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»So 'ne verdammte Geschichte ...«

Was war das nur? Was wollte überhaupt die Alte mit ihrem wirren Verhalten und ihren noch wirrigern Reden? Wirf einen Stein ins Wasser, und es zieht Kreise um Kreise. Geh mit brennender Pfeife auf den Heuboden hinauf und öffne die Luke, so daß ein handlicher Windhauch hindurchzieht, und da kann es immer passieren, daß es ganz heimlich in einer verlorenen Ecke zu knistern beginnt und wie von Nagern wispert und zirpt, bis das Knistern zu einem Heulen wird und ein roter Feuermantel sich über die trockenen Schindeln breitet. Dann ist das Unglück geschehen, und das durfte nicht kommen.

» Fratres, sobrii estote et vigilate!« sagte Arnt Douwermann, setzte seine Tonpfeife wieder in Brand, um seine Sinne zu ordnen und sie wie Pfähle auf die richtige Stelle zu rammen. Dann trat er mit harten Schritten ans Fenster, als sei er verpflichtet, mit diesen harten Schritten das kleine, noch winselnde Feuerchen niederzutreten. Wie so ein elendes und heimliches Gerede doch Bitternis schaffte und die Seele vergrämelte! So war's bei ihm, und neben ihm saß einer, den hatte es noch nachhaltiger und schärfer getroffen, dessen Gedanken gingen unsicher in die Landschaft hinaus wie die Flügelschläge der Krähenvögel, die langsamen Fluges den grauen, bitterkalten Winterhimmel durchzogen.

Lautlos und feierlich flockte es noch immer aus der umflorten Höhe herunter, und dieses Flocken und Gleiten legte sich wie Eiderdaunen über Leben und Sterben, über Gerechte und Ungerechte und über die Not und die Freude der Menschen. Das fühlte auch Arnt Douwermann, als er in das silberlichte Rieseln hinaussah und allmählich gewahrte: nun wird dir leichter und wohler ums Herz und du kannst die dumme Geschichte von eben ins Totenbuch schreiben. In diesem Register wird nichts mehr lebendig. Und als er so dachte, glättete sich seine Stirn, und sein ruhiges und beschauliches Denken kam wieder. » Sobrii estote et vigilate!« wiederholte er still vor sich hin. »Warum auch nicht? Ich wache schon und bin immer nüchtern gewesen. Und was da war ...?«

Er machte eine große und stumme Bewegung.

»Gespenster! – für mich aber steht noch immer der Morgen auf den Bergen.«

Sacht legte er die Hand auf die Schulter des jungen Magisters.

Der aber hatte sich noch nicht wieder gefunden, flocht die Hände zusammen und sah träumend ins Leere.

»Schön denn,« sagte Arnt Douwermann. »Ich kann warten und warte.«

Den gebrechlichen Stiel der Tonpfeife zwischen Mittel- und Zeigefinger haltend, nahm er seinen frühern Schritt auf, während Dirk Vogels sich immer tiefer in sein Grübeln hineinarbeitete und wie durch ein dickes und schweres Wetter hindurchging. Allmählich jedoch hellte es auf; eine milde und doch unbarmherzige Hand scheitelte die Schwaden sacht auseinander, und ein feines Licht gestattete ihm einen langen Blick in die Gegenwart und in die verflossenen Tage zu werfen.

*

War das nicht ein dünnes und mageres Gebimmel, das vom Wald herübertönte und die weite Gegend erfüllte? Hinter dem Walde lag Niedermörmter, ein einsames Kirchspiel, wo er seine Jugend verlebt hatte und so vieles noch war, was er gerne ausgetilgt hätte, um nicht mehr daran erinnert zu werden. Das Geläut der Kirchenglocken war kleinlich und spitzig; aber unter diesem Geläut wuchsen die Kornfelder heran, als hätten sie einen ganz besondern Mist an den Füßen, versoff ein Gespann, mit Brabanter Gäulen geschirrt, in den wogenden Halmen, und wenn im Herbst die Rheinnebel aufgeisterten, dann betteten sie sich weich und bedächtig in die mastigen Kappesäcker hinein; denn was hier in weißen und blauen Köpfen heranwuchs, war doppelt und dreifach so mächtig wie das Kraut in den Nachbargemeinden. Wie das Land, so die Leute! Die Niedermörmter Bauern hatten Krontaler im Sack, und wenn sie in ihren Tilburys nach Kalkar oder nach Kleve kutschierten, um den Sonntag in sachlicher Weise unterzubringen, hatten sie eine ausbündige Freude daran, zum guten Beschluß noch ein Dutzend Champagnerpfropfen gegen Gottes aufgehende Sonne zu knallen. Dazu fangen sie mit erhobenen Kelchen:

»Uns' Geld, das wird nicht schimmelig,
Denn wir verzehren zimmelich ...«

jubelten und schwenkten ihre stattlichen Frauen herum, bis sie wiederum ihre Tilburys anspannen ließen und in den hellichten Tag hinein und nach Haus kariolten. Schon richtig! Die Niedermörmter saßen dick und fett in der Wolle. Nur bei der Familie Vogels, die am äußersten Ende des reichen Kirchspiels ein miserabeles Häuschen bewohnte, wagte selbst ein abgeschlissenes Kastemännchen nicht seine Sprünge zu machen. Da war von jeher Schmalhans Küchenmeister gewesen, da schoben sich keine delikaten Mettwürste im Rauchfang an protzige Speckseiten heran, und selbst in seinen schönsten und stolzesten Träumen hatte der Holzschuhmacher Stäwe Vogels niemals ein Dutzend Champagnerpfropfen gegen Gottes aufgehende Sonne anknallen lassen. Dafür aber hatte er eine sanfte und üppige Frau, noch in den lieblichsten Jahren, einen prächtigen Jungen und mehrere Stuben, in denen sich die häuslichen Sorgen wie die eingepökelten Heringe drängten. Was dem kleinen Dirk Vogels an irdischen Genüssen versagt blieb, das hatte ihm der liebe Herrgott doppelt und dreifach auf das geistige Konto geschrieben. Dirk war wie ein helles Laternchen, und er leuchtete sich bei dem Herrn Kaplan so tapfer durch die lateinische und griechische Grammatik, durch die Kirchenväter und die subtilen Schriften des Herrn Cornelius Nepos hindurch, daß der geistliche Herr eines Tages mit gutem Gewissen behaupten konnte: »Dirk ist reif für die Obersekunda eines Königlich Preußischen Gymnasiums geworden. Die Reife war da; aber die Hauptsache fehlte: das klingende Sprungbrett fehlte, um von ihm aus den stolzen Salto mortale in das Reich des humanistischen Wissens zu wagen. Die Umstände sorgten auch hierfür. Stäwe Vogels, ein stumpfer, wenn auch jähzorniger Mann, sah kaum fünfundzwanzig Schritte über seinen Heckenzaun fort, wohingegen die sanfte und üppige Genossin seiner kärglichen Tage einen gewissen Weit- und Scharfblick besaß, dazu über weibliche Reize verfügte, die eigentlich nicht in die harten Federposen des ehelichen Holzschuhmacherbettes gehörten. Eiderdaunen und Parmaveilchen wären ihr bekömmlicher gewesen. Nun hauste da zwischen Niedermörmter und Kleve ein adliger Gutsherr, ein ausgetragener Junggeselle, dem es eine besondere Freude gewährte, nicht nur die feisten Böcke seines stattlichen Reviers, sondern auch das zweibeinige Wild, sobald es in die Jahre gekommen und als niedliche Ricke zu fiepen verstand, anzupirschen und weidmännisch auf die Decke zu legen. Der Sommer brach an, der Gutsherr putzte die Flinte und zog zu Wald, ganz heimlich und nach Jägerart. Kein Häher lärmte zwischen den Buchenhecken, nicht das dünnste Zweiglein im Holz verriet die geheimnisvolle und ergiebige Streife. Auch keine menschliche Seele in der ganzen Umgebung – und sie waren alle hellhörig in der Niedermörmter Gemeinde – hatte den Abschuß vernommen. Nur Frau Helene Vogels sinnierte still vor sich hin, warf sich in ihren Sonntagsstaat und bedankte sich in Kevelaer für die Wohltat und Mildherzigkeit des benachbarten Gutsherrn, dessen Gemein- und Opfersinn dem kleinen Dirk das ersehnte Sprungbrett bestellte. Auch Stäwe sielte sich in eitel Warmbier und Wonne, hatte am Abend des kritischen Tages das große Wort im ›Goldenen Anker‹ und schwor heilig und teuer, von jetzt an nur noch einem konservativen Abgeordneten seine Stimme zu geben; denn lediglich die adligen Grundbesitzer seien die wirklichen und wahrhaften Träger der Kultur, nur sie allein hätten das Herz auf dem richtigen Fleck und seien die uneigennützigsten Berater und Helfer des darbenden Volkes. Mit einem Mordsrausch, aber seelisch beglückt, legte er sich alsdann in die warmen Federn hinein, während die milde und gütige Frau über Land war, um, wie sie sagte, für ihren jungen Gelehrten das Nötige bei dem Herrn Direktor in die Wege zu leiten. Und also geschah es. Item, das Schicksal nahm seinen Weg, die Jahre vergingen, und eines Tages konnte Dirk die humanistische Pflegeanstalt mit dem Zeugnis summa cum lauda in der Tasche für immer verlassen. Die Hochschule winkte. Darob war große Freude in der engern Heimat. Etliche Fahnen bammelten von den Giebelfenstern herunter, vom Gutshofe her böllerten die Viktoriaschüsse herüber, und Stäwe Vogels saß zur Feier des großen Ereignisses wieder im ›Goldenen Anker‹, hatte etliche Bouteillen ›Langkork‹ vor sich stehen und ließ mit fidelen Äugelchen und einer mächtigen Stimme den gütigen Protektor der Wissenschaft und der Familie leben, hatte doch dieser feierlichst gelobt und versprochen, dem jungen Mulus auch das Universitätsstudium verstatten zu wollen. Und item und abermals item – alles ging glatt und sanft von der Leber. Die ausgeworfenen Taler rentierten sich. Des selbstlosen Barons wurde in Liebe und in heißem Gebete gedacht; denn in westfälischen Landen, in Münster, ging eine Leuchte des Fleißes und des Wissens auf, wie nicht mehr zu finden. Die strahlte wie ein schönes Licht von einem hohen Kandelaber herunter und sagte: »Es wird einer kommen in die germanischen Lande, der wird wie ein Gigant seine Pfade ziehen und wird die Sprache meistern und wird ein Führer sein unter den Kulturhistorikern und Philologen des Reiches; denn das Rauschen von Adlerflügeln ist um ihn.«

Des freute sich die verblendete, sündige und doch entschuldbare Mutter, und sie sündigte weiter. Nur ihrem Jungen zuliebe wurde sie mehr als sonst auf dem Gutshof gesehen, ging Sonntags in Seidentaft und ließ besteinte Goldgehänge von den schmalen Ohrläppchen bammeln. Das dauerte so verschiedene Hirtzensprünge lang, so etliche Wochen und Monde; da aber steckten Knechte und Mägde und auch sonstige Leute die Köpfe zusammen und waren wie die Bienen im Korb, wenn die Königin ausfliegt. Alles recht schön mit dem Dirk! – warum aber hatte die jugendliche Frau so blanke und milchweiße Arme und unter der sauber gewaschenen Bluse eine so rundliche Fülle, und warum waren ihre Haarflechten, die sie schneckenartig um den Kopf drehte, so schwer und duftend nach frischem Brot und so goldig wie ein Weizenfeld kurz vor der Ernte?! Die von Niedermörmter zuckten die Achseln und dachten das ihre, obgleich sich alle über das Wohlergehen und das propere Gedeihen des jungen Vogels herzinniglich freuten. Nur das nichtsnutzige Gemunkel blieb, auch der schiefe Seitenblick auf die milchweißen Arme, und die ganz Frommen meinten: »Uns soll's egal sein; denn was wurmstichig ist, muß schließlich doch vom Baum herunter.« So ging das den Sommer hindurch und den Herbst hindurch, bis die Leute Stroh in ihre Holzschuhe taten und sagten: »Feuerchen, wärm mich!«

Es war Nikolausabend geworden. Die Bratäpfel quietschten in der Ofenröhre, und die kalten Sterne hingen zitternd am Himmel. Mit blanken Augen und silbernen Fingerspitzen stießen sie durch die Scheiben in die Wirtsstube ›Zum Goldenen Anker‹ hinein, wo noch etliche Niederungsbauern bei der Punschbowle saßen, des längern über die großartigen Zuckerrüben- und Kornpreise verhandelten und dabei ihre delikaten Spekulatiusmännchen in die dampfende Flüssigkeit tauchten, als Stäwe Vogels in funkelnagelneuen Holzschuhen und mit einer silberbeschlagenen Meerschaumpfeife über die ausgewetzte Schwelle trat und sich bei der Tafelrunde placierte.

»Guten Abend, die Herrens!«

»Tag, Stäwe! – auch mal wieder im ›Goldenen Anker‹? Wie geht es, wie steht es?«

»Merci! – über alles Erwarten,« entgegnete Stäwe mit langsamem Zungenschlag und streckte behaglich die Beine unter den Tisch fort. Er liebte den Winter, vornehmlich dann, wenn so'n gebranntes Wässerchen in einem handlichen Stengelglas dampfte, der Schnee da draußen unter den Füßen wie ein vollbesetztes Mausenest piepste und die ausgetrockneten Buchenknubben ihr lustiges Feuerwerk machten. Überhaupt so'n Sankt Nikolausabend! – und dann noch diese besondere Freude ... Er rauchte echten Oldenkott Rippchentabak. Der silberbeschlagene Meerschaumkopf fiel allgemein auf. Wie ein selbstgefälliger Protz beräucherte er sich mit feinstem Kanaster und spiegelte den blanken Deckel übermütig im Licht der Petroleumlampe, die behaglich von der weißgekalkten Decke herabzirpte.

»Allerhand Achtung!« sagte eine fette Stimme aus der Ecke heraus, »die ist doch nicht auf deinem eigenen Grund und Boden gewachsen – die Pfeife.«

»Gottverdammich!« rief ein zweiter herüber. »Braucht es auch nicht. Was, Stäwe, bei deiner nobeln Bekanntschaft, da kann schon alles passieren?«

»Wohl ein Sinter Klaspräsent?« meinte ein dritter. »'ne seine Marke! Meinswegen von Afrika her, und wenn man fragen darf: wer hat sich die Ehre genommen?!«

Stäwe schmunzelte still vor sich hin, nahm einen Mund voll Rauch und blies bläuliche Kringel über die Punschbowle fort.

»Na, Stäwe, heraus mit die Sprache.«

Die Tischrunde grinste; auch der Ankerwirt war mit breiter Visage näher getreten.

Stäwe sah in vergnügte Gesichter. Der Ahnungslose deutete mit breitem Daumen über die Schulter und meinte: »Gotts den Donner nochmal! von euch hab' ich sie nicht, aber von dem da über dem Eichenkamp weg. Der scheffelt nicht alles in seine eigene Tasche und weiß, was 'nem propern Staatsbürger zukommt.«

»Aha!« lachte die erste Stimme aus der Ecke heraus, »der noble Protektor! Aber man kann sich doch nicht lumpen lassen, Honnör gegen Honnör! Und du – was hast du ihm gegeben?«

»Ich?« fragte Stäwe.

»Ja, du ...« und einer erhob sich. Das war der Barbier und Ferkelstecher des Dorfes, ein Kerl mit Schellfischaugen und schlampigen Schuhen. Der trat auf Vogels zu und klopfte ihm mit glitschigen Fingern kordial auf die Schulter: »Gelt, Stäwe, du spendierst auch nicht das Schwarze unterm Nagel. Das ist niemals dein Gusto gewesen. So was besorgt deine Frau nur. Die weiß, was sie tut, und trägt ihm ihr Präsent direkt im Brustlatz hinüber.«

Na, jetzt dieser Aufstand! Wie rossige Stuten auf einer Frühlingskoppel, so wieherten die Kerle unter der Petroleumlampe, hielten sich den Bauch und strampelten mit Händen und Füßen. Vierzehn dampfende Punschgläser wurden ihm lachend entgegengehalten.

»Wa ... wa... wa ... was?« sagte Stäwe. Er wußte im Augenblick nicht, wie er die Sache aufnehmen sollte, was eigentlich los war; seine Nase aber war so spitzig und kreidig wie der Zipfel eines Leichentuches geworden. Dann aber kamen ihm Besinnung und Überlegung zurück; unter der konfusen Schädeldecke hellte es auf. Jeden einzelnen nahm er aufs Korn, als hätte er die erste beste Flinte an die Backe gerissen, um die ganze Gesellschaft, ohne viel Federlesens zu machen, über den Haufen zu knallen.

Verflucht und zugenäht! Die Geschichte schien eine infame Volte zu schlagen. Zuerst war das Bildchen der Medaille so äußerst pläsierlich gewesen, gab sich munter wie ein herzhafter Geißbock, um plötzlich eine andere Nase zu zeigen. Ein Karfreitag auf dem Gottesacker konnte nicht stiller sein, wenn der Totenwagen vorbeifuhr und die Lebensbäume ihr Säuseln verloren. Der Kerl machte Ernst. Hier half kein Mundspitzen mehr, hier mußte gepfiffen werden, und zwar ohne langes Besinnen – und der Barbier und Ferkelstecher versuchte zu pfeifen.

»Stäwe,« sagte er denn auch so recht jovial aus seinen gesteiften Vatermördern heraus, »alter Freund und Punschkollege, du wirst doch am Sinter Klastag ein Späßchen verstehen? Ohne Spaß geht die Welt zugrunde, sind wir alle nichtsnutzige Blechköppe. Du willst doch kein Blech- und Sauerkopp sein? Immer schlankweg fidel! Prost, Stäwe, dein roggenstrohhaariges Weibsstück soll leben!«

»Soll leben, soll leben!« fiel auch die Punschgesellschaft ein, war aber kaum imstande, den Zuruf durch die eingetrockneten Kehlen zu drängen.

Sie wurde unterbrochen.

»Spaß?!« fragte Stäwe, und unter seinen Brauen wetterleuchtete es wie ein fernes Gewitter. Dann riß er sich auf und schlug die neuen Holzschuhe zusammen, daß sie wie Dreschflegel knackten. »Spaß, ihr Lumpenpackage ...?! – und das soll ein Spaß sein?!«

Die Stimme des aufgepeitschten Mannes rollte wie ein vierrädriger Rumpelkasten über einen Knüppeldamm fort. »Gottverdammich! – das wäre noch schöner. Erst kommt ihr und laßt meine Frau und mein eigenes Honnör splitterfasernackicht im ›Goldenen Anker‹ herumvoltigieren und lacht euch den Bauch voll, und dann ist die ganze Geschichte nur ein harmloses Späßchen gewesen.«

»Aber ich bitte dich, Stäwe ...«

»Hier ist gar nichts zu bitten. Dem Deuwel seine Großmutter bittet. Nee, Kinder, Spaß hat 'ne andere Visage. Irgend etwas ist schon an dem kriminellen Gerede. Ihr aber – ihr seid mir zu dumm bei der Sache; denn Dummheit lacht immer, und wenn ihr nicht so dämlich und schafsmäßig wäret...« Langsam hob sich die eiserne Faust, um mit einem dumpfen Krach niederzufallen. »Dreckspropheten, infame! Ich gehe über euch fort wie über eine verluderte Hammelgesellschaft. Aber der andere mit dem vornehmen Namen ... Haltet die Mäuler ...! Mir ist was Richterliches in die Knochen gefahren« – und wieder schob und schraubte er die Faust in die Höhe – »was Richterliches, ihr Lumpengesindel, und das schreit wie Speck in der Pfanne. Aufgepaßt! – wo diese hier anpocht, da öffnet sich schon das rechte Kontor und die richtige Türe; denn geschrieben steht: So du anklopfest, wird dir aufgetan werden. Kanaillen, verfluchte! Feiert euern Sinter Klas man alleine. Ich habe auf 'ner andern Stelle zu feiern. Adjüs denn!«

Damit pfefferte er seinen Meerschaumkopf mit heiserm Meckern gegen den Ofen, stülpte die Schirmmütze über und ging aus der Stube, sich in den Hüften wiegend, die Hände in den Hosentaschen vergraben und mit klappernden Holzschuhen.

Hinter ihm war das dumpfe Schweigen des Schreckens und vor ihm die geweihte Stille der heiligen Gottesnacht. Langsam und Fuß für Fuß zog er durch die einsamen Dorfgassen, drehte bei der Kirche ab und folgte der breiten Landstraße, die schnurgerade in das unermeßliche Schneefeld hineinführte.

Und wie köstlich die Nacht war, die über ihm ruhte! Sie kannte weder Anfang noch Ende, weder Licht noch Schatten und war doch von einer silbernen Helle umkleidet, wie sie sonst die Erde nicht hatte. Und durch diese silberne Helle hindurch stakte er weiter, den Blick nur auf die dunkle Baumgruppe gerichtet, die immer größer und massiger aus dem weißen Leintuch emporwuchs. Unter ihm zwitscherte der Schnee; über ihm waren Myriaden von goldenen Bienenschwärmen in das dunkle Gewölbe gestickt. Kalt und zitternd geisterten die Sterne vom Himmel herunter. Ab und zu trieb ein scharfer Wind den mulmigen Schnee auf.

Er achtete dessen nicht und kehrte sich nicht an das scharfe Geriesel und die bettweißen Finger, die ihm das Antlitz verstäubten, nicht an die grimmige Kälte, die wie ein bissiges Frettchen sich an ihn warf und ihm Stirn und Schläfe zernagte. Stäwe Vogels hatte kein Gefühl und keinen Sinn für die eisige Umwelt. Nur mit sich selber, mit seinem Weib und dem vornehmen Protektor beschäftigt, wühlte er sich immer tiefer in seine Schande und sein Elend hinein, bog er mechanisch von der Hauptstraße ab, ohne sich dabei weitere Gedanken zu machen. Von Weg und Wegspur war auch nicht mehr das geringste zu sehen. Nur eine endlose Fläche, ein kreidiges Einerlei, ein einförmiges Gleißen und Glimmern! Aber da hinten ... die Baumgruppe wuchtete sich jetzt mächtig empor – und mit ihr das Herrenhaus, aus dem zwei phosphorblaue Punkte wie Wolfslichter aufbegehrten.

Das war es, was Stäwe Vogels wollte und suchte. Er befand sich schon auf dem rechten Pfad und war nicht in die Irre gegangen. Da lag ja der Gutshof, breit hingestreckt, schwarz und weiß und mit zwei glühenden Augen im Kopfe ... sonst ausgestorben und blutleer, als hätte man ihm bereits die letzte Ölung gegeben.

Nur noch zehn Minuten, und Stäwe konnte durch den offenen Torbogen schreiten.

Er kannte den Zugang. Geradeaus erhob sich die Auffahrt, flankiert von den Stall- und Wirtschaftsgebäuden, alles wie überzuckert und von einem kalten Mond übersponnen.

Die beiden Lichter nahmen an Stärke zu. Gespensterhaft stierten sie in den Sankt Nikolausabend hinaus.

Jetzt kam Leben in das stumme Anwesen. Ab und zu brüllte eine Kuh auf, ein Hund belferte, und die Gäule rappelten mit ihren Halfterketten. Der Meisterknecht ging quer über den Hof. Er hatte noch nach den Raufen gesehen, den Deckstier aufs frische angebunden und war nun auf dem Wege zum eigenen Kotten, um mit den Seinen den heiligen Mann zu erwarten.

Als er Stäwe Vogels ansichtig wurde, hielt er den Fuß an.

»Blitz und Donner, Stäwe, Ihr seid es?!«

»Ganz in Person,« sagte Stäwe und rückte an dem Schirm seiner Mütze. »Ist Mynheer noch zu sprechen?«

»Nu wird's Tag,« meinte der Knecht und sah ihn fassungslos an. »Was wollt Ihr bei dem noch?«

»Was man halt so will. Seine Rechnung machen, das jährliche Konto begleichen und 'nen regulären Strich drunter setzen.«

Das Wort schmeckte nicht nach Freude und Fröhlichsein.

»Mensch,« versetzte denn auch der vom Gutshof, »ich kann Euch nur den guten Rat geben: geht lieber nach Hause l«

»Wo ich einmal hier bin und den langen Weg hinter mir habe? Das wäre noch schöner. Nicht ums Verrecken!«

»Und ich sage Euch nochmals: geht lieber nach Hause, wenn Ihr nicht wollt, daß der Satan aus dem Kasten herausspringt. Es stinkt nach Bockmist.«

»Jans,« meinte Stäwe, und seine Stimme klang dabei so dumpf und verhalten, als wäre ein Schreiner dabei, vierzöllige Nägel mit einem umwickelten Hammer in einen frischgefirnißten Sarg zu treiben, »was sein muß, kann ich nicht ändern. Was dem einen recht ist, ist dem andern billig. Er hat meinem Dirk und der Lene so noble Präsente gemacht, daß ich als Vater und Ehemann in diesen Bonitäten ersticke. Luft muß ich haben. Luft... Luft...! und drum soll er denn auch 'nen feinen Sinter Klasabend haben.«

»Ich sage Euch, Stäwe ...«

»Nichts mehr zu sagen. Jeder ist hier sich selber der Nächste. Er weiß, was er tut, und ich weiß auch, was ich tue. Und weil es so ist, wird es von mir in Estimierung genommen. Jans, Ihr feiert den heutigen Tag, ich dito desgleichen. Jedem das Seine. Adjüs denn! Bis später.«

Damit stakte er weiter – über den einsamen Hof – die Klinkertreppe hinauf – dann in den Hausflur hinein ... und jetzt ... da, wo eine Anzahl von Rehstangen und zwei prächtige Sechzehnendergeweihe eine niedrige Türe umrahmten, stieß er das Schloß auf und trat in das Zimmer, das von den beiden Wolfsaugen erhellt war.

Er war richtig gegangen, ganz richtig ...

»Herr!« donnerte ihm eine scharfe Stimme entgegen.

»Mynheer,« sagte Stäwe, »man Ruhe; wir können ja alles in kommoder Weise besprechen,« und wie ein Stier vor einem roten Lappen, so pflanzte er sich vor dem Zertrümmerer seiner Ehre auf. »Immer man Ruhe, wir brauchen hier keinen Zeugen zu haben. Warum auch? Das stört nur und bringt die Sache nicht weiter.«

»Was wollen Sie hier? Weshalb dringen Sie ein? Das schmeckt nach Hausfriedensbruch; denn von mir haben Sie keine Order empfangen.«

Der Gutsherr, so sehr er sich auch in der Gewalt hatte, war um eine Nuance bleicher geworden.

»Das weiß ich,« entgegnete Stäwe. »Natürlich – ich habe keine Order empfangen; aber man hat doch ein Interesse daran, zu erfahren, was eigentlich los ist und worauf die ganze Geschichte hinaussoll.«

»Was für 'ne Geschichte?«

»Na, eben die, die sich hier abspielt, die sich hier schon immer abgespielt hat, und in die ich jetzt so'n bißchen hineinleuchten möchte.«

»Sie sind wohl verrückt und aus dem Tollhaus gekommen?«

»Bis jetzt nicht,« meinte Stäwe mit heiserm Lachen, »aber man kann immer nicht wissen, was aus der ganzen Sache herausspringt. Sie hat Dreck an den Füßen und stinkt meilenweit in den Himmel hinein. Gott's den Donner nochmal! – und Sie haben mir den Gestank unter die Nase geräuchert. Das machte mich munter ... und daher ... entweder du oder ich.«

Die beiden Männer standen sich hart gegenüber und maßen sich schweigend – Stäwe und der adlige Wüstling, einer von denen, die stiernackig durchs Leben gehen und denen es egal ist, alles niederzutreten, was sich ihnen in den Weg stellt.

»Denn du!« leuchte er heiser und streckte die Hand aus ... »Da ist die Tür ... wenn nicht – ich wende den Paragraphen gegen Sie an, in welchem es heißt: Wer in das befriedete Besitztum eines andern widerrechtlich eindringt und darin verweilt ohne Befugnis ...«

»Mehr nicht!« lachte Stäwe. »Soll mir auch nicht drauf ankommen.«

»'naus jetzt! – oder es passiert hier zwischen den Pfählen ein Unglück.«

»Nee,« sagte Stäwe, »keine zehn Pferde bringen mich hier von der Stelle; denn wo die sind« – und er zeigte auf ein Paar zierliche Holzschuhe, die seitlich der Tür standen, die ins Nebenzimmer führte – »da bleibe ich auch; denn sie passen zum untern Gestell meiner Frau wie die Wolle zum Schafbock.«

»Mensch!« schrie sein Gegner. Eine wilde Verstörung hatte sich an ihn geworfen. »Ich sage noch einmal: Da hat der Zimmermann das Loch gelassen. Hinaus jetzt!«

»Und hätte er meinetwegen hundert Löcher gelassen und mehr noch, ich bleibe. Erst das Weib will ich sehen. Und du, du ausgeknobelter Halunke und Schürzenmarkör – gewiß, du hast meinen Dirk zum Gelehrten gemacht und mich zum Hohngepiepel im Dorf, zum echten Hansnarren, dafür aber die Lene von ihrem ehrlichen Bettstroh geworfen. Das ist mir ins Handgelenk und in die Nieren gefahren. Ich bin nur ein Simpel, das weiß ich; aber auch unsereins hat sein Honnör zwischen den Rippen, und das hast du aus dem Pferch meines Hauses geschmissen. Aber das tut nichts. Das repariert sich schon wieder. Sperrangelweit reiß' ich die Tür auf und rufe: 'rein sollst du kommen! Denn so'n Hundsfott, wie der ist... –«

»Kanaille, verfluchte!«

Der Gutsherr drängte der Wand zu, wo etliche Flinten und Drillinge hingen. So ein glattläufiger Drilling! – Er griff nach dem ersten.

»Halt!« wetterte ihn Stäwe an und suchte zwischen die Waffe und seinen Gegner zu kommen, »Hand von dem Dings da! Das ist für Hasen und Karnickel bestimmt, aber nicht dafür, um einen elenden Kerl, dem das Ehebett verschandludert wurde, schlankweg kalt und alle zu machen.«

»Aber ich werde, ich werde ...!«

Die Fäuste des Gutsherrn umspannten Kolben und Stahllauf.

»Ich werde zum Mörder ...!«

Er machte sich fertig.

Seine Augen waren blutunterlaufen.

»Was?!« keuchte Stäwe. »Wahrhaftig, er tut es. Er riskiert es, auf Menschen zu schießen!«

»Man keine Sorge. Er tut's schon, und Gott sei dir gnädig!«

»Lump bleibt Lump!«

Über Stäwe fiel ein Pochen und Poltern. Als wäre die Flanke am Paternosterdeich eingedrückt worden, so war ein Rauschen um ihn, ein Donnern und Brausen ... In seinen Pupillen stand ein milchweißes Licht. In ihm saß der Tod.

»Hurra!« schrie Stäwe und beugte sich nieder.

Seine Faust packte zu, und sie packte sicher und herrisch. Den linken Holzschuh hatte er sich von der Lammfellsocke gerissen – und reckte sich auf – und warf sich rücklings – und lachte, wie die Verzweifelten lachen.

Drohend stand das blankgescheuerte Holz zwischen Diele und Decke.

»Hier mein Präsent, du Weiberverführer, du hochgeborener Bettschänder und Lump! Hurra, die Enten!«

Und dann ein Krachen und Brechen.

Schwer und dumpf hämmerte der Schuh gegen die Stirn des verlorenen Mannes, während eine schrille Frauenstimme die weiten Flure durchgellte.

»Das wäre geleistet,« sagte Stäwe benaut vor sich hin, wischte sich den Schweiß von der Stirne und begab sich langsam ins Freie. Keiner behelligte ihn, keiner wagte es, ihm den Weg zu verlegen. Durch die sternklare Nacht ging er dem nächsten Friedensgericht zu, um sich dort zu stellen.

Über den Gutshof fielen die Schatten des Todes, und in der bescheidenen Stube des Meisterknechtes, wo sie jetzt dabei waren, Sinter Klas zu begehen, meinte der kleine Jupp: »Nich, Vater, Mynheer is nich artig gewesen.«

*

»Ah!« sagte Dirk Vogels.

Mit wirrem Denken sah er stumm vor sich hin.

Arnt Douwermann hielt mit seinem Sehen inne, trat an die Seite des Insichgekehrten und sagte: »Herr Vogels, nun aber legen Sie Ihre dummen Gedanken beiseite. Es führt zu nichts. Sie kennen ja die Weiber, und das soeben Gehörte ...«

»Herr Douwermann ...!«

Der junge Magister fuhr aus seinem Sinnen und Träumen.

»Das mit Therese – schon möglich ...«

Er fuhr sich mit der Hand über die Schläfen.

»Aber was da noch kommen wird ...« sagte er schmerzlich. »Herr Douwermann, ich hatte bisher nur Schatten im Leben, und wenn die Sonne einmal freundlich sein wollte, dann gab sie höchstens ein schwindsüchtiges Leuchten. Endlich jedoch glaubte ich, das Licht und das Leben gefunden zu haben, und als ich erhobenen Hauptes hineinschritt, als ich die Arme breitete, um das Licht und die Sonne an mich zu reißen ...«

Er brach jäh ab.

»Nichts, nichts!« rief er mit weher Betonung und sah wieder in die Landschaft hinaus, über den Garten fort, wo schon das Abendrot fröstelnd den tiefen Himmel bedeckte.

Kopfschüttelnd nahm der Alte wieder seinen ruhigen Schritt auf und dachte still vor sich hin: »Man muß ihn gewähren und ausgrübeln lassen. Es ist schon das Beste. Ich kann warten und warte.«


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