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14

Es war um dieselbe Stunde.

Der wohlachtbare und hochwürdige Herr Sybertus von Ryswick hatte die Augen aufgeschlagen, schüttelte sich den Staub von den Schuhen und sagte, indem er Dirk Vogels sein Liber pastoralis hinhielt: »So Ihr es lesen wollt, junger Magister, wird es Euch zum Segen gereichen.«

Ja, es war just um dieselbe Stunde, als das kleine, zierliche Männchen in schlichter Soutane, silbernen Schnallen und mit einem schwarzen Samtkäppchen auf dem milchweißen Scheitel aus einer Ecke des Kirchenarchivs heraustrat, um wieder schemenhaft in sein Nichts zu zerfließen...

In diesem Augenblick schritt Arnt Douwermann über die Schwelle des eigenen Hauses, legte im Flur ab und begab sich in sein Zimmer, woselbst seine Tochter Johanna über alten Kupfern saß, sie auf ihre Echtheit prüfte und in verschiedene Mappen verteilte.

Sie war nicht recht bei der Arbeit. Ihre Gedanken schweiften wie ruhelose Vögel ins Leere hinein, trieben zur Seite, so sehr sie sich auch mühten, Richtung zu halten und einem fernen Lichtschein näher zu kommen, der trüb und kaum wahrnehmbar aus einem diesigen Wetter herüberdämmerte. Dieses unselige Suchen und Trachten, und dieses Nichtfindenkönnen! Nie war es ihr so zum Bewußtsein gekommen wie an diesem mutlosen Novemberabend, was ihre Seele bedrängte, und doch fehlte ihr die Kraft, freie Bahn zu schaffen und sich die florigen Fäden von den Schläfen zu streifen. Das Leben wollte sich nicht aufhellen für sie, und sie hörte kaum, daß sich die Tür bewegte und ein harter Schuh über den Binsenteppich hinwegging.

Der Alte trat näher, den Blick still und bedachtsam auf seine Tochter gerichtet.

»Guten Abend, Johanna. Der Herr Dechant läßt grüßen.«

Sie überhörte den Gruß und fragte, kaum von den Blättern aufsehend: »Schon so zeitig zurück?«

»Früher als gewöhnlich bin ich ihm Meister geworden. Sonst hielt er sich tapfer; aber heute kam ihm mein ›Schach dem König‹ zuvor und verrückte die Stunde. Die militans ecclesia hatte die Segel zu streichen. Gewinn: eine Flasche Valwiger Herrenberg. Weißt du: Beatus ille, qui procul negotiis... Dann ging ich, hatte unterwegs aber noch eine heimliche Freude.«

»Nun, und diese Freude ...?« fragte sie wie geistesabwesend.

»Im Kirchenarchiv war immer noch Licht. Verheißungsvoll grüßte es durch den mürrischen Abend, und da sagte ich mir: Dort oben schafft einer für dich und dein Haus – einer von den Zuversichtlichen und Stillen im Lande – einer von den nicht alltäglichen Menschen... und wenn ich so alles bedenke... Meine Tage neigen sich merklich, und die Blätter fallen, eins um das andere. Wie lange noch, und du wirst mir die letzten Kissen aufschütteln müssen. Das macht mir keine weitere Sorge, Johanna; denn des Menschen Leben währt siebzig Jahre und mehr, und was darüber geht, ist ein besonderes Geschenk des himmlischen Vaters. Und dennoch, es wäre mir froher ums Sterben, wenn ich dich gesichert wüßte, wenn einer käme, dir die Wege zu ebnen und deine irdische Pilgerfahrt leichter zu machen. Du lächelst, Johanna; ich aber denke ernster darüber; denn ich sagte mir heimlich: da oben zwischen den alten Schriften und Pergamenten sitzt der Mann, dem du dein Bestes anvertrauen möchtest für jetzt und immer. Weißt du, Johanna, käme es dazu, ich könnte den letzten Schritt des Todes mit mehr Ruhe und Wohlgefallen erwarten.«

»Du sprichst von ihm, von Dirk Vogels?« fragte sie mit verhaltenem Atem.

»Ja, ich spreche von ihm, von ihm, dessen Wesensinnere mich anmutet wie ein gesegnetes Kornfeld.«

»Die Zeit wird die Lösung bringen,« versetzte sie ruhig.

»Das genügt mir nicht und beseitigt die Zweifel nicht, deren ich nicht mehr Herr werden kann; denn ich fühle tagtäglich: die Zeit zerrinnt mir unter den Händen. Ich kann nicht mehr warten. Ich möchte wissend werden, bevor es zu spät ist. Jede Minute ist kostbar. Ich geize mit allen. Möglich, daß ich nicht lange mehr lebe. Vielleicht ruft schon morgen die Glocke, Mahnung genug, nicht mehr planlos zu hoffen. Ich sagte schon vorhin: jeder Tag, jede Stunde sind wie Geschenke des himmlischen Vaters.«

Etwas Flehendes, Hilfesuchendes lag in seinem Blick, in seiner Stimme, die in sich zusammenkroch, um gleich darauf mit einem wehen Ton zu verlöschen.

Kaum merklich schüttelte sie den Kopf mit der schweren Flechtenkrone. Tränen standen in ihren Augen.

»Ich habe noch für den Abend zu tun,« sagte sie aus ihrer schmerzlichen Stimmung heraus, erhob sich, glättete ihr Kleid und wollte schnell aus dem Zimmer.

»Nein, du – bleibe noch!«

Er vertrat ihr den Weg, legte ihr beide Hände auf die Schultern und drückte sie sacht, aber bestimmt in den Sessel zurück.

»Ich habe dir noch manche Frage zu stellen,« fuhr er schärfer einsetzend fort, während sich seine Greisengestalt aufreckte und sein schmaler, hagerer Schatten die Decke berührte. »Die Stunde ist gut, aus dem Oberflächlichen heraus mehr in die Tiefe zu gehen, wobei ich voraussetze: du wirst mir beistehen, diese unliebsame Arbeit zu einem erfreulichen Ende zu führen. Ich komme mir vor wie ein Mensch auf unsichtigem Wasser, auf dem er keine Boje und Bake mehr findet. Ich bin nicht Herr meiner selbst mehr. Früher, da war das viel besser. Da hatte ich festen Grund unter den Füßen, da schritt ich wie durch einen ewigen Sonntag und konnte mich meines Lebens und meines Berufes erfreuen; denn ein hohes, freundliches Weib ging neben mir her, die Bibel stand mir zur Hand und eine kristallhelle Luft wehte mich an, und so aus Arbeit, Weib und Bibel habe ich mir das Dasein gezimmert, und dieses Dasein war glücklich. Jetzt hat sich vieles geändert. Gewiß, die Bibel lebt noch in mir, und noch immer wallfahre ich mit Jakobs Samen durch Mizraims Nilschlamm und die gesegneten Fluren des gelobten Landes, noch immer pilgere ich durch den Ölgarten von Gethsemane und beuge das Knie, wenn das Kreuz aufragt auf Golgatha. Der Herr stärkt mich noch immer und tröstet mich in den Tagen der Trübsal; aber mein Amt legte ich nieder, und das hohe, freundliche Weib ist von mir gegangen. Ich suche die kristallhelle Luft und kann die kristallhelle Luft nicht mehr spüren. Dafür ist mir ein starker Nebel geworden, der mich zu ersticken droht, und eine innere Stimme gebietet mir: zerteile den Nebel! Das ist nun leichter gesagt, als getan. Aber ich werde mir Mühe geben, Johanna. Ich muß diesen Nebel zerstören, unter die Füße treten, Meister über ihn werden, damit ich wieder atmen kann und das Ziel wieder sehe, um es noch vor meinem Tod zu erreichen. Dazu ist nötig, daß wir uns begegnen, begegnen in Gedanken, Worten und Werken; denn du bist Blut von meinem Blut und Fleisch von meinem Fleisch. Deine Ehre ist meine Ehre, dein Glück das meine, und wenn da irgendetwas ist, was zwischen uns steht, so haben wir es gemeinsam niederzubrechen, um freie Bahn zu haben und der ersehnten Ruhe teilhaftig zu werden. Das war ich dir und mir gegenüber schuldig zu sagen, und ich nehme an: du wirst mich verstehen.«

Sie wollte ihm beipflichten, ihm zunicken; aber sie konnte es nicht.

»Nein,« sagte sie beklommen, »ich weiß so recht nicht, was deine Worte bezwecken und wo du hinaus willst. Offen gestanden: ich kann mir das richtige Bild noch nicht machen, mich nicht in deinen Gedankengang und deine Seele versenken.«

»Dann wisse,« sagte er mit scharfer Betonung jeglicher Silbe, »ich habe nur den einzigen Wunsch, und es liegt bei dir, mir diesen einen Wunsch zu erfüllen ... Ich will nur ... du sollst mir und meinem Hause den Frieden wiedergeben, Johanna.«

»Warum das?« fragte sie mit klopfendem Herzen. »Das setzt doch voraus, ich hätte dir und deinem Hause diesen Frieden genommen?«

»Ich sehe, wir kommen uns näher,« versetzte er ohne jede Erregung. »In deiner Fragestellung liegt ein gewisses Geständnis.«

»Aber, Vater, ich bin doch kein Kind mehr!«

»Leider hast du die Einfalt des Kindes verloren; denn wärest du noch in ihrem vollen Besitz, diese Stunde wäre mir leichter geworden.«

Sie wollte auffahren.

Er machte eine wehe Bewegung.

»Ich bitte, Johanna ... Dein Vater steht vor dir, und was ihn bedrängt, ist geeignet, ihm das Herz abzustoßen. Vergiß das nicht und bedenke die Folgen. Und was auch kommen mag, nimm meine Worte auf, wie sie gemeint sind, und sollten sie schmerzen: ich kann nicht anders mehr handeln. Eine Aussprache ist mir so nötig geworden wie das tägliche ›Vater unser‹. Den Tatsachen mit verbundenen Augen aus dem Wege zu gehen, dem, was um mich zischelt und raunt, mich mit taubem Ohr zu verschließen, grenzt an das unsinnige Verhalten eines Mannes, der mit lässigen Händen zusieht und zuhört, wie das Feuer in seiner Scheune knistert und knastert und daran ist, ihm sein Hab und Gut zu verderben. Ich bin anders geartet und nehme den Kampf auf, selbst auf die Gefahr hin, von einem stürzenden Balken erschlagen zu werden; denn es handelt sich um dich und mich und um das Glück eines Dritten.«

Kreidebleich war sie in die Höhe gefahren.

»Das zielt auf mich,« sagte sie mit stoßendem Atem.

»Es scheint so,« meinte er bitter, »und die Gründe dafür sind so billig geworden wie die Unglücksrufe der Dohlenvögel. Wie soll das schließlich enden, Johanna? Seit unserm letzten Begegnen mit Hochwürden und Dirk Vogels riecht es brandig unter meinen eigenen Sparren. Deine endgültige Erklärung steht immer noch aus, ist um kein Jota weiter gekommen ... und wenn ich mir vorstelle, wie dir der geistliche Herr so wohlwollend zusprach und alles aufbot, dir die Arbeit so handgerecht wie nur irgendmöglich zu machen, wenn ich mir vergegenwärtige, daß durch sie der Name ›Douwermann‹ wiederum zu hohen Ehren gekommen wäre, und wenn ich nun zusehen muß, wie du scheinbar gesonnen bist, dir diese stolze Aufgabe willenlos entgleiten zu lassen, dann ist es mir so, als würde dir und unserm Ansehen das Requiem gesungen.«

Sie trat rückwärts und verschränkte die Hände.

Ihre junge Brust ging schwer.

»Darf ich bemerken ...« stieß sie hervor.

»Später, wenn ich ausgesprochen habe, Johanna; denn was ich dir zu sagen habe ... das mit dem Schrein ist nicht das Wesentlichste und der Kernpunkt der Sache. Aber das andere – deine zeitigen Anschauungen – die Art und Weise, wie du mir und Seiner Hochwürden entgegentratest – der geheimnisvolle Dritte, dessen Botschaft dein künstlerisches Empfinden schwer gefährdete und aus dem Gleichgewicht brachte – das gibt mir zu denken und läßt mir die Zukunft bedrohlich erscheinen.«

»Wenn ich aber so fühle,« fuhr sie herrisch dazwischen, »wenn ich dir sage, die Anschauungen in der Kunst wandeln und wechseln, klären sich stündlich und kämpfen um größere und reinere Formen. Viele Wege führen nach Rom. Was heute für lebendig und vollwertig gilt, wird bereits morgen oder übermorgen zu den Toten geworfen. Alles ringt nach Vollendung. Warum sollte da gerade ich eine Ausnahme machen?«

»Das ist es nicht,« unterbrach er sie mit einer Stimme, worin der Grimm aufkeimte. »Solche Ideen lagen dir fern, wurden von dir nicht gepflegt und herangezogen, reiften vielmehr auf dem Acker eines verderblichen Sämanns. Du stehst eben unter dem Einfluß und dem Bann dieser Ernte, und deine Weigerung, jetzt schon eine bestimmte Zusage zu geben, ist weiter nichts als die logische Folgerung meiner aufgestellten Behauptung, ist lediglich der Vorwand, irgendein dumpfes Empfinden, einen Seelenkonflikt scheu zu verbergen ... und wenn ich dich auch mit Dirk Vogels in einer Situation fand, die mich zu frohen Hoffnungen berechtigte – seit dem unheilvollen Revolutionsabend wurden diese Hoffnungen mit Stumpf und Stiel auseinander gehauen.«

Er suchte nach Atem.

»Ja, mit Stumpf und Stiel auseinander gehauen.«

»Aber Vater!«

Sie richtete sich straffer auf, ihr Ausdruck versteinte, und ihr Blick wurde härter.

»Was willst du damit sagen?« fragte sie mit eiserner Ruhe.

»Muß ich denn noch immer deutlicher werden?« »Wie könnte ich mich denn sonst deinen Anschuldigungen und deinen Klagen gegenüber rechtfertigen?«

»Nun, dann behaupte ich gerade heraus: seit dem Revolutionsfest und schon am Abend zuvor sind mir Bedenken gekommen, die dich aufs schwerste belasten, Bedenken, die sich im Laufe der Tage noch um vieles verstärkten. Johanna« – und seine Stimme bebte vor tiefer Erregung – »es ist ein schlimmes Ding, die Luken zu öffnen und mit dem Feuer zu spielen. Es könnte dich und schließlich auch Dirk Vogels verderben.«

»Was bedeutet das alles?« fragte sie gepreßt, kaum Herr ihrer Sinne. »Entweder du hältst mich für den schuldigen Teil, oder aber ...«

Er kam ihr zuvor.

»Nein, du,« sagte er rissig, und seine Worte dunkelten ein und fielen ihm langsam vom Munde, »ihr beide seid schuldig.«

»Mein Gott!« hauchte sie dumpf vor sich hin. »Also André und ich ...«

»Sprich den Namen nicht aus!« schrie er sie an. »Ich kann ihn nicht hören. Er ist mir ein Greuel, seit jenem entsetzlichen Abend ein Greuel. Also verschlucke den Namen! Wenn nicht – es könnte immer passieren ...«

Er war hart an ihre Seite getreten, hochaufgerichtet und mit glühenden Augen. Mit starrem Blick begegnete er dem seiner Tochter.

»Ja, du ... denn ich bin zu einem Punkt gelangt, wo mir das Wasser bis an den Hals steigt. Ich kann nicht mehr weiter. Ich muß aus dieser Strömung heraus und will wieder Land unter den Füßen. Was berechtigt dich, mir dieses Land zu verwehren? Was zwingt dich dazu, mich in dieser Ungewißheit, in dieser schmutzigen, erwürgenden Strömung zu lassen? Ich habe ein Recht darauf, meinen alten Kopf in aller Ruhe auf die Hobelspäne zu drücken. Willst du mich dieses Rechtes berauben, und bist du gewillt, mir an Stelle des Segens einen Fluch zwischen die Zähne zu drücken?«

»Sei doch barmherzig!«

Sie wollte in seine Arme hinein.

»Erst eine Frage,« lehnte er ab. »Wann hast du den jungen Doktor bei seinem letzten Hiersein gesehen?«

»Am Tage seiner Ankunft.«

»Und wo?«

»An meinem Fenster. Er kam durch den Garten.«

»Und dann nicht wieder?«

»Ja, ich habe ihn nochmals gesehen.«

»Wann ist das gewesen?«

»Als er ging, am Tage nach dem Fest. Ich habe ihn bis zur Roten Schleuse begleitet.«

»Also doch ...«

Er fühlte eine kalte Hand an der Kehle. Er wähnte, ein greller Blitz führe durch sein irres Gesichtsfeld.

Sie trat näher. »Warum sollte ich nicht? Wir sind doch befreundet von Jugend auf.«

Er unterbrach sie.

»Befreundet?! – Ja, so ... ich verstehe. Du wirst mir dabei wohl einreden wollen: eine solche Freundschaft ist abgeklärt und lauter und kalt wie ein Schneefeld. Bei einer solchen Freundschaft schlafen die Sinne, kann man in aller Gemächlichkeit den Rosenkranz beten. Aber ein Großes hat sie. Sie wirft die Tore der neuen Kunst sperrangelweit auf und überschüttet einen mit einer Fülle des Lichtes. Das wirst du mir einreden wollen. Aber ich sage dir hiermit: eine solche Freundschaft reißt Vater und Tochter auseinander, ruft den Leichenbitter ins Haus und geht über Särge. Hast du bei einer solchen Freundschaft auch an Dirk Vogels gedacht, oder willst du behaupten ...«

»Ja, ich habe dabei auch an Dirk Vogels gedacht.«

»Das wagst du mir ins Antlitz zu peitschen – mir, deinem Vater, der am Tisch des Kirchenrendanten zu der Überzeugung kam: mein Haus wankt in allen Ecken und Fugen ... wo dein Lehrmeister, der Mensch mit der ehernen Stirn, die Frechheit besaß ...«

Er prallte zurück und streckte die Arme.

»Du,« brach es aus ihm heraus, »willst du mich zum Äußersten treiben?!«

Seine Worte erstickten.

Er taumelte vorwärts.

»Willst du mich zum Richter machen, Johanna?! Dann sag's nur. Ich bin zu allem jetzt fähig. Hier diese Fäuste ...«

»Rühr mich nicht an, du! – Ich bin deine Tochter.«

»Mein Gott und mein Heiland!«

Mit einem kurzen Schrei, der alle Zimmer durchgellte, brach er am Tisch zusammen und stützte den Kopf in die Hände.

»Das mußte so kommen, ja, das mußte so kommen.«

Draußen im Flur hallte der Schrei nach, lief die Wände entlang und stieß bis in die Küche hinein, wo Therese dabei war, den Imbiß für den Abend zu richten.

Ihr Herz setzte aus.

»Jesus Christus, da passiert noch ein Unglück!« und so schnell ihre Füße sie tragen konnten, war sie über den Flur geeilt und in das Zimmer ihres Herrn getreten.

»Kann ich vielleicht helfen, Fräulein Johanna?«

»Ich danke. Wir möchten allein sein.«

»Oder soll ich den Doktor rufen?«

»Der kann hier nichts nützen.«

»Na, denn ...« sagte die Alte, drückte die Tür hinter sich zu und tat, was die Stunde ihr eingab: sie stürmte ins Freie.

Sie wußte, wer hier helfen konnte und mußte, und der saß jetzt insichgekehrt und still über den Schriften und ging den alten Zeiten nach, um, wie sie gehört hatte, die Ehre und das Ansehen der Familie Douwermann noch stolzer und schöner zu machen.

Sie suchte nicht lange; denn ein sanfter Schein drang ihr entgegen. Er stand über dem Südportal der Kirche, und da sagte sie sich: »Da wirst du ihn finden.«

Der Alte stierte noch immer mit leeren und glasigen Augen über den Tisch fort.

»So weit wären wir nun,« redete er schwer vor sich hin; »aber ich kann mich in den neumodischen Kram nicht mehr finden. Zwischen Vater und Tochter wird das Tischtuch zerschnitten; denn sie hat meine Hoheit zerbrochen und sie als Kehricht bewertet, wo doch geschrieben steht: Mein Kind, gehorche der Zucht deines Vaters und verlaß nicht das Gebot deiner Mutter; denn solches ist ein schöner Schmuck deinem Haupt und eine Kette an deinem Halse. Alsdann wirst du die Furcht des Herrn vernehmen und Gottes Erkenntnis finden. Das alles hat sie von sich getan und zum alten Gerümpel geworfen.«

Dann schwieg er und hörte zerstreut auf das Geigen eines verlorenen Heimchens.

Johanna stand neben ihm, starr wie eine Bildsäule und vom Grausen angeschmiedet.

Alles Blut war aus ihrem Antlitz gewichen.

Sie legte ihm die weiße, kalte Hand auf die Schulter.

»Vater ...«

Er gab keine Antwort. »Willst du mich nicht anhören, Vater?«

Dieselbe trostlose Stille.

»Mein Gott, mein Gott!« seufzte die Ärmste, und eine Traurigkeit fiel über sie her, wie sie sie nur einmal gespürt hatte im Leben. Das war damals gewesen, damals, als sie studienhalber Flandern aufsuchte und sich von den aus Stein gemeißelten Spitzenschleiern der Kapelle zum Heiligen Blut nicht losmachen konnte – damals in Brügge, in der grauen, verwunschenen Stadt, wo selbst in den Frühlingsgärten das Sterben wohnt, hinter den weißen Musselingardinen ein ewiges Dämmern weilt, selbst dann, wenn eine helle, blanke Sonne auf den Straßen liegt, und wo das Wasser in den Kanälen und Grachten dahinzieht, als ließe es der Tod mit trockenem Kichern durch die Finger gleiten. Niemals war ihr der Gedanke an die Vergänglichkeit des Irdischen, war ihr der Duft nach frischer Kirchhofserde so nahe gewesen.

Sie wartete noch immer auf Antwort; aber es kam keine.

»Nun kann ich wohl gehen?« fragte sie schließlich.

Heiße Tränen rannen ihr dabei über die Wangen.

Da kam wieder Leben in die Gestalt ihres Vaters.

Verstört hob er sich auf und sah sich um wie einer, der in tiefster Nacht gelegen hatte, verschüttet von einem schlagenden Wetter, umdunstet von giftigen Schwaden, und jetzt wieder an Tag kam und sich eingestehen mußte, du wärst besser unten geblieben.

»Johanna« – und die Worte schälten sich breit und langsam von den Lippen herunter – »das sollte dir passen: jetzt auf- und davongehen ... jetzt ... in diesem Augenblick, wo der Wahnsinn neben mir steht, mir Schmollis anbietet und zugrinst: Kompagnie, alter Herr! – jetzt, wo ich dir sagen muß ...«

Heiß stieg es in ihm auf.

Er hielt's nicht mehr aus.

»Du – es gibt Dinge und Geschehnisse im menschlichen Leben, die läßt man absterben, vergißt sie, berührt sie nicht wieder, selbst nicht mit den feinsten Gedanken. Aber sie wirft man ein Sterbetuch hin und scheut sich, auch nur einen Zipfel zu heben. Ich für meine Person war willens, keinen Finger zu strecken ... Du aber, du hast dieses Bahrtuch gehoben und zwingst mich, Totes wieder aufzuwecken und ihm die Zunge zu lösen. Du selber – und jetzt muß ich reden ... und wissen sollst du, was an dem verfluchten Revolutionsabend passiert ist, als jener auftaumelte, sein Glas hob und den traurigen Mut fand ...«

Das Wort erstarb ihm im Munde.

Er stierte die Tür an, hinter der sich ein scheues Klopfen erhob.

»Nur immer herein, und wenn ein Unglück geschähe!«

Dirk Vogels war über die Schwelle getreten.

Fassungslos sah er bald auf Johanna, bald auf den Alten.

»Gut,« sagte dieser, »gut, daß Sie kommen; denn es ist immer besser, ein zweiter spricht als der eigene Vater. Ich muß meine Gedanken unter mich zwingen, sonst werden sie brutal und bekommen Gewalt über mich. Dirk« – und er hatte die Hand des jungen Mannes ergriffen – »Dirk, es ist endlich an der Zeit, ihr die Augen zu öffnen. Da steht sie, noch immer wie früher, noch immer von dem Wahn beseelt, das wahre Evangelium gefunden zu haben, und sieht nicht, wie ihr Glanz sich verdunkelt und ihr Schritt ins Elend hineinführt. Dirk« – und er ließ die Hand des Entsetzten fahren – »nun ist Ihre Stunde gekommen. Mein Latein ist zu Ende. Geben Sie Antwort... Wer war es, dessen Mund an dem verhängnisvollen Abend voll Lästerung war und voll scheußlichen Unflats? Wer stolperte punschselig hoch und entblödete sich nicht, das heilige im Weibe mit Füßen zu treten, die Morgenröte der neuen Kunst aus dem Sumpf und Morast einer Venus von Paphos zu heben und meine leibliche Tochter... Dirk, wer war es, der die Frechheit besaß, ihr die Kleider vom Leibe zu reißen, um sie als Göttin der blöden Vernunft...«

»Kein Wort mehr, Herr Douwermann! Ich ersuche Sie dringend.«

Im Herzen des Erregten war Sturm.

Schirmend hatte er den Arm um Johanna geschlagen, deren Antlitz erfror und mit keinem Blinzeln verriet, was die Seele bewegte.

Aber der Alte schwieg nicht.

»Dirk, wer war es, der sie abtrünnig machte, der ihr verbot, im Dienst des Allerhöchsten den Meißel zu führen und den Altar zu den Sieben Schmerzen Mariä vor dem Verderben zu retten? Wer war es, wer war es...? Wer war dieser Tempelschänder, dieser Lump und Verführer? Dirk, werde hart, gib ihr die Antwort! Verhehle ihr nichts, und hat sie die Antwort – ich hoffe zu Gott, sie wird in sich gehen, die Hände falten und stammeln: Ich armer, sündiger Mensch bekenne vor Gott und den Menschen...«

Langsam wandte er sich seiner Tochter zu, die an der Brust Dirk Vogels' lehnte, und er zeigte auf diesen: »Da steht dein Beichtiger. Er ist der nächste dazu. Keinem bist du mehr verpflichtet als diesem. Habe Vertrauen zu ihm! Bekenne ihm willig! Vielleicht ist es möglich, noch deine Ehre und die unseres Hauses zu retten. Ich gehe... so wird es dir leichter werden, deine Andacht, dich selber und deinen Heiland zu finden.«

Er verstummte, nahm die Mütze vom Nagel und schritt ruhig der Tür zu.

Hier hielt er noch einmal den Fuß an, blickte ernst über die Schulter und sagte: »Johanna, denke daran, daß du eine Douwermann bist!«

Dann verließ er das Zimmer.

»Nun mag geschehen, was will.«

Sie sprach es mit gepreßter Stimme.

Tränen standen in ihren Augen.

Mit sanfter Gewalt löste sie sich aus Dirks Umarmung, ging einem Sessel zu und ließ sich hier nieder. Dann schluchzte sie auf und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

Er war dicht an ihre Seite getreten.

»Johanna ...!«

Sie schwieg.

Da glitt er sacht über ihr Haar und fragte: »Johanna, hast du mir gar nichts zu sagen?«

Er blieb äußerlich ruhig.

Ihre Hände lösten sich. Fest und ohne Erregung sah sie ihn an.

»Was soll ich dir sagen? Mich verteidigen? Das, was in den Worten meines Vaters schlummerte, zu entkräften versuchen? Ich wüßte nicht, aus welchen Gründen ich mich zu rechtfertigen hätte. Ich habe nichts zu bekennen und nichts zu verbergen ... und wenn einer an dem fraglichen Abend sich unterfing, die hergebrachte Form zu verletzen – was hat das mit meiner Kunst und mit meiner Würde zu schaffen? Mich kann keiner entweihen, und mir kann keiner das Gleichgewicht der Seele nehmen. Aber mein inneres Ringen, über meine Anfechtungen, über meine Kämpfe und Zweifel bin ich keinem Rechenschaft schuldig. Du weißt, wer ich bin, und weißt auch, was wir abgemacht haben. Aber noch einmal sollst du es hören: nichts ist zwischen ihm und mir geschehen, wenigstens nichts, dessen ich mich zu schämen hätte und was meine Ehre antasten könnte. Das laß dir genug sein!«

Er beugte sich zu ihr.

»Und das mit dem Schrein ...?« fragte er leise. »Mit ihm ist doch das Glück und die Ruhe des Hauses verbunden ... Bist du nunmehr entschlossen?«

»Ich sehe – ihr wollt's ja mit aller Gewalt,« meinte sie heftig; »aber wie soll ich dabei vor mir selber bestehen? Wie mich zurechtfinden? Du weißt doch, was in mir vorgeht, was ich zu tragen habe. Mache mir doch das Leben nicht schwerer; ich habe genug schon zu schleppen ... und wenn ich nicht wollte, nicht könnte ...?«

Er verfärbte sich jählings.

»So muß ich dir sagen, Johanna: Du sündigst wider dich selbst und brichst das Leben deines Vaters zusammen.«

»Dirk, lasse mich fortgehen! Wir fehlt heute die Stimmung, darüber zu sprechen. Ich bin nicht mein eigenes Ich mehr. So hilf mir doch! Habe doch Erbarmen mit mir! Quäle mich nicht! Ein andermal ... ich werde dir schreiben ...«

Seine Stirne umdüsterte sich.

»Ich sehe,« sagte er schmerzlich, »du prägst Falsches, Johanna; du bist jetzt schon entschlossen, und wie die Antwort ausfallen wird, ist leicht zu ermessen. Die Gründe hierfür liegen nicht auf der Oberfläche – gewiß nicht; sie sind tiefer zu suchen. Und das ist das Ende. Ich gehe, Johanna. Es ist besser, wir scheiden. Ich will deine Kreise nicht stören. Es ist doch alles vergebens. Ich habe dir nichts mehr zu sagen. Nur eins noch. Vielleicht hast du mich noch einmal nötig im Leben, bist gezwungen, dich in meine Arme zu flüchten. Und naht diese Stunde – erinnere dich daran! Gedenke meiner! Du wirst mich schon finden.«

»Dirk!« stöhnte sie auf.

Jäh war sie in die Höhe gefahren und wandte ihm ihr verstörtes Gesicht vollends entgegen.

Dann warf sie sich an ihn – hilfesuchend – verzweifelt – zerbrochen und elend ...

»Dirk, gehe nicht von mir – halte mich, Dirk – bleibe bei mir – ich habe dich nötig... Dirk« – ein heftiges Schluchzen erschütterte ihren jungen Leib – »ich muß zum Dechanten, ich will diesen Gang tun, und du: geleite mich zum Schrein der Schmerzen Mariä ... Der Herr wird mich segnen.«

Sacht und leise senkte er seinen Mund auf ihren duftigen Scheitel. Dann bog er ihr Antlitz zurück und küßte sie lange.


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