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13

Seit etlichen Tagen saß Dirk Vogels im Kirchenarchiv über dem Südportal und mühte sich ab, der im Kodizill der städtischen Rechnung erwähnten Aufzeichnungen Heinrich Douwermanns habhaft zu werden.

Auf Veranlassung des Dechanten war der mit Bücherregalen, Schränken, Kisten, Truhen und allerlei abgestandenem Sakristei- und Meßgerät angefüllte Raum wohnlich gemacht und angewärmt worden. Viele Jahrzehnte hindurch hatte hier eine ordnende Hand gefehlt, und wie Petrikettenfeier ten Hompel seit seinem Amtsantritt auch predigen mochte und um Abhilfe bat – die bischöfliche Behörde in Münster zeigte nur geringes Interesse, dem Ansinnen Folge zu geben; sie schob Geldmangel vor, die wertvollen Schätze des durcheinander gewirbelten Archivs von sachlicher Hand ergründen, ordnen und registrieren zu lassen, und so blieb dem zeitigen Pfarrer nichts andres übrig, als sich auf bessere Einsicht zu vertrösten und ins Ungewisse hinaus Gottes Wasser über Gottes Acker laufen zu lassen.

Als Dirk Vogels zum erstenmal diese Dielen betrat, wurde er unwillkürlich an den Spruch des Egesippus erinnert, den Adalbert Stifter einer seiner schönsten Novellen vorgesetzt hatte, und der da lautet: »Dulce est, inter majorum versari habitacula et veterum dicta factaque recensere memoria,« denn das Herz stand ihm still beim Anblick dieser ungehobenen Kleinodien, bei dieser Fülle von stummen Zeugen, die in den alten Büchern, Pergamenten, Antiphonaren und Stiftungsurkunden sich bargen und unter ihrer Bürde von Staub und Spinnwebnetzen ihres Lebens nicht mehr froh werden konnten ... und doch brauchten sie nur die Augen aufzuschlagen und die Lippen zu öffnen ...

Er konnte kaum den Fuß aufheben, ohne über einen hingeworfenen Folianten zu stolpern oder auf ein zusammengeschnürtes und achtlos niedergelegtes Aktenbündel zu treten. In Schweinsleder gefaßte Ausgaben der Kirchenväter, gesammelte Anniversarien, getätigte Pachtverträge zwischen der Kirche und den Herzögen von Kleve, Hirtenbriefe, Berichte und Schreinsurkunden der benachbarten Pfarreien und Klöster – ganze Berge von Rollen, gesiegelten Schreiben und sonstigen Faszikeln füllten die Schränke, erhoben sich in allen Ecken und Winkeln, bedeckten die Tische oder drängten sich ihm von den verstäubten Repositorien und Gestellen entgegen.

Mehrere Tage hatte er bereits damit zugebracht, sich in dieser Wirrnis eine gewisse Ellenbogenfreiheit zu schaffen. Jede erübrigte Stunde benutzte er dazu, den Wust zu beseitigen, Licht und Luft zu fördern, die Materie einigermaßen zu sichten und Sinn und Verstand in die trostlose Masse zu bringen.

Endlich war er so weit, tiefer schürfen zu können und dem eigentlichen Zweck seiner mühseligen Arbeit näher zu treten. Eine neue Welt ging ihm auf, und viel des Interessanten zog an seinem geistigen Auge vorüber. Die Stunden wurden ihm zu Minuten, die Tage zu Stunden, und öfters flämmerte noch bis spät in den Abend hinein ein einsamer Gruß aus dem verschwiegenen Fenster, um dann still zu verlöschen.

Während seiner regsamen Tätigkeit vergaß er so manches, was ihm schwer auf dem Herzen gelegen und seine Seele bedrängt hatte. Den Revolutionsabend erwähnte er nur noch mit einem heitern Lächeln, und die Person des Angreifers selber zerteilte sich ihm in flüchtigen Rissen. Er dachte anders, vielleicht gerechter über ihn, als noch vor wenigen Tagen. Um so inniger versenkte er sich in das Geheimnis seiner Liebe, legte er die einzelnen Blättchen sacht auseinander und suchte bis auf den Grund des zarten Blütenkelches zu dringen. Der Duft ihres Haares, das seltsame Widerspiel ihres Empfindens, der köstliche Hauch, der ihrem jungfräulichen Leibe entströmte, alles das berührte ihn mit zärtlichen Fingerspitzen, etwa so, wie die Schwinge eines raschen Vogels eine tiefe Wasserfläche streift und sie spielend bewegt. Und ihre Stimme war bei ihm und sagte: »Suche nur immer; denn wenn du gefunden hast, so werde ich auch dein Weib werden müssen vor Gott und den Menschen ...« und sein Geist erschauerte in der Fülle des Glückes.

Hin und wieder sprach Herr Bollig vor, um nach dem Feuer zu sehen und der Rübsenöllampe frische Nahrung zu geben, redete bei solcher Gelegenheit viel buntes Zeug durcheinander, suchte dem mißglückten Fest noch ein winziges Räucherkerzchen anzustecken und den ganzen Verlauf als wohlgelungen hinzustellen, wenn er auch zugab, Herr Remmelmann habe moralisch während des fraglichen Abends nach Ziegenkorinthen und Bockmist gerochen; denn sein Verhalten habe bedenklich gegen die guten Sitten verstoßen und sei geeignet gewesen, den tadellosen Ruf eines unbescholtenen Mädchens schwer zu gefährden. Es wäre eine tiefbetrübliche Sache, kaum zu erklären und in ihren Folgen von unabsehbarer Tragweite. Gleich nach dem Ewaldikegeln sei sie kritisch geworden, habe einen unliebsamen Staub aufgewirbelt, und jeder sei der festen Überzeugung, der Herr Dechant sähe sich entschieden veranlaßt, sie vor sein geistliches Forum zu ziehen, um einem mit allem Vorbehalt abgegebenen Eheversprechen zu seinem Recht zu verhelfen.

»Un dat kann schon morge passiere; denn der Herr Dechant is sehr akkurat un bistimmt in soche Tillekatessen-Geschäfte.«

»So?!« lächelte Dirk Vogels über einen dicken Folianten fort und dachte das seine.

»Ja, sagen ich,« ergänzte Herr Bollig. »Ich kann Seiner Hochwürden nur beipflichte. Man muß nämlich wisse, Herr Vogels: bei dem feine Punsch, Braden, Kumpott un Gemüs hat sich Herr Remmelmann bitrage, als wenn er gar keine Minsch wär‹. Warum? fragen ich. Darüber kann sein Kontörche die beste Auskunf bisorge, un wenn ich ferner bidenke, dat Stina noch zu die Jumfern gehört, so hat dat 'ne ganz bisondere un schwere Biwandtnis; denn nach all der Liebhaberei, dem an einem Stück in die Ohre Gefispele un nach dem Drücke un Däue wird er sie heirate müsse, sonst wird die offe Moralität tirek ins Gesich geschlage un aufs kapitalste bileidigt. Gimeinste Sachbischädigung einer unsterblichen Seele lieg vor. Un dann noch, Herr Vogels ... aber Sie höre ja gar nich, Herr Vogels ... Na, da will ich nur noch als Poßnachschriff bimerke: Guten Abend, sagen ich, guten Abend, Herr Vogels, ich schürgen auf heim an.«

»Guten Abend, Herr Bollig,« und Dirk Vogels war wieder vereinsamt, saß zwischen seinen Handschriften und Schreinsbüchern, sichtete, ordnete, machte seine Aufzeichnungen und mühte sich redlich, den Spuren des alten Meisters näher zu kommen. Bis jetzt noch ohne nennenswerten Erfolg; aber je größer die Schwierigkeiten wurden, um so nachhaltiger drängte er nach, um das begonnene Werk zu einem glücklichen und allbefreienden Ziele zu führen ... und so vergingen ihm die Stunden wie Minuten und die Tage wie Stunden.

Und da eines Sonntagabends ...

Es mochte auf sieben gehen.

Draußen war ein unfreundliches Wetter, kälter als in den letzten Tagen, aber noch immer schudderig, dunstig und ohne jedes Sternenlicht. Matt und kaum wahrnehmbar grüßten die erleuchteten Fenster herauf. Die gegenüberliegenden Häuser schwammen im Nebel.

Ums Dunkelwerden hatte Herr Bollig noch einmal nach dem Feuer gesehen. Dann war niemand mehr gekommen. Alles gab sich ruhig und friedlich. Ein freundlicher Lampenschein legte sich über die hohen Büchergestelle. Nichts regte sich mehr in dem verschwiegenen Raum. Nur ab und zu ein Rascheln des Papiers, ein Knistern der emsigen Feder und dann und wann das feine Sirren einer Maus hinter den Schränken – alles dazu angetan, die große Stille noch größer und empfindlicher zu machen.

Dirk Vogels fühlte sich wohl in diesem endlosen Schweigen. Sein Geist war lebendig, heute mehr denn je. Die vergilbten Urkunden, die alten Pergamente und Druckschriften redeten mit ganz andern Zungen als früher, wurden sprachgewaltig und flüsterten ihm Dinge ins Ohr, die er mit heller Inbrunst begrüßte. Ein glücklicher Umstand hatte ihm ganz unversehens Aufzeichnungen übermittelt, die geeignet waren, die umliegenden Schatten bis zu einem gewissen Grade sacht zu verteilen: ein Konvolut von Papieren aus der Zeit der burgundischen und klevischen Herzöge ... aber nur die interessierten ihn, die sich mit der Regierung Johanns des Zweiten und des Dritten und mit ihren Beziehungen zu Calcaria civilis und der hiesigen Pfarre befaßten, denn um diese Zeit hatte Heinrich Douwermann gelebt und gewirkt und den Schrein zu den Sieben Schmerzen Mariä geschaffen, war das Werk der Kirche übergeben und eingeweiht worden. Auf dieser Fährte hatte er weiter zu schreiten. Jedes einzelne Stück wurde sorgsam gesichtet, gelesen und mit kurzen, hinweisenden Notizen versehen. Alles wurde lebendig um ihn, nahm Form und Gestalt an und winkte aus fernen Tagen herüber. Aus den grauen Blättern hob es sich auf, die verschnörkelten Schriftzeichen quirlten unter bläulichen Zeichen empor, wandelten und wechselten, um schließlich zu durchlauchtigsten Fürsten und schönen Edelfrauen zu werden, zu Klerikern und gepriesenen Künstlern ... und der Weihrauch dampfte, und die Teerpfannen brannten, und über den Wald hin hallten die Signale der Pauker und Heerdrommeter. Er sah Menschen und Geschicke, die nicht mehr waren. Und er hörte Stimmen, freudige Stimmen und solche, die sich in heißer Fehde bekämpften. Die klevisch-märkischen Stände zogen vorüber ... junge Maien, Kirchenfahnen und Banner ... Und dann wieder: Johann der Dritte in Kalkar, und bei ihm sein Weib, die schöne Maria, die Erbtochter des Herzogs von Jülich und Berg, auf feurigem Zelter. Einer ritt neben ihr, ein junger Kleriker; der riß sie an sich und küßte ihr Stirne und Mund und legte seine heißen Lippen auf ihren schneeweißen Hals, um sich andern Tages am Galgen wieder zu finden ... hat ihm aber kurz vor dem Scheiden der ehrwürdige Pfarrer hiesigen Kirchspiels, Herr Sybertus von Ryswick, Magister lib. art. et Decretorum Licentiatus, herzoglich klevischer Rat und Probst der Collegiatkirche zu Wissel, gut zugesprochen und ihm die letzte Zehrung gegeben, so daß er trotz seiner großen fleischlichen Sünde eingehen mochte in das Sanktissimum des ewigen Lebens ... ist auch am selbigen Abend ein lautes Bankettieren zu Rathaus gewesen, ein Tanzen, Feiern und Schmausen ... hat aber die schöne Maria dagesessen wie eine weiße Lilie, bleich und leichenfarbig, wie sie blühen am See Genezareth und in den Tälern des Hermon, und alle, die in der Nähe standen, konnten das Mal sehen, so ihr der junge Kleriker beigebracht hatte in seiner heißen Liebe, rot und brennend wie die Blüte einer Feuerbohne ... und war groß Trauern in Kalkar ...

Dem jungen Lehrer stockte der Atem; denn er war über die Aufzeichnungen besagten Pfarrers, des Herrn Sybertus von Ryswick gekommen, der in damaliger Zeit wirkte, gut Regiment hielt und auch viel Ruhm erwarb als Canonikus und Thesaurarius an der hohen Münsterkirche zu Xanten ... und als er genauer zusah ... der alte, ehrwürdige Herr war selber aus einer verwaschenen Ecke getreten: ein kleines, zierliches Männchen in schlichter Soutane, silbernen Schnallen und mit einem schwarzen Samtkäppchen auf dem milchweißen Scheitel. Er hatte das Gesicht einer Spitzmaus; aber in diesem Gesicht standen zwei Augen, die in ihrem schönen und demütigen Licht an das zweier geweihten Kerzen erinnerten. Und er hielt sein Liber pastoralis zwischen den durchgeistigten Händen und sagte: »So Ihr es lesen wollt, junger Magister, wird es Euch zum Segen gereichen,« und legte es hin und verflüchtigte sich in einem Nebel, so zart und duftig wie der, der auf den Rheinwiesen langsam auf und nieder quirlte. Dann war er verschwunden.

Dirk Vogels jedoch umgriff den Schweinsband mit Fieberhänden, setzte sich nieder und war bald auf der Spur eines reichen Fundes. Mit klopfendem Herzen und heißer Seele folgte er Zeile um Zeile und Seite um Seite, während die Lampe immer freudiger zirpte und vereinzelte Graupelkörner leise gegen die angelaufenen Scheiben trommelten.

Plötzlich las er mit glücklicher und bewegter Stimme:

»Anno Domini 1523 und am Tage, so man feierte das Andenken des stattlichen Reitermannes Martinus und ich gerade dabei war, vor meinem Heiltumtäflein, welches ein Stückchen von dem Kreuz des Erlösers und von der Säule, daran Christus, der Herr, gegeißelt worden, enthielt, mein Abendgebet zu verrichten, wurde zu wiederholten Malen gegen meine Haustür gehämmert. Ich erhob mich und öffnete selber; denn meine Schaffnerin war bereits schlafen gegangen und mein junger Vicecuratus, Herr Everhard Semper, noch aus, um den einzigen Sohn des regierenden Bürgermeisters in theologicis et in philosophicis zu belehren. Als ich des späten Gastes ansichtig wurde, rief ich besorglich: ›Ach Gott, lieber Meister!‹ nahm ihn bei der Hand und führte ihn in mein Arbeitsstüblein, worinnen ein herzhaftes Feuerchen gar freundlich um etliche Buchenkloben glosete; denn es war ein bitteres Wetter da draußen und die Luft voller Schneesternchen und heller Kristalle, und sagte zum andern: ›Ihr kommt gar spät unter mein einfaches Dach, und dennoch biete ich Euch meinen innigsten Willkomm. Salve, Henrice, confrater dilictissime!‹ und sprach ihm zu, sich bei den warmen Scheiten niederzulassen. Was weiter geschehen, mag ich nur mit schwerem Herzen berichten; aber vor Gott und meinem Gewissen habe ich nur solches niedergeschrieben, was ich auch vor Gott und meinem Gewissen verantworten konnte; denn hätte ich anders gehandelt, ich wäre nicht der richtige Pastor loci gewesen, sondern ein ungetreuer Hirte und Führer, nicht wert, dereinstmals für meine letzte Pilgerfahrt Stab und Schuhe zu richten.

›Nun, Meister Douwermann,‹ sagte ich nach einigem Schweigen, ›weshalb seid Ihr denn so spät noch gekommen?‹

›Ach Gott!‹ meinte dieser, ›es ist für mich stets ein schweres Schaffen auf Erden gewesen. Das wißt Ihr ja selber, und wenn ich auch mit meinem Schrein viel an Ruhm und Ehren einheimsen durfte, auch an barem Gelde und sonstigen Dingen, die das Dasein erträglich gestalten, nicht Not zu leiden brauchte, so bin ich doch der elendigste Mensch unter dem Himmelreich, dem es nichts hülfe, wenn er auch allstündlich vor sich hinbeten würde: Ostende nobis, Domine, misericordiam tuam. Et salutare tuum da nobis‹ und dabei sah er mit so scheuen Augen umher, als suche er irgendeinen Strick, um damit Leib und Seele zu trennen und letztere dem Herzog zu übergeben, der in der Hölle gebietet.

Ich erschrak über alle Maßen über solches Verhalten, ergriff seine Hände und sagte: › Exi, immunde spiritus! Fahre von hinnen, unsauberer Geist! – und Ihr, Meister Heinrich, begnadet von Gott und geehrt von den Menschen, wie könnt Ihr dem Ewigen nur also begegnen, der Euch die Kunst gelehret, solche Altäre zu bauen, und Euch das Schnitzmesser gegeben, um Wunderwerke aus dem trockenen Holzstock zu zaubern?! Bedenket: was bin ich gegen einen solchen Heros! Euch klingen doch die Harmonien und Jubelharfen der himmlischen Chöre entgegen.‹

›Wenn auch,‹ sagte er heiser und biß sich in seinem tiefen Schmerze die Lippen, daß ein Blutstropfen niedersickerte, ›wenn auch, Herr Pfarrer und herzoglich klevischer Rat; aber Ihr habt keine Kinder. Nein, Ihr habt keine Kinder, auch solche niemals besessen; aber hättet Ihr solche gehabt und mit ihnen dasselbe Leid erfahren wie ich, Ihr wünschtet, auf die Hobelspäne zu kommen.‹

Hierauf redete er mit wehen und verstümmelten Lauten: ›Ihr wißt ja, mein Sohn war ein besserer Schnitzer als ich, und hätte ihm eine gütige Vorsehung das Leben gelassen, er wäre größer und gefeierter als die italischen Meister geworden. Nun ist alles Staub und Moder von ihm, und nur sein Kind ist mir übrig geblieben. Wäre auch alles zu ertragen gewesen ... aber das mit meiner Tochter Plektrudis ... Das steht in meine Träume hinein und dreht mir den Kopf in den Nacken. – Erst dieser Glimmer und Glanz, um dann so elend zu werden! Herr Pfarrer‹ – und das edelgezeichnete Antlitz mit dem kurzverschnittenen Haar und dem seidenfadigen Bart wurde zu einem Totengesicht – ›mir ist es, als wäre überall Schnee, und ich führe dahin im Schlitten, lautlos, nur mit wimmerndem Schellengeläut, über ein trauriges Feld, über einen endlosen Friedhof, geradeswegs in die Arme des weißen Todes hinein. Herr Pfarrer, die Angst, die entsetzliche Angst ...!‹

Er warf beide Arme zur Decke. Der Tropfen, der an seinen Lippen hing, rieselte stärker.

Meister Heinrich war nicht wieder zu erkennen. Mit einem abgebrochenen Schrei warf er sich am Feuer nieder und verhüllte sein Antlitz.

Ich trat auf ihn zu und legte ihm die Hand auf den Scheitel. ›Ich weiß es, ich weiß es,‹ sprach ich ihm gütlich zu Herzen, ›denn die Pflugschar des Herrn hat Euch doppelt und dreifach beglückt, aber auch tiefe Wunden gerissen. Was tot ist, ist tot, und was in der Schande dahinging, wird Gott nicht in der Schande belassen. Wer legt Zeugnis gegen sie ab? Ich nicht. Wer kann die Finger auf die heiligen Schriften legen und schwören: sie ist in der Sünde von hinnen geschieden? Ich nicht, sondern ich glaube vielmehr: sie ist vor ihrem entsetzlichen Ende reuig geworden. Euch aber, Meister Heinrich‹ – und meine Stimme nahm einen zuversichtlichen Ton an – ›Euch möchte ich sagen: Siehe, um unser Bette her stehen sechzig Starke aus den Starken von Israel. Sie halten alle Schwerter und sind geschickt zu streiten. Ein jeglicher hat sein Schwert an der Hüfte um des Schreckens willen in der Nacht. Nein, Meister Heinrich, Ihr braucht Euch nicht zu fürchten.‹

Er sah mich an, als wär' meine Zunge die eines Schwätzers und Silbenstechers gewesen.

›Was sagt Ihr mir da?!‹ rief er mich an und streckte sich wie einer, dem ein zehnlötiges Blei zwischen die Rippen gefahren. Was redet Ihr da von sechzig Starken aus den Starken von Israel? Und wären es sechstausend mit flammenden Schwertern gewesen, sechstausend zur Rechten, sechstausend zur Linken – ich fürchte mich nicht und brauche sie nicht um des Schreckens willen in der Nacht. Nein, ich fürchte mich nicht und habe mich niemals gefürchtet, selbst nicht vor Seiner hochfürstlichen Durchlaucht, selbst nicht vor Hexenwerk und den Nachstellungen des höllischen Dämons. Aber‹ – und er sah mich wie irrsinnig an –, ich habe Angst vor mir selber. Diese Angst, diese entsetzliche Angst ...! – Plektrudis, Plektrudis ...!‹

Mit einem dumpfen Laut brach er ab und stierte ins Feuer. Dann lallte er gepreßt vor sich hin und teilte dabei seinen langen Bart auseinander: ›Es wäre schon besser, ja, es wäre schon besser ...‹

›Was wäre besser?‹ fuhr ich auf; denn es war Zeit, den bösen Geist, so ihn beherrschte, mit derben Ruten zu streichen. ›Ihr wollt doch nicht etwa mit eigener Hand ...‹

›Ja, ich will, hochwürdiger Herr, ich will, ich will ... und damit Ihr sehet, daß es mir bitterer Ernst ist, habe ich dieses niedergeschrieben, um mein Herz zu entlasten und meinem Enkel und Euch zu zeigen, wie es anhub und wuchs und Totenblumen ansetzte, um dann ein schreckliches Ende zu nehmen.‹

Damit zog der heftige Mann ein dick Manuskriptum aus seiner Zobelschaube herfür und legte es mir in die zitternden Hände.

›Das andere laßt meine Sache und meine Sorge sein‹ fuhr er düster und ingrimmig fort. ›Der Heiland hat meine Seele zerbrochen, unbarmherzig und aus dem Unerforschten heraus, und weil er solches getan, will ich Gleiches mit Gleichem vergelten und meinen Leib in derselben Weise zerbrechen. So bin ich dem Herrn nur in die Parade gefahren; denn ich lass' mich nicht narren ... Teufel und Hölle! – nein, ich lass' mich nicht narren ...!‹

Da war es aus mit ihm; denn ich sah, wie er wankte und sich vortastete, um irgendeinen Halt zu gewinnen.

›Meister!‹ rief ich ihn an, aber so heftig, daß ich selber davon erschreckte. ›Meister, was tut Ihr? Ihr lästert ja die Majestät aller seligen Chöre, den dreieinigen Gott, den Gekreuzigten, den Vater Himmels und der Erde!‹

Aber er hörte nicht mehr. Er lag auf den Knien und betete in den Worten der Belialspriester ... und ich sah mit Entsetzen: sein Denken ging in schäbigen Lumpen, flatterte wie ein zerrissenes Segel im Sturm, zog bettelarm durch steinichte Wüste, war wie eine verschlagene Möwe im Brausen des Meeres.

Da hob ich ihn auf, ihn, der Gott im Wahne gelästert, und sprach ihm zu und suchte seinen unsteten Geist wieder aus dem trügerischen Moor auf grasige Wiese zu leiten, und obgleich ich wußte, um welche Zeit das Unglück mit seiner Tochter geschehen war, so fragte ich dennoch: ›Wann hat sich denn das mit der schönen Plektrudis begeben?‹

›In der verflossenen Weihnacht, da mein Schrein in bunten Lichtern erstrahlte und die Gläubigen sangen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sind.‹

›Schon so lange?‹ sagte ich mit erheuchelter Einfalt. ›Seitdem sind aber schon viele Monde vergangen.‹

›Ja, viele Monde,‹ sagte er fahrig.

›Und habt Ihr in all dieser Zeit für die Ärmste gebetet?‹ fragte ich wieder.

›Nein. Ich konnte nicht beten.‹

›Ihr konntet nicht beten? O weh, wie geschieht meinem Herzen! Da habt Ihr aber vieles verabsäumt; denn so Ihr es getan hättet, wäre Gott Euch ein milderer Richter geworden. Aber seid Ihr denn willens gewesen, eine heilige Messe für das Seelenheil Eurer Tochter lesen zu lassen, und habt Ihr bereits eine solche gestiftet?‹

›Auch das nicht,‹ sagte er trotzig und schier herrischen Sinnes.

Da ich solches gewahrte, stieg in mir ein gerechter Groll und ein heiliger Zorn auf. Die freundlichen Beziehungen streifte ich seiner selbst wegen ab und war ihm gegenüber nur noch der Herr Sybertus von Ryswick, der Diener des Herrn, der Magister lib. art. et Decretorum Licentiatus, herzoglich klevischer Rat und Probst der Collegiatkirche zu Wissel und sagte als solcher: ›Da Ihr dieses versäumt und stolzen Sinnes aufbegehrt habt gegen die gläubige Einfalt und den Willen der Kirche, so ist Eure arme Seele wie ein Kurrendeschüler betteln gegangen. Daß die Angst Euch anfiel wie ein gieriger Wolf und Ihr wähntet, auf einem leise klingelnden Schlitten in die Arme des weißen Todes zu fahren – das habt Ihr selber verschuldet. Richtet den Mut auf und wollet sub specie aeternitatis Euer Gewissen in Zaum und Zügel halten, auf daß es Euch wohlergehe auf Erden und Ihr teilhaftig werdet der göttlichen Dinge. Damit solches geschehe, gebietet die Kirche durch mich: Alljährlich habt Ihr am Tage Miserikordias Domini eine heilige Messe lesen zu lassen zur Wohlfahrt Eurer dahingeschiedenen Tochter. Ihr selber, damit Ihr ledig werdet der Schuld, Euch aufgebäumt zu haben wider die Satzung, den Tod begehrtet und willens wäret, Hand zu legen an Odem und Leben – Ihr sollt einmal im Jahre, und zwar um die Zeit, wo der Herr, Gott sei es geklaget, mit Ruten gestrichen, mit Dornen gekrönt und ans Kreuz geschlagen wurde, auf dem Altar, den Ihr selber gebildet, eine zehnpfündige Wachskerze opfern, so daß Ihr eingehen möget durch die ewigen Tore und speisen möget von dem himmlischen Brote. Meister Henrice, Meister Henrice!‹ – und meine Stimme wurde zum Psalterspiel und brausete auf wie der Wald aufbrauset unter dem Odem Jehovas – ›tut, was ich Euch geheißen, folgt meinen Worten, und Eure Seele wird ruhig und die Qual von Euch genommen. Meister Henrice, Meister Henrice ...!‹ und es war eine Stille ausgetan, als wäre die Stunde noch einmal gekommen, da der Heiland das Haupt neigte und sagte: Es ist vollbracht! – und siehe, Meister Heinrich nahm meine Hände, neigte das Haupt und betete leise. Da sah ich: nun ist die Wandlung nicht fern, tat ein letztes und sprach die großen und starken Worte vom exorcismo und schloß mit dem Satze, den ich schon einmal hergesagt hatte: ›Exi immundi spiritus. Fahre aus, unreiner Geist ...‹ und da war mir so, als führe ein stinkender Rauch durch die Stube, so an Pech und Schwefel gemahnte, und ich wähnete auch, den höllischen Fürsten in Gestalt einer gewöhnlichen Luderkrähe durch den Rauchfang meines Kamins entweichen zu sehen. Des war ich froh über alle Maßen, lobete Gott, legte dem Erlösten die Hände auf und sagte: ›Und nun, Meister Heinrich, ziehet dahin, und wenn Ihr könnet, ziehet in Frieden!‹

Da straffte der also Angeredete Kopf und Nacken, sah mit gesundeten Augen den Kruzifixus an, so auf meiner Schublade stand, und ging seines Weges. Ich aber machte das Zeichen des heiligen Kreuzes und sagte: ›In nomine patris et filii et spiritus sancti. Amen!‹ Gott sei gepriesen! Ich habe meiner priesterlichen Pflicht gewaltet, ohne Ansehen der Person und nur von dem Gedanken bewegt, eine arme Seele freudig zu machen, ihr die irdischen Schrecken zu nehmen und das weiße Kleid anzumessen, mit dem sie dereinst eintriumphieren möge durch die goldenen Tore des Paradieses.

Solches habe ich niedergeschrieben am Tage und im Jahre wie eingangs vermeldet ... und daß meine Feder nicht irrte und wissentlich Falsches zu Papier brachte, dessen ist der liebe Herr Jesus Christus mein Zeuge, habe auch zur Bekräftigung dessen, Name, Stand und Würde darunter gesetzet, die also lauten:

Sybertus von Ryswick,
Pfarrer hiesigen Kirchspiels, Magister lib. art.
et Decretorum Licentiatus, herzoglich klevischer
Rat und Probst der Collegiatkirche zu Wissel.«

Dirk Vogels hätte aufschreien mögen. Die Nacht hellte auf. Die Finsternis zerteilte sich, und es war ihm so, als läge der junge Tag auf den Bergen.

In fliegender Hast durchlief er die folgenden Seiten. Sie brachten nichts Neues. Er blätterte weiter. Schon wollte er einen neuen Folianten ergreifen, da wieder die feine, zierliche Schrift, die mit einer Rabenfeder niedergelegten Zeichen des Sybertus von Ryswick – nur zitteriger, müder und wie mit glücklichen, aber nicht mehr irdischen Sinnen geschrieben.

Und Dirk Vogels las mit klopfenden Pulsen.

»Anno Domini 1528 und am Tage zuvor, da unser Herr einzog in Jerusalem.

Es will Ostern werden. Die ersten Narzissen und Gewürzblümchen stoßen bereits durch das Erdreich in meinem Gärtlein. Im Stadtwald rokuzet schon der wilde Tauber, an den Stachelbeersträuchern glitzern die Knospen wie zarte Türkischen, und unter den Bocksdornhecken ist es blau von Veilchen geworden. Von meinem Fenster aus sehe ich über meinen Obstgarten fort in keimende Roggenfelder hinein, die sich anlassen, als wären smaragdgrüne Teppiche über den Boden gefallen. Mein Gemüt ist freudig, wenn auch der Leib sich danach sehnet, Feierabend zu machen. Ich mag ruhig meine letzte Pilgerfahrt antreten; denn mein Haus ist bestellt, und was das Feinste ist: die Seele des gefeierten Meisters lobsinget dem Herrn, sitzt in beschaulicher Ruhe am Herdfeuer und wärmt sich die Hände. Meister Heinrich ist wieder der alte geworden. Der Spruch des Publilius Syrus: Discipulus est prioris posterior dies, ein Tag lehrt den andern, bewährt sich trefflich an ihm; denn er nutzte die Stunde, ließ sich von jeder beraten und fand, was er suchte: die Palme des Friedens und die Lauterkeit und Reinheit des Herzens. Er arbeitet wieder. Der neue Sankt Annenaltar in der Stiftskirche zu Kleve geht seiner Vollendung entgegen, und viele behaupten, an klassischer Schönheit überträfe er noch den Schrein zu den Sieben Schmerzen Mariä. Mag dem nun sein, wie ihm wolle; ich für meinen Teil halte den letzteren für eine Eingebung Gottes und für ein Wunderwerk auf Erden, desgleichen nicht mehr zu finden unter dem stolzen Zepter des regierenden Herzogs von Jülich, Kleve und Berg, dem Gott, der Herr, noch lange ein glorreiches Walten verstatte.

An manchen Abenden erscheint Meister Heinrich in meiner schlichten Behausung. Wir sprechen aber nicht mehr von den traurigen Zeiten, die ihm dereinstmals den Puls abstoßen wollten, sondern suchen ein heiteres Gespräch unter uns, während mein Vicecuratus, Herr Everhard Semper, gar kunstreich die Kniegeige dazu zieht oder auch wohl singet wie ein liederkundiger Dompfaff auf einem sommergrünen Elsbeerenbaum.

Das Manuskriptum, so ich mit tiefem Schmerz und großer Bewegung gelesen, liegt wohlverwahrt bei den Schreinsakten der Kirche. Mein Folger im Amt wird es, sobald besagter Enkel in die Jahre gekommen, sinngemäß diesem behänden, auf daß des Meisters Arbeit, sein Ringen und Werden, sein Bangen und Sorgen fortlebe in seinem Geschlecht bis zu den spätesten Tagen. Des heidnischen Poeten »Aequam memento rebus in arduis servare mentem«, mag den Verfasser bestimmt haben, solches zu wünschen, und dieserhalb soll es auch ehrlich geschehen. Ich selber kann ihm diesen Dienst nicht erweisen; denn meine Tage sind gezählt von dem Herrn. Pulvis et umbra sumus. Staub und Schatten sind wir, und ich bin wohl der nächste im hiesigen Kirchspiel, der zu Staub wird und in den Schatten zurückkehrt; denn bald werden sie singen: Oremus! – Quaesumus, Domine, pro tua pietate, miserere animae famuli tui, et a contagiis mortalitatis exutam, in aeternae salvationis partem restitue. Per Dominum nostrum Jesum Christum. Requiem eternam dona ei, Domine. Et lux perpetua luceat ei. Requiescat in pace. Amen.«

Ja – requiescat in pace! Herr, laß deinen Diener ziehen in Frieden! Ich warte des Rufes. Achtzig lange Jahre harrte ich deiner erlösenden Stimme. Nun mag sie mir tönen; denn die himmlischen Glocken sind feiner und schöner als das frömmste Geläut unter dem Himmelreich. Schon dunkelt es über dem Walde... und meine Hände falten sich... ich bin müde des Lebens...

Geschrieben am Tage wie eingangs vermeldet, da die Sonne zu Rüste ging und die Sternlein aufblinzeln wollten.

Sybertus von Ryswick.«

Dirk Vogels fuhr auf. Ein Glücksgefühl überströmte ihn. Kein Zweifel mehr: hier im Kirchenarchiv war auch die Chronik zu suchen, und er gelobte sich, nicht eher zu feiern, als bis er vor Arnt Douwermann hintreten und sagen konnte: »Hier habt Ihr das, was Ihr lange ersehntet. Euer Wunsch ist in Erfüllung gegangen,« und er war gerade dabei, sich die Freude des alten Herrn in bunten Farben auszumalen und sie in die rechte Beleuchtung zu stellen, als hastig angeklopft wurde, ein feiner Luftzug den verschwiegenen Raum durchzirpte und die Türe sich öffnete.

Verstört war Therese in den Schein der singenden Lampe getreten.

»Mynheer,« sagte sie kleinlaut, »wenn Mynheer doch entschuldigen wollten...«

»Was soll's denn, Therese?«

»Ach!« sagte sie zögernd, »ich möchte bloß fragen, ob Mynheer nicht so'n bißchen vorsprechen könnten.«

»Bin ich denn gewünscht?«

»Das weniger; aber ich hab' so 'ne Bange. Immer diese Unruhe im Hause. Man weiß nicht, wo das alles noch hinführen soll. Früher diese Kirchenstille ringsum und die schöne, sinnige Andacht und jetzt dieses Bangen in allen Stuben und Ecken, daß man den gestrigen Tag nicht mehr findet... und das alles wegen des entsetzlichen Menschen. Es wäre schon besser, Sie kämen so'n bißchen herüber. Ich meine nur: Sie können schon helfen, Herr Vogels; denn der alte Herr...«

»Ich komme, ich komme.«

Gleich darauf lag das Kirchenportal in lautlosem Dunkel. Zu den aufgestöberten Pergamenten und Aktenbündeln kehrte die Ruhe zurück. Sie schlummerten ein, und ein graues Mäuschen piepste ihnen zur guten Nacht eine zierliche Weise.


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