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6

Mein lieber Herr Vogels, die letzten Augenblicke klärten mich auf, aber ich wollte nicht stören. Alles hat seine Daseinsberechtigung: Sinnen und Grübeln und das Abgestorbene wieder ins Leben zu stellen. Das taten auch Sie, und das ist Ihr gutes Recht gewesen, Herr Vogels. Ich kenne die Menschen. Sie haben ihre Absonderlichkeiten und gehen ihre verschlungenen Wege, um auf ihnen ihre Gedanken zu sammeln, zu ordnen und mit sich selber ins reine zu kommen. Auf solchen Pfaden soll man die Insichgekehrten nicht stören. Vornehmlich solche nicht, die vom Niederrhein stammen. Sie gehören zu den Stillen im Reich, und was sie bewegt, was sie mit sich herumtragen, das wird von ihnen selber erledigt. Sind sie aber aus ihrer Unruhe und dem Gröbsten heraus, sind sie mit sich selber im klaren, dann tauen sie auf wie die eingefrorenen Binnenwasser ihrer engern Heimat. Ich weiß es: Sie haben die große Heerschau über Ihr Leben gehalten.«

Der junge Magister nickte.

»Na also! – und bei dieser großen Heerschau sind Sie bei der jetzigen Stunde angelangt.«

»Auch das.«

»Dabei sind Sie zur Überlegung gekommen: mein Dasein ist ein verfehltes gewesen; denn mein letztes Hoffen ist nicht in Erfüllung gegangen.«

»Herr Douwermann ...!«

»Ich weiß es, oder glauben Sie denn, ich sähe nicht tiefer, bemerkte nicht, was Ihre Seele bewegt, wie die unbedachte Bemerkung von eben, wenn auch fürsorglich und in bester Absicht gegeben, Ihren innern und äußern Menschen aus dem Gleichgewicht brachte!«

Aber die Stirne des jungen Mannes zog sich eine häßliche Furche.

»Ich komme über die Geschichte nicht fort,« sagte er schartig.

»Das ist es ja, was ich befürchte, will aber nicht annehmen, daß sich bei Ihnen der Spruch verwirklichen sollte: Quod deus perdere vult... Nein, ich bitte darum: jetzt möchte ich sprechen, Herr Vogels; denn Ihre Schlußfolgerungen, die Sie aus dem Gehörten zu ziehen gedenken, sind dazu angetan, das Ansehen meines Hauses und das meiner Tochter in ein eigentümliches Licht zu rücken und damit schwer zu gefährden. Nicht mit Absicht – schon den leisesten Gedanken hieran weise ich von mir – allein Ihr Zweifeln ist kränkend. Sie zweifeln, Herr Vogels, Sie sehen Gespenster, Gespenster genau wie Therese – und wenn wirklich der junge Klotz irgendwelche Absichten haben sollte, wenn es ihm auch ferner einfiele, sich mehr als gewöhnlich über meinen Garten und meine Blumenrabatten zu wundern, was hat das mit Ihnen oder mit meiner Tochter zu tun? Zugegeben, Herr Vogels, während seiner letzten Abwesenheit mag er sich um Johanna bemüht und ihr Fenster beobachtet haben. Aber was folgert daraus? Ist meine Tochter infolgedessen schuldig geworden? Ist sie Ihnen hierdurch zu nahe getreten, oder sind Sie willens, Ihrem vermeintlichen Nebenbuhler Licht, Luft und gute Gewohnheit zu nehmen?«

»Herr Douwermann, Sie verstehen mich nicht.«

»Ich verstehe Sie schon, und weil ich es tue, bin ich genötigt, den Stier bei den Hörnern zu packen und ihn gefügig zu machen. Nur auf diese Weise wird reine Bahn geschaffen und ein Unheil verhütet. Sie und ich, wir sind jetzt unter uns, stehen uns als rechtschaffene und ehrliche Männer Stirn gegen Stirn gegenüber; da ist es an der Zeit, die Scheuklappen fallen zu lassen und vernünftig zu reden.«

»Ich bitte darum.«

»Daß Sie sich um Johanna bemühen,« sagte der Alte, indem er seine Hand auf den Arm des jungen Kollegen legte, »ist mir bekannt, daß sie Ihre Neigung erwidert, nehme ich an, und daß ich mich aufrichtig freuen würde, in Ihnen meinen künftigen Sohn zu begrüßen, brauche ich Ihnen nicht des längern auseinanderzusetzen. Wie es aber in Wirklichkeit im innersten Herzen meiner Tochter aussieht, ob Sie darin wohnen und dauernd Wurzeln und Masern geschlagen haben, das müssen Sie selber am besten beurteilen können. Jedem seine persönliche Freiheit! aber das weiß ich« – und seine Worte nahmen einen harten und klingenden Ton an, als wären sie auf einem tönenden Amboß geschmiedet – »für zwei ist kein Raum da. Das gibt's nicht. Haben Sie ihr Jawort erhalten, oder sind Sie mit ihr anderweitig einig geworden, so ist das gerade so gut, als wäre dies vor Notar und Zeugen geschehen. Und wenn Sie ein übriges wollen, ich meine: wenn Sie es für erforderlich halten, dem törichten Geschwätz den Kopf zu zertreten – es wäre ein leichtes ... Hierneben arbeitet sie. Mag sie selber ihre eigenen Rechte vertreten. Ich werde sie rufen.«

Mit großen Schritten ging er unwillig der gegenüberliegenden Tür zu.

Dirk Vogels vertrat ihm den Weg.

»Herr Douwermann, jetzt nicht. Unter keiner Bedingung. Wie kommen Sie darauf? Es ist ja auch nicht um ihretwegen, sondern um seinetwegen, daß ich in dieser seelischen Erregung vor Ihnen stehe; denn was sich zwischen Johanna und mir angebahnt hat, will seine Zeit haben und kann sich erst mit den Tagen entscheiden. Man soll eine Blüte nicht stören, sie nicht gewaltsam vor der Zeit aufbrechen wollen. Sie muß sich langsam und kraft eigenen Willens entfalten ... und das wird auch geschehen. Nein, um dessentwillen ist mir nicht bange. Etwas anderes bedrückt mich. Es kam über mich wie ein giftiger Hauch, ganz unversehens, und das Wort Theresens: Der Mensch rasiert uns noch das Glück aus dem Hause, würgt mir den Hals zu und hat sich an mich gefressen wie eine gierige Ratte.«

Der Alte riß die Augen auf.

»Also doch noch Gespenster?!

»Herr Douwermann, ich hab's lange empfunden, ohne es sagen zu können. Schon im vergangenen Sommer, als er hier war, als sie ihre gemeinsamen Spaziergänge machten, hatte ich schwer daran zu tragen. Gründe fehlten hierfür; nur ein unbestimmtes Bewußtsein, eine quälende Angst... Auch das ging vorüber. Aber die jetzige Stunde hat alles wieder ins Leben gerufen. Nennen wir die Dinge doch beim richtigen Namen. Den alten Herrn lasse ich hingehen. Er hat seine seltsamen Schrullen, seine verschnörkelten Ideen und Ansichten, und ich bin selber Zeuge seiner eigenartigen und bizarren Feste gewesen. Man lächelt. Die Kleinstadt würfelt eben die Menschen bunt durcheinander. Man fügt sich, um mit allen in Eintracht und Frieden zu leben. Aber der junge, dieser Stürmer und Dränger ... Entweder er oder ich ...«

»Und wenn es so wäre?! Sind Sie nicht Mannes genug, ihn aus dem Felde zu schlagen?«

»Mannes genug?! – Das wird die Stunde erbringen und drückt mich nicht weiter. Kommt er in ehrlicher Absicht, zum Kampf Auge in Auge und Stirn gegen Stirn – ich füge mich dem Geschick, wie es auch ausfällt und so schwer es auch sein mag. Das ist es nicht. Die Sache liegt verzwickter und tiefer. Es gibt Menschen, die überreiten das Heiligtum einer harmlosen Seele. Und so einer ..«

Sein stilles Gesicht war kreidig geworden.

»Ich halte ihn für fähig, das Glück dieses Hauses aus dem Senkel zu heben.«

»Was ...?!« stammelte der Alte. Für einen Augenblick stand ihm der Atem still; aber er faßte sich wieder. Mit weiten Blicken trat er rückwärts, umgriff eine Stuhllehne, die ihm just in den Weg kam, und streckte sich aufwärts. Langsam fielen ihm die schweren Augenlider herunter. »Also das ist Ihre Sorge gewesen! Sie bangen um den Frieden und das Glück dieser Schwelle; aber ich sage Ihnen« – und seine Worte kamen ihm zäh und langsam von den Lippen herunter – »diese Sorge müssen Sie schon mir überlassen. Hier, wo ich fuße, ist mein Haus und mein Tempel, und in diesem Tempel habe ich mein Heiltum errichtet. In ihm wohnt meine Ehre und die meines Kindes, und wer diese zertrümmert, hat es mit dem Leben zu büßen. Also geschieht es, so wahr ich hier stehe. Einmal, so geht die Legende, ist dem Hause Douwermann unnennbares Unglück geschehen. Bei all seiner Kunst konnte der große Heinrich seinen Tempel nicht schützen. Er wurde entweiht, und mein stolzer Vorfahr ist darüber sinnig geworden. Das soll und wird mir niemals passieren, es sei denn, der Herr schlüge mich mit unverzeihlicher Blindheit. Zahn um Zahn und Auge um Auge, Herr Vogels. Ich meine nur so; denn ich bin immer gewohnt gewesen, ganze und propere Arbeit zu machen. Sie müssen mich schon richtig verstehen. Seien Sie versichert, hier in diesen vier Pfählen wird das Glück nicht aus dem Senkel gehoben, wenigstens das Glück nicht, das mein Höchstes bedeutet. Vor dem Tabernakel meiner Ehre halte ich die Fahnenwacht, ich selber, bin mir selber genug und habe keinen andern Hüter vonnöten. Und daher, mein Lieber, kein Sorgen und Bangen. Diese Fahnenwacht müssen Sie schon mir überlassen. Das übrige« – und seine Stimme nahm wieder einen warmen und sonnigen Ton an – »mag ich getrost in Ihre Hände legen. Hoffen Sie, leben Sie im Dienst Ihrer Liebe, heimsen Sie ein, und Sie sind mir und meinem Hause willkommen.«

Er streckte ihm beide Hände entgegen. Ein helles Leuchten war in seine Augen getreten: »Und so gebe ich mich denn der frohen Zuversicht hin: meine Worte haben einen fruchtbaren Boden gefunden. Ich bitte um Antwort. Habe ich recht oder unrecht?«

»Sie werden schon recht haben, Herr Douwermann.«

»Und alle Gespenster ...?«

»Ich werde mir Mühe geben – sie sollen verbannt sein.«

»Und sind es für immer?«

»Ja, Herr Douwermann, sie sollen für immer verbannt sein.«

»Dann wäre diese Sache erledigt und zwar völlig erledigt, sonst: es wäre zuviel Ehre für den jungen Menschen gewesen. Man beachte ihn höchstens, wie man einen Nebelstreifen beachtet. Nicht mehr und nicht weniger. Meine Tochter steht zu hoch, und mein Haus ist zu fest gefügt, um irgendwelchen Schaden zu leiden. Und Sie ... sind Sie erst mit Johanna einig geworden, ist Ihr Wunsch in Erfüllung gegangen – den möchte ich sehen, der imstande wäre, die schöngezogenen Kreise zu stören. Also nichts mehr davon! Und nun, mein junger Freund, was ist der eigentliche Zweck Ihres Kommens? Ich nehme wenigstens an, Sie haben eine Mission zu erfüllen.«

»Allerdings – und zwar eine solche freudiger Art.«

»Und diese wäre?«

»Herr Douwermann, Sie wissen um meine Arbeit in den verflossenen Monden. Sie war nicht vergebens. Eine gewisse Spur ist gefunden, die um so bedeutsamer erscheint, als sie mit der heutigen Revision in der Kirche zusammenfällt. Das Geheimnis macht Miene, sich entschleiern zu wollen. Unmerklich, aber doch mit einer subtilen Bestimmtheit schürzen und verknüpfen sich die einzelnen Fäden zu einem festen Gewebe.«

»So hätten Sie wirklich ...?«

»Ich glaube.«

Aber das scharfgemeißelte, glattrasierte Gesicht des sehnigen Mannes legte sich das versonnene Lächeln eines glücklichen Finders. Gleichzeitig entfaltete er ein zusammengekniffenes Papier mit markanten Schriftzügen.

»Hier, dieses Niedergeschriebene, das ich einer soeben aufgestöberten städtischen Rechnung aus dem Jahr 1506 entnahm, läßt es wahrscheinlich werden, daß der Schrein zu den Sieben Schmerzen Maria tatsächlich von Ihrem Vorfahr Heinrich Douwermann herrührt, und daß dieser, laut Kodizill aus viel spätern Jahren, über sein Leben und Schaffen Aufzeichnungen hinterließ, zweifelsohne für die Familie und die Nachwelt bestimmt, um, wie er sagt, Zeugnis abzulegen über bemerkenswerte Tage in seinem erfolgreichen Schaffen, sowie über solche, während welcher Krieg, Hungersnot, Pestilenz und häusliche Kümmernisse regierten.«

»Mein Gott und mein Heiland! Also endlich gefunden! – und Heinrich Douwermann ist wirklich und wahrhaft der Schöpfer des Feinsten, was die hiesige Kirche besitzt?! Sie scheinen doch dieses behaupten zu wollen?«

»Die städtische Rechnung gibt wenigstens diesen greifbaren Anhalt.«

»Und was sagt die städtische Rechnung?«

»Kurz dieses: Anno Domini 1506 und am Tage, so man feierte das Fest des heiligen Johannes Baptista, wurde Meister Heinrich, Bilderschneider im hiesigen Kirchspiel, vom städtischen Rat und der Fraternität Unserer Lieben Frau in Eid und Verpflichtung genommen, den neuen Schrein zu errichten und mit Gottes Hilfe fertig zu stellen, wurden ihm hierzu auch fünfzehn Goldgulden und sechs Hornsche Gulden auf Vorschuß gegeben. – Allerdings der Altar wurde nicht näher bezeichnet, doch dürfte er identisch sein mit dem, der jetzt schadhaft geworden. Im übrigen verwies die spätere kurze Notiz auf die getätigte Urkunde.«

»Und diese Urkunde ...?«

»War bis jetzt nicht aufzutreiben. Das hiesige Archiv versagte, und alle Forschungen meinerseits, nähere Anhaltspunkte zu gewinnen, blieben erfolglos. Möglich, daß die Regesten des Hospitals und der Kirche noch die wünschenswerte Klarheit erbringen. Wie dem aber auch sein mag – schon jetzt ist so gut wie bewiesen: Heinrich Douwermann, und kein anderer, ist der Verfertiger des berühmten Schreins gewesen.«

»Und ich bin sein Nachfahre,« sagte der Alte mit inniger Freude, »und kann mich in seinem Ruhm und seinem Leuchten ergehen, wie sich eine alte, einsame Fichte umgoldet, wenn das Abendlicht sacht und feierlich heraufzieht. Und das danke ich Ihnen. Weiß Gott, mein lieber Herr Vogels, in der verflossenen Nacht habe ich über manches gegrübelt, und beim Grübeln ist das Wünschen gekommen wie das Tagen über dem Walde, und da sagte ich mir: Herr, wenn du gnädig sein würdest und mir noch verstatten wolltest ...«

Er wurde unterbrochen.

Draußen stand der Pastor Petrikettenfeier ten Hompel im Schnee, pochte mit scharfem Knöchel gegen die Scheiben und machte sich mit den Worten bemerkbar: » Tres faciunt collegium! Darf ich ins Haus hinein, so wie ich bin, mit Flocken behaftet, mit derben Schuhen und tropfender Nasenspitze? Die militans ecclesia fröstelt. Puh, diese Kälte!«

Ein fröhliches Winken! –und keine zwei Minuten vergingen, da war auch schon der kleine geistliche Herr mit dem eisgrauen Kopf, den stechenden Brombeeraugen und dem behäbigen Spitzbäuchlein in das warmdurchkachelte Zimmer gerumpelt.

» Ecce nunc benedicite!« rief er in munterster Laune und tat einen vergnüglichen Schnalzer. »Schnee und Frost machen ein heiteres Geblüt, und wenn ich nicht irre, begegne ich hier feiertägigen Augen!«

»So ist es, Hochwürden; denn wir waren gerade dabei, dem › Ecce nunc benedicite‹ auch die äußere Weihe zu geben. Sie müssen nämlich wissen, Herr Dechant: in der verflossenen Nacht hatte ich ein heißes Gebet auf den Lippen und stellte es dem Schöpfer des Himmels und der Erde so fest und eindringlich vor, als sollte es für die Ewigkeit halten. Gebet und Bitte in einem Atem! – und ich flehte zum Herrn, meinem großen Vorfahr endlich zu seinem Recht zu verhelfen und ihm das zu verbriefen, was er beanspruchen kann vor Gott und den Menschen. Das Gebet mußte wohl aus ehrlichem Herzen gekommen sein; denn der Herr hatte ein Einsehen und trat in einer städtischen Rechnung aus damaliger Zeit, die er meinem jungen Kollegen in die Hände spielte, den unumstößlichen Beweis an, daß ... nun eben, daß ... Kein Zweifel mehr: Heinrich Douwermann ist der Schnitzer des Schreins zu den Sieben Schmerzen Mariä.«

» Gratulor, Gratulor! Daher auch wohl die feiertägigen Augen?«

»Daher sind sie gekommen, Hochwürden.«

»Gelobt sei Jesus Christus! – und was mich anbetrifft: ich werde sie noch feiertägiger machen. Zuvor jedoch und wenn's nicht geniert: 'ne behagliche Ecke und Rauch um die Nase ... Kann ich das haben?«

»Aber natürlich!«

»Dann ad loca!« sagte der Dechant mit heiterm Schmunzeln. »Kinder, Kinder! – ein niedliches Sofa, 'ne kleine Dosis Kanasterarom und draußen so'n knuspriges Wetter – da kann man schon den Pontifex spielen!«

Scherzhaft flocht er die Hände zusammen, langte hierauf eine von den gestopften Tonpfeifen von der nahen Anrichte, ließ sich von Dirk Vogels mit einem brennenden Fidibus bedienen und blies die ersten blauen Wölkchen zur Decke.

Die wohldurchwärmte Magisterstube war plötzlich zu einer feindurchwölkten Tabagie geworden. Petrikettenfeier streckte die Beine und führte den Vorsitz. Er saß hinter dem altmodischen Rundtisch, dicht neben dem Ofen, ihm zur Linken der Alte, zur Rechten Dirk Vogels, und wie es so kam: alle drei ließen sich von dem innigen Behagen der Stunde umweben, nickten sich wechselseitig zu, folgten den Rauchwölkchen in stiller Betrachtung und hörten auf das Geplauder der emsigen Feuerzungen, die für einige Zeit die Kosten der Unterhaltung bestritten und immer redseliger und lustiger wurden. Das Schneetreiben hatte nachgelassen. Nur noch vereinzelte Flöckchen rieselten gegen die Scheiben, aber so bitterkalt und grimmig, daß ihnen nichts anderes übrig blieb, als in scharfen Splittern auseinander zu stieben. Das Licht des Tages schrumpfelte merklich zusammen. Nur auf den höchsten Giebeldächern lag noch ein mattes Schimmern, ein Überbleibsel des mürrischen Westens, das so recht nicht aufkommen konnte und in den kalten Dunstschleiern langsam erstickte. Schneeblau dämmerte der Abend ins Zimmer, drängelte sich in die Ecken hinein und wärmte die verklammten Hände an den glühenden Buchenknubben, die hinter dem schwarzen Türlein rumorten und knisternde Funken in den Aschenkasten hineinsprudelten. Und dieser schneeblaue Abend spann geheimnisvolle Fäden um die drei einsamen Menschen, von denen jeder sich mit seinen eigenen Gedanken beschäftigte, Gedanken, die dennoch eines Geistes waren und sich wechselseitig berührten.

Endlich brach Petrikettenfeier das Schweigen.

» De nihilo nihil. Nur eifriges Sorgen und Schaffen bringt Früchte, und ich kann mir lebhaft vorstellen, mein lieber Herr Douwermann, wie es Ihnen ums Herz ist! Das ist ja, um zuhöchst auf die Akazienbäume zu klettern, um von hier aus einen getragenen Psalter über die Menschheit zu singen. Ja, ja, es bleibt schon eine bedeutsame Sache, wenn einem an Stelle der muffligen Vermutungslampe das helle, klare und prachtvolle Licht des Forschers und Finders entgegenleuchtet. Aber bevor ich mein ›Ja und Amen‹ dazu sage« – und der geistliche Herr klopfte jovial auf den Tisch, daß davon der Fidibusbecher vergnüglich aufhoppelte – »bevor ich das alles mit meinem ›Genehmigt‹ unterfertige: Beweise, Beweise! – Butter bei die Fisch und bekömmlichen Wein in die Buddel! – Sind diese Faktoren gegeben, kann ich erst das Dokument fassen und greifen, soll auch meinerseits der Treffelkönig in die Verlängerung springen. Also ich bitte ...« – und als Dirk Vogels das Schriftstück wiederum seiner Brusttasche entnommen, es sorgfältig ausgebreitet und hingelegt hatte, als der geistliche Herr anfing zu lesen: »Anno Domini 1506 und am Tage, so man feierte das Fest des heiligen Johannes Baptista ...« als er dann nochmals las und zum drittenmal las und schließlich mit den Worten schloß: »Wurden ihm hierzu auch fünfzehn Goldgulden und sechs Hornsche Gulden auf Vorschuß gegeben ...« da ging so ein frohes Behagen über das liebe Gesicht, daß jeder seine Freude daran haben mußte.

»Beweis ist rechtskräftig,« sagte er mit erhobener Stimme, und es war ein schöner Abglanz darin, der auf Bedeutsames hinwies, » Post nubula Phoebus! Wahrhaftig, er lächelt; aber um diesem Lächeln noch den richtigen Tupfer zu geben: hier, meine Herren...« und er legte den geheimnisvollen Fund auf die städtische Rechnung, »und wenn sich gegen das Geschriebene auch Bedenken erhöben, wenn irgendein Querulant sich bemüßigt fühlte, von Falsifikat und ähnlichen Dingen zu reden – hier dieses Schnitzmesser, so der Meister nach getaner Arbeit vergaß und das sich selber zwischen Stab- und Maßwerk verfing, um dort Jahrhunderte hindurch zu träumen, dürfte vorliegende Urkunde wesentlich ergänzen. In meinem Beisein gefunden, redet es jetzt mit Feuereifer und singt den Introitus: Habemus magistrum

»Wa...was!« fuhr der Alte auf. Seine Hände nahmen das unscheinbare Ding mit einer heiligen Inbrunst entgegen, wobei er die Inschrift entzifferte, als wenn er eine Bibelstelle auszulegen hätte.

»Heinrich Douwermann ...« las er mit glücklichen Augen, reichte das Messer an Dirk Vogels weiter und wandte sich an den Überbringer des Fundes. »Hochwürden, das ist der glücklichste Tag meines Lebens.«

»Und was noch freudiger ist...« fiel der geistliche Herr ein, legte die Pfeife beiseite, erhob sich und sagte: »Nicht nur dem mystischen Dunkel, diesem großen Schweiger, noch eindringlicher als der Stille von der Thebais, kam die Sprache zurück, auch der Meister wurde gefunden, der berufen ist, den beschädigten Schrein wieder zu seinem alten Glanze zu verhelfen.«

»Und dieser Meister ...?«

»Ist Ihre Tochter Johanna.«

»Hochwürden ...!«

Pochenden Herzens waren der Alte und Dirk Vogels an seine Seite getreten.

»Es ist so,« bestätigte Petrikettenfeier ten Hompel. »Die Sache ist so gut wie entschieden. Da gibt's kein Tüfteln und Deuteln mehr, und wenn da noch querköpfige Besserwisser kommen sollten, um die Angelegenheit aus das Wasser ihrer Sonderinteressen zu leiten, so ist dieses Bestreben bereits eingedämmt worden. Bruderschaft und Kirchenrentei haben zugesagt, und was mich angeht, ich bin niemals darüber im Zweifel gewesen, von wannen das Heil kommt.«

»Selbst der Kirchenrendant ...?« warf Dirk Vogels dazwischen.

»Sie wundern sich über diese Gefolgschaft? Glaub's schon, glaub's schon! – und zugegeben, mein Bester: alles Gute, alles Bedeutsame liegt für ihn jenseits der Grenze; leider ein Erbteil der meisten rheinischen Menschen. Besonders bei ihm. Er hat schon seine Grillen und Absonderlichkeiten – dieser Kavalier aus altem und gediegenem Hause. Am liebsten hätte er sich für die Arbeit einen Bildner aus Frankreich oder den Niederlanden verschrieben, ist aber verständigem Zuspruch gegenüber nicht unbelehrbar gewesen. Gewiß, er steht mit einem Bein in abgeschmackten Vorurteilen, folgt dem Pulsschlag der Zeit nur mit säuerlichem Gesicht und wähnt noch immer, die blutigen Vögel der Revolution und die napoleonischen Adler fliegen zu sehen. Danton, Robespierre, Anacharfis von Klotz – und kein Ende! Unsinn, Vernunft, Laune und Frömmelei, Rosen und Immortellen – alles ist bei ihm zu einem kunterbunten Gemengsel vereinigt. Bußprediger und Scharfrichter in einer Person. Dazwischen kindliche Gebete und das Klingeln von Karnevalschellen. Ich für meine Person goutiere das alles, wie man einen fidelen Schwank und die Fiktionen eines seltsamen Menschen goutiert; stehe auch nicht an, seiner Einladung zur Inthronisation der Göttin der Vernunft Folge zu geben... und Sie, meine Herren – sollte auch an Sie die Aufforderung ergehen, die Feier durch Ihre Gegenwart zu beehren, verschließen Sie sich dem Ansinnen nicht. Fügen wir uns in das Unvermeidliche. Man kann nicht stets mit gleichgearteten Köpfen verkehren, nicht immer der schnurgeraden Landstraße folgen. Auch Seitenwege, mit drolligen Käuzen bevölkert, haben ihre Daseinsberechtigung. Die Zeit ist ernst genug; sie will Aufmunterung haben, und wie sich das bedachtsame Geschlecht des Mittelalters an dem Spektakel der Narren- und Eselsfeste erfreute, so mögen auch wir an den geistigen Purzelbäumen und Karnickelsprüngen unseres Mitbürgers und Kirchenrendanten in aller Einfalt und Schlichtheit unser Behagen finden. So wird beiden Teilen geholfen und damit ein Sturm im Wasserglase vermieden. Doch was die Hauptsache ist: er und sein Schwager sind Förderer meiner Überzeugung geworden, sein Schwager sogar in selbstlosester Weise, so daß ich meinen Herzenswunsch erntetrocken unter Dach und Fach bringen konnte. Und dieser mein Herzenswunsch ist den lautersten Motiven entsprungen. Keiner Parteilichkeit, keiner Laune oder sonstigen Winkelzügen zuliebe. Nur einem selbstlosen Gewissen und künstlerischen Erwägungen verdankt er seine Lebensfähigkeit. Und darum, Geliebte« – und das gütige Gesicht des geistlichen Herrn erstrahlte plötzlich unter einem warmen Lichtschein, der sich unversehens ausgetan hatte – »ist meine Seele voller erfreulicher Regung; denn aus dem Geschlechte der Douwermann wurde eine gewürdigt, dem gefährdeten Meisterwerk ihres großen Vorfahren wieder zu neuem Glanz zu verhelfen. Die Wahl sei gesegnet! Ihre Hände sind rein und ihre Augen befähigt, den verwehten Spuren zu folgen. Ich kenne Johanna. Sie ist anders geartet als solche, die mit ihr über die weiße Schwelle traten, wo die Kunst ihren Sitz hat. Viele sind berufen, sagt der heilige Matthäus, aber nur wenige auserwählt. Und sie ist auserwählt worden. Ein Jubel ist um sie, und tönende Schwingen berühren sie. Sie hat etwas von denen, die bestimmt sind, dereinstens an den ewigen Tischen zu essen.«

Die beiden horchten wie gebannt.

Das Licht war heller geworden; denn Therese, die die Lampe brachte, war vollends ins Zimmer getreten. Auf Zehenspitzen verließ sie wieder die Stube.

Welche Feier und Weihe! Und war alles wie mit einem goldigen Glanz übergossen.

»Amen, Amen!« sagte der Alte, richtete sich auf und glitt ernst und nachdenklich über seinen fließenden Bart und meinte alsdann mit glücklicher Stimme: »Herr Dechant, das ist wie aus einem Choral gesprochen, so heilig und groß tönt es mir zu und läßt alles vergessen, was einem im Leben an Leid und Bitterkeit widerfuhr. Wo sonst Wüsten lagen, da breiten sich jetzt sonnige Auen, wo trübe Wolken standen, lächelt der Himmel, und darüber hin zieht es wie ein verhaltenes Singen, wie eine ferne Symphonie, wie ein seliges, unsagbar schönes Hosianna. Und in dieses Hosianna hinein ... Ich darf sie doch rufen, Herr Dechant?«

Und der geistliche Herr legte ihm bejahend die Hand auf die Schulter, und da öffnete Arnt Douwermann die Tür zum Nebenzimmer ... Auch hier eine blendende Helle ... und in diese Helle hinein rief eine freundliche Stimme: »Johanna, der Herr Dechant läßt bitten.«


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