter seine ganze Kappesplantage zusammen.«

»Na denn ...« lächelte Stina, und sie bestellte ihren Zuversichtsgarten abermals mit den lieblichsten Pflänzchen. »Dann werde ich mich einrichten und so Klock sieben erscheinen.«

»Wie Sie befehlen,« sagte Herr Gummerich, duftete stärker und quinkelierte hinter ihr her: »Ich kam vor Liebchens Tür, ich kam vor Liebchens, Killekillekill, ich kam vor Liebchens Tür...« und machte sich von neuem dabei, die lendenlahme Winterfliege mit gedrehten Lakritzkügelchen von der Emser Pastillendose zu knipsen.

Mittlerweile war es dunkel geworden. Ein feiner Sprühregen rieselte nieder und verwandelte die schmutzige Schneedecke in einen einzigen Matsch und Patsch. Die Wässerchen gurgelten stärker; von den Dachrinnen kamen ganze Bäche herunter. In den Kramläden hellten die Fenster auf, in den Straßenlaternen dunsteten trübselig die Dochte in den Abend hinein und pinselten zirkelrunde Flecken in das glitschige und tränende Leinentuch, das von Stunde zu Stunde immer dünner und unansehnlicher wurde.

Jetzt aber ...

Auf dem Rathausturm holte die Uhr aus. Sie schickte sieben monotone einzelne Schläge in das trostlose Wetter. Mit müden Schwingen ruderten sie über die Gegend und betteten sich schließlich auf die naßkalten Dächer.

Sieben Uhr!

Der Herr Kirchenrendant und Steuerempfänger a. D. hatte abgespeist und saß jetzt im bequemen Lehnstuhl am Ofen, um sich Belehrung aus dem ›KIever Volksfreund‹ zu holen. Seine Stimmung war hundsmiserabel, entschieden hundsmiserabel und unter aller Kanone. Ihm solche Geschichten zu machen, ihm, dem Nachfahren Anacharsis' des Großen! Noch immer litt er unter den Nachwirkungen des Revolutionsfestes. Alles war von ihm so trefflich gedacht, so schön in die Wege geleitet, und dann zum Schluß diese infame Entgleisung. Die ewigen Zwischenrufe seines begeisterten Schwagers hätte er noch hinnehmen können, auch die von Herrn Bollig. Selbst das zugeknöpfte Wesen des alten Douwermann und die Einwürfe des hitzigen Heißsporns von Lehrer wären schließlich zu ertragen gewesen, hätte nur sein leiblicher Sohn mehr Contenance behalten, nur den geringsten Versuch gemacht. Aber er dachte nicht daran, es fiel ihm nicht ein, er kam mit seinen neuen Ideen wie ein Sturmwind gefahren, verletzte die Gefühle und Ansichten Andersdenkender in gröblichster Weise und brachte es durch sein Draufgängertum fertig, der denkwürdigen Feier ihren ganzen Nimbus zu nehmen. Was bezweckte er letzten Endes damit? Wohin sollte das führen? Was hatten überhaupt seine heißblütigen Renaissancemenschen mit dieser völkischen Offenbarung und dem zehnten November zu schaffen? Wirr- und Schwarbelkerle! Nichts weiter! Keine Staatsmänner, wie die Revolution sie erzeugte. Kein Danton, kein Chaumette, kein Anacharsis von Klotz! und dann noch die infame Doktrin von der Glorifizierung des Nackten! Unser Gebet sei die Sehnsucht nach Schönheit! – alles recht brav und trefflich wiedergegeben, wie vom Katheder herunter; aber so etwas paßte nicht für die hiesigen Köpfe, stand nicht im niederrheinischen Katechismus geschrieben. Herr Gott, dieser André ...! Oleum et operam perdidi! Öl und Mühe sind vergebens gewesen. Mir das ganze Fest zu vertöppern! und war alles so fein in der Reihe und ging herunter wie 'ne Bouteille Champagner... um dann zu kommen und, wie gesagt, keine Contenance zu halten, den Großmogul zu spielen und Johanna Douwermann auf den Thron der schönen Demoiselle Maillard zu heben. Nicht auszudenken, die Sache, unerhört, gegen alle Kleiderordnung und den gesunden Menschenverstand, geeignet, das eigene Ansehen in Grund und Boden zu pfeffern ... Und was alles noch im Hintergrunde lauerte ... Entfremdung mit dem Dechanten, dem Lehrer und Arnt Douwermann, und so 'n kleiner Skandal noch als Draufgeld ... Mille tonneres! – das war ja, um die Kränke zu kriegen, um sich die letzten Sardellen vom Haupte zu reißen.

»Aber das sage ich ihm ...«

Mit einer heftigen Gebärde hob er sich aus dem molligen Sessel, zerknüllte den ›Klever Volksfreund‹, schleuderte die Fetzen in eine beliebige Ecke und warf einen energischen und doch schmerzlichen Blick auf die Glasservante, über der das Wappen derer von Klotz von einer großgemusterten und blumigen Tapete herabsah.

»Symbol meiner Ahnen,« sagte er mit einer bedeutsamen Geste, »mit Wehmut sehe ich auf deinen Helmschmuck und deine leuchtenden Farben. Zu Wasser und zu Land, im Frieden und Krieg bewährte sich das Geschlecht derer von Klotz. Im Mannesstamm tadellose Zucht, Vollblutmenschen; auch in der weiblichen Linie nicht übel. Von meinem Ahn Raban Kreuzwendedich Eberhard Hunold von Klotz bis zum letzten des Stammes – alles nur erstklassige Edelleute. Auch die Damen – rassige Stuten ... zum Beispiel meine in Gott ruhende Gemahlin, eine geborene von Wirsing-Pudretzky ... arm, aber nobel ... Und nur einmal im Leben, ach, nur einmal im Leben hat mir so 'ne bürgerliche Rübe, hat François Türlütt den Stammbaum verekelt – und nun will das Produkt meiner freiherrlichen Lenden, geboren aus Madam Wirsing-Pudretzky, mir abermals einen Zacken aus meiner stolzen Krone brechen. Zugegeben: meine irdischen Güter sind man schwach bestellt, liegen im Monde, meinetwegen bei den Marsbewohnern, aber die Ehre ... Bevor mir dieser André verbiestert, und selbst wenn er's mit einer Johanna Douwermann täte ... gibt's nicht! Unmöglich! Jamais ...! Sacré nom de Dieu ...!«

Seine Stimme schrillte.

Dann warf er sich heftig herum.

Fast lautlos war jemand ins Zimmer getreten.

»Was gibt's denn, Charlotte?«

»Mynheer, ich hätte noch so 'ne kleine Besorgung zu machen.«

»Schon wieder?«

»Wenn Sie erlauben, jawohl.«

»Sie hatten doch schon heute früh Ihren Ausgang.«

»Allerdings.« sagte Stina.

»Und dann ums Vesperläuten den zweiten.«

»Auch das,« sagte Stina.

»Da muß ich aber die nähern Umstände wissen, Charlotte. Was ist denn so dringend?«

»Gott, ja!« sagte Stina und legte ihre Jauerschen Würstchen ergeben auf ihren saftigen Busen, »mir hat's so komisch hier auf die Seite, und wie das so ist im menschlichen Leben, dagegen sollen Hoffmannstropfen ja helfen, und die kann nur Herr Remmelmann geben.«

»Wenn Sie denn glaubt ...« meinte der emeritierte Steuerempfänger, »und weil Sie alles so proper gemacht hat, die Arrangements, das Souper, kurz, dem Tisch ein lukullisches Ansehen verliehen – genehmigt. Die Sache war glänzend.«

»Schon richtig, Mynheer; nur das mit dem gottähnlichen Fraumensch durfte nicht kommen. Das stieß wie 'n Bock und rumpelte einem das christkatholische Schamgefühl aus dem Hause. Besonders das mit die heilige Nacktheit. Aber Hand aufs Herz: der junge Baron hat lieblich gesprochen. Großartig, mit so 'nem Awek und über alles Erwarten. Mynheer, dran konnte manch einer ein Beispiel sich nehmen. Da war Muskat drin und spanischer Pfeffer. Allerhand Achtung, wenn auch nachher so 'ne kleine Abkühlung folgte.«

»Lassen wir das,« winkte Anatole ab. »Aber Sie können gehen, Charlotte.«

»Merci, Mynheer, und 'nen heelmojen Abend!« und damit trat Stina zum drittenmal ihren schweren Gang an, drückte die Tür hinter sich zu und segelte mit aufgehobenen Röcken und einer Unsumme von gemischten Gefühlen in den schudderigen Abend hinaus.

Das Wetter war noch ungemütlicher als vor wenigen Stunden geworden.

Der Wind pfiff von allen Ecken und Enden, pustete die Laternen aus und peitschte harte Regenfäden durch die einsamen Straßen.

Stina ließ peitschen, was peitschen wollte, zog die Röcke höher und paddelte weiter. Bis über die Strumpfbänder und zu den nackten Schenkeln hinauf strudelte die eisige Feuchte; aber was tat man nicht alles, um ein erregtes Gemüt zu besänftigen und berechtigte Zweifel auf ihre Echtheit zu prüfen. Nur ja nicht die Duldsame spielen, nur ja keine Halbheiten! Wer verbriefte Rechte besitzt, hat sie auch einzulösen auf Heller und Pfennig. Sie wollte nicht renommieren; aber sie hatte deren in Hülle und Fülle. Sie war ein Krösus an verbrieften Rechten geworden. Das stand so fest wie der General von Seydlitz auf seinem Postament und der Glaubenssatz von der Dreieinigkeit Gottes. Daran war gar nicht zu tippen, und wiederum traten ihr die durchlebten, niedlichen Schäferstündchen vor Augen. Diese zarten Gefühle und das neckische Plaudern, diese neugierigen Hände, dieser Weihrauch und dieses innige Gleichnis von den Angorakaninchen ...! – Das waren doch Dokumente und springende Punkte, ebenso gut, als wären sie von Staatswegen niedergelegt worden. Warum hätte er sie denn auch sonst in sein Kontörchen gebeten, sie in den Sessel gedrückt und den sanftauswattierten Schlafrock so liebevoll um ihre Beine geschlagen? Wenn das nicht mit feurigen Zungen redete, dann redete überhaupt nichts mehr mit feurigen Zungen. Indessen – man konnte immer nicht wissen; denn es gab auch so 'ne Art von Demokratenliebe, 'ne Liebe, die die persönliche Freiheit hochhielt und auf und davon ging, wenn die Schwalben wiederkehrten und ihre Drecknester bauten ... und diese Erkenntnis senkte sich auf ihr Haupt wie glühende Kohlen. Eile war nötig, und da gedachte sie, wie der Küster zu handeln, der da sagte: Ordnung muß sein! und dabei dem Pastor mit dem Kerzenlöscher auf den Kopf schlug. So zog sie denn weiter, von dem kategorischen Willen beseelt, Nöllecke Remmelmann auf Herz und Nieren zu prüfen und ihn vor den Richterstuhl des allewigen und allwissenden Gottes zu laden. Entweder – oder; es gab keine andere Lösung; aber sie riet ihm in seinem eigensten Interesse, nur nach Pflicht und Gewissen zu wählen und sein Eheversprechen zu halten, auf die Gefahr hin, mit der ganzen Strenge des weltlichen und überirdischen Armes geschlagen zu werden.

Sie mußte an der ›Letzten Träne‹ vorüber. Alle Fenster waren erleuchtet. Da hatte Nöllecke noch heute morgen geknobelt, seinen Schoppen getrunken, ohne Mitgefühl und ohne auf ihren bedrängten Zustand Rücksicht zu nehmen. Und da lag das Rathaus, jetzt mit toten Augen und wie mit einem schmuddeligen Bettuch verhangen. Die Sitzung war somit schon lange vorüber, und er, Nöllecke, saß in seinen knarrenden Stiefeln zu Hause, zwirbelte sein Schnäuzchen in die Höhe und ließ sich von dem Gespinst einer zarten Erwartung umnebeln. Dieser Gedanke tröstete sie wieder und goß lindernden Balsam auf ihre blutenden Wunden.

Noch fünfzig Schritte, noch fünfzig emsige Schritte durch den Matsch und Patsch, und sie stand vor der Apotheke mit dem springenden Einhorn – seiner Apotheke, seinem hypothekenfreien Gut und Eigen, seiner selbstgeschaffenen Welt ... Nein! es war doch ein eigenartiges Gefühl und eine liebe Bekömmnis, sich selber schon so halb als Apothekergattin ansprechen zu können.

Sie griff denn auch zu, riß an der Klingel und trat in den Hausflur.

Merkwürdig still hier!

Auch hinter der Theke ... kein Herr Remmelmann, kein Provisor, überhaupt keine menschliche Seele.

Sonst war alles in Ordnung. Die Lampe brannte und näselte wie immer, die Wagschale blitzte wie früher, die Flaschen, Töpfe, Schachteln und Gläschen standen wie die Grenadiere im Gliede, und überall das feine Arom nach Bergamotteöl und Succus liquiritiae calbreae concisae.

Stina war wie vom Donner gerührt.

Ein lautes Räuspern sollte ihr helfen, auf sie aufmerksam machen.

Keiner erschien.

Sie klopfte mit hartem Knöchel gegen die Theke.

Niemand hörte auf sie.

Da trat sie mit einer energischen Kopfbewegung an das œil de bœuf, beugte sich vor und vigilierte mit aufgerissenen Augen in das erhellte Kontörchen.

Da sah sie ... wahrhaftig da sah sie ...

Herr Gummerich lag wie Harun al-Raschid auf Nölleckes Diwan und machte sich ein Vergnügen daraus, zierliche Zigarettenkringel gegen die Decke zu blasen und jeden einzelnen mit einem Lineal zu durchstechen. Als er den zehnten Kringel regelrecht zur Strecke gebracht hatte, schlug er sich mit eben demselben Lineal taktmäßig auf den rechten Schenkel, daß es knallte, und sang dazu: »Und die Tür, sie war verschlossen, und die Felder und die Wälder und die Muskelkraft, ein Riegel lag da-, Killekillekill, ein Riegel lag dafür ...«

»Aber Herr Gummerich, ich bitte Sie im Namen der allerseligsten Jungfrau ...!«

»Herr Jeses ...!« rief der aus allen Wolken Gefallene, sprang auf und flitzte wie ein Wiesel aus dem Kontörchen und hinter die Anrichte.

»Was gibt's, Fräulein Stina? Am Gottes Barmherzigkeit willen, Sie sind noch einmal gekommen?«

»Aber natürlich.«

»Und das bei dem entsetzlichen Wetter!«

»Mir soll's egal sein. Schmeißwetter ist Schmeißweiter. Da muß unsereiner gegen an operieren; denn ich muß Herrn Remmelmann sprechen.«

»So spät noch?«

»Was heißt das ›so spät noch‹?«

»Ich meine man so. Also wirklich, Sie müssen Herrn Remmelmann sprechen?«

»Wen denn anders?«

Ihre Stimme schlug um, und mit entsetzten Blicken sah sie in Herrn Gummerichs Augen.

Keine Frage – Herr Gummerich war dienstbeflissen wie immer, sprang herum wie ein Zinshahn und machte ihr Komplimente, die sich sehen lassen konnten ... aber nein, hatte der Mann sich verändert! Er war gedrückter, verwehter, sein Gesicht mit einem bittersüßen Anflug behaftet, als habe er sich in der Bouteille vergriffen und Arnikatinktur statt Medizinaltokaier getrunken.

Ihr kam es so vor, als wiche der Boden unter ihren Füßen, als versänke sie in ein endloses Chaos und risse alles mit sich in die gähnende Tiefe: sich selber, Nöllecke, den Herrn Provisor, das Einhorn, sämtliche Flaschen und Fläschchen, alle Töpfe und Töpfchen, die Anrichte, die Apotheke mitsamt ihren köstlichen Narden und Spezereien ...

Die Welt ging ihr unter, und aus dieser untergegangenen Welt fragte sie tonlos: »Herr Gummerich, Sie haben ihm doch gesagt, daß ich nochmals vorsprechen täte?«

»Doppelt und dreifach.«

»Also doppelt und dreifach?«

Sie machte ein Gesicht, als wäre ein Tüncher mit einem Weißquast über ihr Antlitz gefahren.

»Dann heran mit ihm. Er ist doch zu Hause?«

Herr Gummerich tat so, als habe er unversehens auf ein Pfefferkorn gebissen.

»War hier,« sagte er schüchtern.

»Und jetzt, in diesem Momang?«

»Fort – er konnte nicht anders!«

»Was – er konnte nicht anders?«

»Nein, Fräulein Stina, er konnte nicht anders. Soeben war er noch hier, aß noch zu Abend, sein Leibgericht, westfälische Mettwurst und Grünkohl, und dann saß er in seinem Kontörchen, ganz sinnig und munter, und da dachte er plötzlich: Teufel, Teufel! da hätte ich ja bald das Ewaldikegeln vergessen.«

»Und da?« fragte Stina.

Dicke Tränen kugelten ihr die Wangen herunter.

»Was soll ich da weiter noch sagen,« seufzte er kleinlaut und gab seinen Balsam von sich wie eine Zibetkatze den ihren, um sich auf diese Art und Weise die ungemütliche Situation vom Leibe zu räuchern. »Sie müssen nämlich wissen, Fräulein Stina,« legte er zungenfertig los, »so'n Ewaldikegelabend ist ein komischer Abend. Nur dreimal im Jahre geht er vom Stapel, nur dreimal im Jahre, und der heutige ist der Baas unter ihnen, der ›Matador‹, wie die Herren behaupten. Herr François Türlütt ist auch da, desgleichen der Herr Bürgermeister, Herr Vogels und dann noch die andern Brüder. Selbstverständlich durfte mein Chef als Kegelpräside nicht fehlen. Sie müssen nämlich wissen, Fräulein Stina, sie kegeln ein Schwein aus, sie kegeln 'ne dreihundertpfündige Weihnachtssau aus – fein, sage ich Ihnen, und mit allen Schikanen ... und ich will nicht Severin Gummerich heißen, wenn er nicht bei jedem dritten Wurf proper Honnör wirft ... Und besonders die Bauern, den rechten und linken, die sind seine ganz bedeutsame Forsche ... Und da ging das nicht anders: Herr Remmelmann ist zu's Ewaldikegeln gegangen.«

»Also zu's Ewaldikegeln gegangen,« sagte sie betäubt vor sich hin, so etwa, wie es Niobe getan haben mochte, als ihr Schmerz so groß und wahnsinnig wurde, daß sie keine Tränen mehr hatte.

»Also zu's Ewaldikegeln gegangen ...«

Sie versuchte zu lächeln; aber es gelang ihr man schlecht, denn es gehört zu den schwierigsten Dingen im menschlichen Leben, mit abgestoßenem Herzen zu lächeln.

Dann aber war's alle mit Stina.

Eine furchtbare Erkenntnis nahm ihr die barmherzige Binde von den Pupillen und machte sie sehend.

Sie wurde verhöhnt, zum Narren gehalten.

»Was!« legte sie los und zauberte Blitz und Schwefel aus ihren sonst so lieben und gutmütigen Augen.

»Das ist man alles purer Schwindel von Ihnen gewesen. Blasen Sie mir den Hobel aus, Sie Lakritzhut, Sie doppelkohlensaures Nashorn – Sie und Ihr Faktotum von 'nem Ap'thekenbesitzer. Purer, regelrechter Schwindel, sage ich Ihnen – das mit dem Knobeln, der Stadtratssitzung und dem Weihnachtsferkel. Alles man bloß 'ne niederträchtige und abgekartete Sache. Und Sie – Sie Lavendelmarkör von Proviser, Sie dreimal gesiebtes Abführungsmittel – mich so zu betuppen! Aber das sage ich Ihnen: wie der Herr, so's Gescherr, wie der Topf, so der Deckel ... und deshalb alles Lug und Betrug ...«

Herr Gummerich gestikulierte mit Armen und Beinen.

»Fräulein Stina, ich bitte mir aus, ich muß Sie dringend ersuchen ...«

»Hier ist nichts zu ersuchen; denn destillierte Halunken seid Ihr alle zwei beide, 'ner armen, hoffnungsfreudigen Jungfer so unter die Nase zu kommen und sie ohne Turnüre hinzustellen in ihrer ganzen Beschämung! Das ist gegen die Gesetze der Kirche, das ist Blaubartsmanier und befohlener Meineid. Erst die Geschichte mit dem Kontörchen, dann die mit dem Lehnstuhl und dann noch das andre. Aber ich werde ihn auf die Strümpfe bringen, den Herrn Ap'theker. Das Gericht muß dahinter, der Baron muß dahinter und schließlich der Dechant. Und mit heiligen Fingern will ich beschwören ... Ach was! Sie hören von mir, und das können Sie dem Herrn Remmelmann hiermit bestellen, Sie Nashorn. Und damit adjüskes!«

Herr Gummerich vernahm und sah nichts mehr. Mit geschlossenen Lidern hatte er diese Sintflut von Worten und Titulaturen über sich herprasseln lassen. Als er sie nach einer gemessenen Pause wieder aufschlug, befand er sich allein an der Theke.

Stina war fort.

»Auch gut,« sagte Herr Gummerich, zündete sich eine frische Zigarette an und ging ins Kontörchen.

Alsbald lag er wieder auf Nölleckes Diwan, mimte den Harun al-Raschid und vergnügte sich damit, zierliche Tabakskringel gegen die Decke zu blasen und jeden einzelnen mit einem scharfen Lineal zu durchstechen. Als er den zehnten Kringel regelrecht zur Strecke gebracht hatte, schlug er sich mit eben demselben Lineal taktmäßig auf den Schenkel und sang dazu: »Der Schwestern waren drei, der Schwestern waren, Killekillekill, der Schwestern waren drei. Und die jüngste von den dreien, und die Felder und die Wälder und die Muskelkraft, die ließ mich endlich, Killekillekill, die ließ mich endlich ein ...«

Die schöne Desideria Schnapp, Nölleckes Erbtante, nickte dazu und grüßte freundlich aus dem vergoldeten Rahmen ins Zimmer.


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