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11

Arnt Douwermann hatte sich unauffällig erhoben und schien Miene zu machen, das Haus zu verlassen.

Die Köpfe der Tafelrunde glühten. Der Punsch hatte seine Schuldigkeit getan und die Narretei ihren Gipfel erstiegen. Ein Mehr war vom Übel, und Arnt Douwermann erinnerte sich wieder der ihm zugeflüsterten Worte: »Man weiß nicht, was der Abend noch bringt. Besser ist besser, latet anguis in herba, man muß ihr den Kopf zertreten, bevor es zu spät ist,« und da trank er dem Gastgeber zu und sagte: »Meine Zeit ist um, Herr von Klotz. Abgesehen von kleinen Unzuträglichkeiten, die immerhin vorkommen können, war es ein genußreicher Abend. Ihnen und Ihren übrigen Gästen noch eine heitere Stunde.«

Der Alte sah ihn verständnislos an.

»Wie? Was? Sie wollen schon gehen? Sich drücken? Ähnlich so, wie es Hochwürden getan hat? Ausgeschlossen, mein Lieber. Einfach unmöglich. Sie hören doch selber: hier werden keine Scherben geredet. Alles einwandfreie und prächtige Ware. Der dritte und letzte Akt ist noch gar nicht zu Ende. Das Stück muß erst ausgespielt werden. Die Hauptsache kommt noch. Außerdem: Madam würde es schmerzlich empfinden, Sie nicht mehr zu sehen. Respekt vor den Damen! Machen Sie keine Geschichten. Bleiben Sie, bitte. Sie würden mich herzlichst verpflichten ...«

Die dringlichen Worte waren von einem innigen Flehen begleitet.

Da tat er ein übriges und setzte sich wieder.

Die Stille hielt an. Man hätte das Fallen einer Stecknadel vernommen, so lautlos und beängstigend war es mittlerweile geworden. Auch das Licht dämpfte sich merklich, schrumpfte in sich zusammen und nahm einen kirschroten Ton an. Alle Gesichter änderten sich in dieser Beleuchtung, nur das des Barons verharrte in seiner leblosen Färbung. Keine Muskel bewegte sich darin, keine Wimper zuckte. Die schmalen Lippen lagen fest aufeinander. Der Unterkörper verlor sich im Schatten. Der leichenhafte Kopf schien zwischen Tafel und Decke zu schweben, und die toten Augen begannen zu leuchten.

Das frühere Grausen kehrte zurück.

»Madame et messieurs!« sagte der Alte und hob seine Hand, um sie langsam und feierlich wieder sinken zu lassen. »Paris – die Stadt der Freiheit umdunstet! Die Seine flutet auf Gummischuhen vorüber. Nur ein behagliches Gurgeln ist in ihr, und mit diesem Gurgeln schlürft sie das Blut ein, das die Kanäle ihr zuführen. Auf dem Revolutionsplatz ist Ruhe. Keine Karren rumpeln durch die greifbaren Schwaden. Citoyen Samson erscheint nicht ... und Sie, Madam, Sie hatten ein Recht darauf, endlich Atem zu schöpfen; denn der zehnte November arbeitete sich bereits durch den Nebel hindurch, drückte ihn nieder, stopfte ihn in die dunklen Gassenzellen hinein und hob die Türme von Notre Dame in den ehernen Himmel. Das Licht, das Licht! – und Anacharsis von Klotz stöhnte auf im Konvent. Er hatte seine große Rede gehalten, die Suprematie der Göttin der Vernunft mannhaft vertreten, ihren Kult proklamiert – und harrte auf Antwort. Ha! rief er über alle Köpfe hinweg, on m'emportera de l'assemblée triomphant on en lambeaux! und stehe da, voilà, meine Herren: er wurde im Triumph und auf den Schultern zur Kathedrale getragen – ein Sieger – ein Großer – die Fackel und die Sonne von Frankreich!«

»Hurra, und hoch soll er leben!« schrie François Türlütt.

»Silence!« krächzte der Alte. »Notre Dame in Gala! Das ›ancien Régime‹ welkte ab, der dreieinige Gott senkte das Haupt und stürzte zu Boden wie 'ne dreiköpfige Aster über 'ne Herbstrabatte nach einer Frostnacht ... aber Notre Dame war in Gala, zuckte, strahlte ... Menschen soviel wie Sand in der Wüste, wie Tropfen im Meere ... Trommeln und Fahnen ... Engel und Harfen ... ganz Paris, Frankreich, die Welt unter dem Banner Anacharsis' des Großen ... und auf dem Altar des gestürzten dreieinigen Gottes erhob sich der Tempel der Freiheit, überglänzt von der Inschrift: ›A la philosophie.‹ Und die Tore taten sich auf, die goldenen Tore ... Ein einziger Schrei, ein einziger Jubel: Vive la république! Vive la montagne! – und geleitet von Anacharsis von Klotz zeigte sich Demoiselle Maillard, der Stern der Oper, das Weib von Paris ... jetzt › Ia Déesse de la Raison‹ ... keusch und hehr wie die ewige Göttin und nur von einem Gewand wie Spinnweb umgeben ... Dieser alabasterne Leib! Diese Schönheit! Dieser Kult der Natur! – Ein Hosianna der Göttin! – Und Anacharsis beliebte zu lächeln und streckte die Hand aus: Peuple à genoux, attends ta déliverance! Guerre aux châteaux, paix aux chaumières! – und der Erzbischof von Paris, Monsieur Gobel, legte Ring und Stab ab, fluchte dem Papst, stülpte sich die Jakobinermütze aufs Haupt und beugte die Knie ... und mit ihm Paris, Frankreich, die Welt ... Und das nackte Weib, das höchste Prinzip mit Mütze und Pike, straffte die Brüste, die Freiheit und Leben spendenden Brüste, und segnete alle. Halleluja! Das gewaltige Drama neigt sich seinem Ende entgegen. Ich bitte die Herren, dem zehnten Brumaire ein stilles Glas zu weihen und abermals die Gläser zu füllen. Es will Abend werden, Messieurs, und eine ruhsame, gesegnete und blutige Nacht. Distanz, meine Herren!«

Anatole schwieg und bereitete sich vor, dem tragischen Schauspiel einen würdigen Schluß zu bereiten.

Keiner störte ihn in seiner tiefen Betrachtung. Nur die Gläser wurden leer und füllten sich wieder.

»Madam,« fuhr er fort, und seine Stimme war so, als hätte sie schwarze, baumwollene Handschuhe an und eine Pleureuse am Hut und als wäre sie berufen, ein solennes Trauergefolge auf den Père-Lachaise oder auf den Kirchhof von Montmartre zu geleiten. »Madam, Sie haben schon recht, wenn Sie sagen: Je prends mon bien, où je le trouve – und Sie haben gefunden. Keiner entging Ihrer kalten Umarmung. J'accuse! – Nein, Madam, ich klage nicht an, ich hege keinen Groll, ich trage nicht nach; ich bin Ihnen vielmehr zeit meines Lebens verbunden. Sie handelten kurz, gewissenhaft, ohne Qualen und lange Fisimatenten zu machen. Ich denke dabei an Baruch Spinoza ... Jeder hat soviel Recht, als er Macht hat. Und sie hatten die Macht, Sie und Herr Samson ... Es mußte so kommen; denn Männer großer Gedanken, Volksbeglücker und Helden der Tat sind Märtyrer, Bekenner, Blutzeugen – sterben eines gewaltsamen Todes – müssen so sterben – können nicht anders ... Und da eines Tages –« und der Alte lachte auf, trocken und hart – »und da eines Tages, Madam, sah Anacharsis in seinen Spiegel hinein, in seinen kostbaren Spiegel, und sah ... nicht sein eigenes Bild, sondern die scheußliche Maske Robespierres, des Denkers, des Tyrannen und Würgers ...«

»Beispielsmäßig, Herr Schwager ...«

»Ruhe!« lärmte der Alte, »denn die große Gardine will allmählich herunter. Das Spiel geht zu Ende. Anacharsis wußte genug. Tout est perdu, fors I'honneur! – und er fügte sich willig. Distanz, meine Herren! Ja, er fügte sich willig, war ganz ruhig dabei, ohne Erregung, Edelmann vom Kopf bis zur Sohle. Von der Conciergerie fuhr er ab im schwarzen Jabot, nobel wie immer ... Nur der entsetzliche Karren knarrte so scheußlich ... dann halt! – Am Revolutionsplatz stieg er aus, ging fünfzehn Stufen hinauf, fünfzehn rote, glitschige Stufen ... degengerade, ohne zu wanken ... Bon jour! sagte Samson und zog die weißen Handschuhe herunter. Mille remercîments, monsieur Samson! – und dann, Madam« – und das Gesicht des Alten entstellte sich, wurde zur Fratze – »und dann, Madam, küßten Sie ihn, umarmten Sie ihn und gaben Sie ihm den Nasenstüber auf den Hals ... und siehe da: Paris stand in Blut, Frankreich, die Welt ... und die Göttin der Vernunft verhüllte ihr Antlitz und war eitel Bewunderung.« Seine Stimme schwoll an, verlor das Krächzende: »Anacharsis ist tot, ist lange schon tot, guillotiniert. Ihre Arbeit, Madam, Ihre prächtige Arbeit; und die Kundigen sagen: Il n'y a que les morts, qui ne reviennent pas. Nur die Toten kommen nicht wieder. Ich aber ...« und seine rechte Hand flog zur Decke und fuhr mit dumpfer Gewalt auf den Tisch – »ich aber – auf den Sargdeckel schlag' ich, ich, der Enkel Anacharsis' des Großen, ja, auf seinen Sargdeckel schlag' ich, heute am zehnten Brumaire, und rufe: heraus, Anacharsis, heraus, heraus ...! Anacharsis soll leben ...! hoch und nochmals hoch und zum drittenmal ...«

Mit einem gellenden Lachen brach er ab, während seine Gäste das Hoch wie verlähmt weitergaben. Er selber sank in den Stuhl zurück, knickte in sich zusammen, umgriff sein Punschglas und stierte mit glanzlosen, gebrochenen Augen über das Tafeltuch fort.

Allen war es so, als wäre Madam aufgestanden und ginge mit ihrem leichenhaften Antlitz und in ihrer scharlachenen Robe von Stuhl zu Stuhl, als legte sie einem jeden ihre marmorkalte Hand in den Nacken.

Herr Bollig sah ängstlich auf und wischte sich mit steifen Fingern über den Rock, als wenn er dort etwas wegwischen müßte.

Nur der junge Baron behielt seine Fassung.

»Na, und die Göttin der Vernunft?« fragte er hart und punschselig. »Was ist denn mit der? Soll sie denn nicht leben?«

»Die?!« fragte der Alte. »Ja, so! – das wäre mir beinahe durch den Schädel gegangen. Selbstverständlich, natürlich ...«

Langsam hob er das Glas und lallte seinen Gästen entgegen: »Auch sie soll leben – leben – leben ...!«

Mit einem dumpfen Laut, die Lehne seines Sessels umgreifend, sackte er in sich zusammen.

»Das war matt!«

Mit einem jähen Ruck war der Doktor in die Höhe gefahren.

»Matt war's!« rief er mit eherner Stimme, und seine Blicke gingen von einem zum andern. »Ich kann mir nicht helfen; aber dieses Hoch duftete nach Schimmel und Motten, nach Lavendelwasser und fader Konvenienz, und die soeben Genannte ist doch eigentlich die Hauptperson in der ganzen Geschichte, die Trägerin des heutigen Abends, und daher: als Sohn des Hauses muß ich in die Verlängerung springen, fühle ich mich berufen, ihr zu ihrem Recht zu verhelfen. Meine Herren!« und er straffte sich hoch. Sein geschmeidiger Körper war Nerven und Stahl. »Ja, meine Herren, ohne sie ist der zehnte November ein Nichts, ein Unding, ein leeres Phantom. Die Seele fehlt ihm ohne die Göttin, und sie ihm einzuhauchen, sei mir verstattet. Michelet sagt in seiner ›Bibel der Menschheit‹: Die Welt verzeichnet unaufhörlich ihr geistiges Dasein in einem offenen und für alle lesbaren Buche. Jedes große Volk schreibt darin seinen Abschnitt. So Michelet. Ich aber behaupte: für Frankreich hat nur sie allein diesen Abschnitt geschrieben, wenn auch mit blutiger Feder geschrieben. Schön, Anacharsis von Klotz war ihr Vater, seinem Haupt entsprang sie in glücklicher Stunde; aber sie selber ... nur sie allein war die Herrin, die Kettenbrecherin, die Allbefreiende. Frömmelsucht und Gottesquälerei zerrte sie von ihren angemaßten Sitzen herunter, und nur in Kraft ihrer eigenen Machtbefugnis nahm sie das Zepter und beglückte die Völker. Allerdings – für Thron und Altar hatte sie keinen Sinn, und das › Domine, salvum fac regem‹ war ihr ein Greuel. Aber schön war sie, diese Göttin, menschlich schön, wenn auch die Weiber des roten Terrors ihre Kammerfrauen und die Männer vom Revolutionstribunal um sie herumpantherten und ihre Ratgeber waren. Tut nichts! aber schön mußte sie sein, schön wie die Schaumgeborene, schön wie Astarte; denn nur in der Morgenröte der Schönheit wächst ein stolzes Menschentum auf, wird die Freiheit geboren. Sie anzubeten, ist Gottesdienst. Kultur und Sitte, Heldentum und Vaterlandsliebe atmen durch sie, leben durch sie, zeugen sich weiter durch sie, schaffen sich Bundesladen durch sie, leuchtende Tempel und glühende Sterne. Nichts ist schöner als das Weib, und unser tägliches Gebet sei die Sehnsucht nach ihm. Heidnische Sinnenauslebung führt zur Anschauung Gottes, christliche Askese zum moralischen Tode. Es gab eine Astarte zu Ninive, eine Aschtoreth in Karthago, eine Melitta zu Babylon, eine Venus zu Paphos und eine Göttin der Vernunft in Notre Dame zu Paris, und alle Völker riefen sie an und erstarkten im Anblick ihrer heiligen Blöße.«

»Wo führt das hin?« fragte Dirk Vogels.

Seine Hand fiel unwillig und schwer auf den Tisch.

»Warten Sie ab. Nachher, wenn es Ihnen beliebt, mögen Sie sprechen; aber das sage ich Ihnen: gefaßter als Sie werde ich dann Ihrer Antwort begegnen. Das ist akademische Sitte und ritterlicher Brauch so. Bitte, wollen Sie Notiz davon nehmen. – Meine Herren! Ich hörte soeben und sah soeben... Ich sah verstörte Gesichter, als der Herr Vorredner der Demoiselle Maillard, des Sterns der Großen Oper gedachte... Demoiselle Maillard ...! Schon ihr Name riß zur Bewunderung hin, und als die goldenen Tore sich öffneten, als sie erschien in der Robe ›à la grande gorge‹, oder besser gesagt, als sie als Göttin erschien und in heiliger Nacktheit ... ja, meine Herren, ich sah hier frömmelnde Ärgernis und verstörte Gesichter. Warum das? Weshalb denn? Aus einer mißverstandenen Moral heraus? Aus Schamgefühl etwa? Ist es an dem, so ist es eine Verkennung des sittlichen Prinzips in optima forma; denn schon Schopenhauer sagt ...«

»Aber Herr Doktor ...!«

Entschlossen und wuchtig hatte sich Arnt Douwermann in die Höhe gehoben. Mit flammenden Augen sah er auf den Sprecher.

»Das geht entschieden zu weit,« sagte er ruhig und mit verhaltener Stimme.

»Nichts geht zu weit, wenn es sich darum handelt, die lautere Wahrheit und den Urgrund der Dinge endgültig aus den Schlacken zu heben. Mit Litaneien und Vaterunserläuten werden keine Probleme bewertet. Wer sich in dieser Hinsicht entrüstet, ist schuldig ... und wer hebt den Stein auf? Einer von Ihnen? Sie, Herr Douwermann, oder Sie, Herr Vogels? Ich kann es nicht glauben und will es nicht glauben, wenn ich auch sehe, daß Sie gewillt sind, nach dem ersten besten Kiesel zu greifen.«

»Herr Doktor, satt und genug!«

Die Stimme des Alten überschlug sich.

»Herr Douwermann, Ihnen steht es nicht zu, mich zu unterbrechen und mir das Wort zu verbieten. Jeder ist sich selbst der Nächste, und ich hafte hier für mich und meine Idee und verfechte die These! Das Weib ist geschaffen, Schönheit zu geben und Liebe zu bieten. Nur in der absoluten Freiheit kann es sich zu seinem vollen Glanze entfalten, vermag es, mit dem Mann in den Wettkampf zu treten, in der Kunst das Höchste zu leisten. Engt ihr es ein, beschneidet ihr ihm die Schwingen des Geistes, führt ihr es in das mystische Halblicht der Kirchen, anstatt mit ihm auf die dominierenden Höhen der Forschung und der Erkenntnis zu pilgern, habt ihr den Mut nicht, ihm die Kleider vom Leibe zu reißen und seine Blöße zu schauen, dann muß es verkümmern, an Leib und Seele verkümmern – und wehe dem Weibe, das solchen Dunkelmännern anheimfällt. Noch schlimmer, wenn es, den Kuß der hehren Kunst auf der Stirne, dazu verdammt wurde, in religiösem Wahn auf den Knien zu rutschen, dumpf und stumpf das kirchliche Idol anzubeten und den Fastenprediger mit Stichel und Meißel zu spielen.«

»Was?!« rief der Alte. Seine Nasenflügel bebten. Er hob sich vom Stuhl, stemmte die Knöchel auf die Tischplatte und fragte. – »Von wem sprechen Sie eigentlich, Herr Doktor?«

»Ich dächte, meine Worte sind deutlich gewesen. Von Ihrer Tochter natürlich.«

»Lassen Sie Ihre Hände von meiner Tochter, Herr Doktor! Sie haben keine Gemeinschaft mit ihr und werden nie eine haben.«

»Das steht bei Fräulein Johanna, und bei mir steht es, dieses große Talent nicht dem Stillstand und dem Verfall in die Arme treiben zu lassen. Sie denken bei ihr nur immer an die Freude in Jerusalem, an Zimbeln und Harfen, an Papsttum und Kirche. Nicht an heidnische Andacht und eleusinische Feste. Deckt sich das mit dem Geist Ihrer Tochter? Nein – und tausendmal nein! Fort mit den Verirrungen des nazarenischen Schaffens! Ich fühle mich eins mit Anton Springer, wenn er in seiner Geschichte der bildenden Künste behauptet: Eben weil wir in der Plastik zu den rechten Grundsätzen gelangten, weil wir gegenwärtig genauer alle Bedingungen kennen, welche die Blüte der plastischen Kunst bei den Griechen hervorriefen, griffen wir zum Realismus. Unser Streben und Wollen und Können soll lebendig sein, soll nicht nur den Gaumen verwöhnter Kenner kitzeln, sondern Speise, Brot des Volkes werden. Sie aber, Sie und Ihre Gesinnungsgenossen, suchen das Heil der Gottbegnadeten in ihrem Abfall von diesen Gesetzen, geben ihr Haferwecken statt Weizen zu essen, treiben sie aus der Zelle der hellenischen Kunst und sind auf dem besten Wege, sie durch Verbannung des Nackten mit jenem kleinbürgerlichen Zug zu begnaden, die jede Monumentalität und die Breite der Auffassung von vornherein ausschließt.«

»Was soll das?!« rief Arnt Douwermann, plötzlich in die größte Heftigkeit ausbrechend. »Was heißt das? Mir ist so, als wenn einer mich um meinen gesunden Verstand bringen wollte.«

Blitze flammten in seinen stahlgrauen Augen. Quer über seine Stirne zog sich eine zornige Rippe.

»Mensch, wollen Sie schweigen!«

Begütigend legte sich Dirk Vogels ins Mittel, obgleich ihm selber zumute war, als müsse er die Fäuste ballen, um den Frevler niederzuschlagen.

Der Alte streifte die warnende Hand ab.

»Nichts da! – Der Mensch da soll schweigen!«

»Ich rede,« fuhr André unbeirrt fort, »denn jetzt ist die Stunde gekommen, die unverhüllte Wahrheit zu sagen, Vorurteile und ein nichtswürdiges Programm unter die Hechel zu bringen. Man soll schlafende Hunde nicht wecken. Aber ich peitsche sie auf...«

»Sie da – wer sind diese Hunde?!«

»Ich komme darauf ... vorerst: ich will Ihnen sagen, was getan werden muß. Sie sind allesamt Sünder – Sie, der Dechant und die seligmachende Kirche. Allesamt Sünder im Reiche der Kunst; denn Sie scheuen sich nicht, ein stolzes Talent zu ersticken und Ewigkeitswerte vermissen zu lassen. Weihrauch und Rosenkranz, asketische Anwandlungen und mißverstandene Traditionen tragen wesentlich dazu bei, den Kadaverkult unsterblich zu machen, und es ist widerwärtig zu sehen, wie diese Faktoren sich noch immer bemühen, ihr Werk zu vollenden. Sie schlafen scheinbar und sind dennoch beschäftigt. Für sie ist die Peitsche ... das mag Ihnen genügen; und Ihnen, Herr Douwermann, sage ich glatt vor die Stirn: Was Sie mir kleinlichen Geistes geboten, das befehle ich Ihnen kraft meines Berufes: Hand von Johanna! Berühren Sie dieses Künstlerleben nicht länger mit Ihren frömmelnden Gedanken, mit Ihren kirchlichen Fingern, sonst: Sie machen eine Nonne aus ihr, ein Zwitterding mit Spachtel und Meißel, hindern sie, den Pulsschlag der Auferstehung zu fühlen, ihr Glaubensbekennntnis aus dem Bildstock zu holen und die persönliche Größe zu finden. Das klerikale Treiben um sie beschleunigt ihren Abfall von Schönheit und Wahrheit, zermürbt ihren Geist und läßt ihr Selbstbestimmungsrecht in dem Pfuhl jammerseliger Mystik versumpfen. Ich, aber ich ...«

»André, ich bitte dich, André! Es sind meine Gäste!«

Mit stieren Blicken sah der Hausherr auf den höhnischen Sprecher. In wilder Not zog er den Atem pfeifend durch die Zähne.

»André ...!«

Dieser sprach über ihn fort und berauschte sich an seinen eigenen Worten.

»Ich, aber ich,« rief er aus seinem Punschnebel heraus, »ich sorge dafür, daß sie ihrer Allmutter Kunst nicht abtrünnig wird. Auf sie sollen die Worte nicht passen: Nachdem ich diese, meine Mutter, unter die Füße getreten habe, folge ich Christum nach. Ich will nicht, daß man von ihr sagen soll, sie hat Weihwasser statt Blut in den Adern. Nicht Gesetz, nicht kirchliche Zucht und sklavische Nachbetereien wuchten aus der Tiefe heraus, tragen empor und machen gottähnlich. Die Übermenschen der Renaissance kannten sie nicht; aber sie wußten: nur die körperliche und seelische Selbstbestimmung hebt aus dem Staub, führt zur Vollendung, und nur unter ihrem allbelebenden Odem werden Kolosse gezeugt und geboren. Und aus dieser Überzeugung heraus ... ich will nicht...«

»Und ich will nicht, daß Sie weiter hier reden.«

Dirk Vogels, der seine Empörung kaum noch zu bändigen vermochte, trat auf ihn zu, bleich, aber entschlossen.

»Entstellung, Selbstgefälligkeit und arrogante Kritik,« hielt er ihm vor, »springen von Ihrem Prägstock wie falsche Münzen herunter. Ich lasse mir vieles gefallen, Herr Doktor, und kann schon eine kräftige Dosis bizarrer Ideen vertragen. Selbst den grotesken Auslassungen Ihres Herrn Vaters konnte ich folgen, waren sie doch ehrlich gemeint und daher erträglich; aber ich muß mir ernsthaft verbitten ...«

»Herr, Sie wollen den Kampf!«

»Nicht in dem Sinne, wie Sie es anzunehmen scheinen, Herr Doktor. Es steht mir nicht an, mich mit Ihnen bei Ihrer Verfassung in einem kunsthistorischen Duell zu erproben, Ihnen ein Privatissimum über Sitte und Mäßigung und ein andres über die erste und zweite Blüte der deutschen Plastik angedeihen zu lassen, Sie zu belehren, welche Innerlichkeit aus diesen Bildwerken spricht, welche Herzensbildung, welches Gemüt und welche Tiefe in diesen Schöpfungen wohnen, welches naive Empfinden sie bergen, wie sie erfüllt sind von einer statuarischen Ruhe, die selbst die Hochrenaissance nicht besser verkörpert ... will Ihnen nicht sagen, wie diesen Gebilden, unberührt von jeder Libertinage, eine religiöse Überzeugung und eine Gottseligkeit innewohnt, die zu Tränen zwingt, die Herzen erhebt und wie mit Orgelstimmen die deutschen Meister umjubelt ... Ihnen dies zu beweisen, ist nicht meines Amtes, Herr Doktor. Im übrigen, Sie würden sich bei Ihrer ganzen Veranlagung dagegen sperren und es nicht wahr haben wollen. Also kein Wort mehr darüber. Aber ich verwehre Ihnen, Fräulein Douwermann in den Kreis Ihrer Debatte zu ziehen, sie zu bevormunden und sich zum Schirmherrn ihrer künstlerischen Bestrebungen aufzuwerfen. Sie dankt für die Ehre.«

»Das sagen Sie mir?«

»Ja, das sage ich Ihnen.«

»Sie sind wohl des Teufels, Herr Vogels!«

»Das zu beurteilen, überlasse ich andern Köpfen und solchen, die nicht unter dem Einfluß der Erregung und des Alkohols reden.«

Ein schallendes Gelächter schlug ihm entgegen.

»Wir sprechen uns noch!«

»Ich warte darauf und stehe nicht an, Ihnen noch dies zwischen die Schläfen zu hämmern, Ihnen, dem es gefällt, mit dem Dreschflegel einer schiefgewickelten Logik unter die Leute zu treten. Wir lassen uns nicht irremachen, nicht durch Ihre brutale Kathederweisheit eine andere Ansicht auftrotzen. Sie sind aus der Rolle gefallen, Herr Doktor. Ihr ganzes Verhalten in der vorliegenden Sache ist lediglich Vorwand und Maske, Ihr Glaubensbekenntnis fadenscheinig und splissig und gipfelt darin, Fräulein Johanna mit dem billigen Schlagwort ›Hochrenaissance‹, mit klingenden Fanfarenstößen und ähnlichen Mitteln zu ködern und ihrer Pflicht abtrünnig zu machen, sie ihrem ureigensten Berufe zu entfremden, sie in Ihre Hände zu spielen, um schließlich Ihre Herrennatur über ihr schuldloses Wesen prävalieren zu lassen. Das ist der Kern Ihrer vom Zaun gepflückten Suade, sonst alles nur Lappen und Flickwerk, um diesen Kern zu umhüllen ... und was Sie weiter bezwecken...«

Es schrie in ihm auf. Er rang nach Erlösung.

»Herr, was wollen Sie überhaupt? Was unterfangen Sie sich? Was greifen Sie mit Ihrer nichtswürdigen Faust in ein reines Menschen- und Künstlerleben hinein, in den stillen Herd eines häuslichen Glückes?! Ihr geschwollenes Dozententum – wir lehnen es ab. Ihre Beeinflussung Fräulein Johannas – wir verbitten sie uns. Ihre Glorifizierung der hellenischen Nacktheit in Ihrer nichtswürdigen Unterstellung – wir weisen sie von uns. Bleiben Sie uns überhaupt vom Halse mit Ihrer Astarte von Babylon, Ihrer Venus von Paphos und Ihrer Demoiselle Maillard...«

Seine Stimme rollte, und seine Stirne war vor Entrüstung weiß geworden.

»Wagen Sie es noch einmal, Fräulein Johanna mit diesen Auswüchsen einer kranken Phantasie in Verbindung zu bringen, ihr Seele und Leib zu berühren. Mag kommen, was will: nur über mich fort führt Ihr Weg ... nur über mich fort, so wahr ich hier stehe; denn ich habe meine Liebe, eine heilige Sache und mein Recht zu verfechten.«

Ein knochentrockner Schrei stieß das letzte Wort über die Seite.

»Herr, Sie – Sie maßen sich an ... Ausgerechnet Sie und Johanna! Schellenklingeln ist um mich und das Grinsen von Narren. Ausgerechnet Sie und Johanna! Krähwinkel und Hellas! Staubmensch und Göttin! Das ist ja, um mit dem Kopf durch die Scheiben zu stoßen und dreimal Hurra zu rufen. Gehen Sie in sich, tun Sie Buße in Sack und Asche, oder lassen Sie sich auslachen, Mann. Unsinn, du siegst! Der Verstand wird auf den Kirchhof gefahren. Ich aber, ich« – und die Faust krachte nieder ... »um die miese Stimmung zu heben und dem Revolutionsfest zu einem würdigen Schluß zu verhelfen – noch ein paar Worte. Die letzten. Einen Toast will ich halten.«

Trunken und stieres Gesichtes umgriff er sein Kelchglas.

»André, ich bitte dich, André ...!«

»Ruhe, alter Herr!«

»Hören Sie auf! Kein Wort mehr, Herr Doktor!«

Entsetzt hatten sich alle von ihren Stühlen erhoben.

»André, André ...!«

»Ruhe zum andern! Erst der Toast, dann die Jeremiade! – Hier – der Funke des Prometheus soll springen. Dem Fest, was des Festes! Es gibt Stunden, die machen lebendig und haben Blut in den Adern. Eine solche Stunde ist bei mir. Zum guten Beschluß denn, um die Göttin der Vernunft, die Göttin der Freiheit zu ehren... Wer war sie, wer ist sie? – Keine andere als die Venus von Paphos, die Trägerin der Schönheit, die Gebieterin, die Allmutter Natur, die Gefährtin der Herrenmenschen, die Allbefreiende...! Damals und heute! Noch einmal denn: dem Fest, was des Festes! Damals war Demoiselle Maillard die Heldin des Tages, und heute ...? – Johanna! – und hätte sie damals gelebt, sie und keine andere hätte die Göttin in heiliger Nacktheit verkörpert. Und darum die Gläser erhoben! – Johanna Douwermann – Maillard ...«

Das Hoch sollte kommen. Dirk Vogels sprang vor.

»Herunter damit!« und mit kurzem, jähem Stoß schlug er ihm das Glas aus den Fingern.

Mit hellem Schrei klirrte es nieder.

Ein Brausen und Stühlerücken ... ein allgemeiner Aufstand ... verstörte Gesichter ... und lähmendes Schweigen ...

»Das mir?!« brüllte André.

»Ja – das Ihnen, Herr Doktor.«

»So helfe Ihnen Gott oder der Satan!«

Seiner Sinne nicht mehr Herr, legte er die Faust um den Hals einer Flasche.

»Hand von dem Dings da! denn Sie haben doch den Mut nicht, die Waffe zu brauchen.«

»Das wollen wir sehen!« wetterte André; aber es war weder Glanz noch Metall in der Stimme.

Stirn gegen Stirn standen die beiden.

»Ich warte,« sagte Dirk Vogels, unerschüttert und mit gebietender Ruhe. Sein Blick zwang den seines Gegners zu Boden.

Und André ließ den Flaschenhals fahren – langsam und zögernd. Er fühlte: seine Zuversicht war in Scherben gegangen. Er hatte verspielt und einen Starken gefunden.

Die Waffe entfiel ihm.

Verlähmt und einen Fluch zwischen den Zähnen schritt er der Tür zu.

»Bravo, mein Junge!«

Arnt Douwermann stand neben Dirk Vogels.

»Gott lohn' es! Nichts weiter. Hier ist unseres Bleibens nicht länger; aber wir bringen eine ehrliche Sache nach Hause.«

Gemeinsam traten sie über die heiße Schwelle, in die Nacht voller Sterne.


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