Joseph von Lauff
Marie Verwahnen
Joseph von Lauff

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XX.

Teichrose

Auf ungeweihter Erde, fern ihren Lieben, die ihr im Tode vorausgegangen, wurde die Aermste bestattet. – –


Die beiden Lichter in den hohen Metalleuchtern waren bis zur Neige gebrannt. Docht und Flamme lagen in einer wasserhellen Schicht flüssigen Stearins, das sich anschickte, über die bauchigen Schalen zu träufeln. Jetzt sickerten die ersten Tropfen nieder, weißliche Spuren hinter sich herziehend. An der kalten Oberfläche des Messings erstarrten sie. Die bläulich umspielten Dochte knisterten. Die Flämmchen wurden unruhig. Sie waren des Lebens müde und wollten sterben.

Was sollten sie auch weiter noch?!

Draußen begann das Licht des Tages schon leise zu zwinkern. Schüchtern tastete es sich über die Firsten der gegenüberliegenden Häuser. Durch das geöffnete Oberlicht des Fensters drang bereits verlorenes Vogelgezwitscher ins Zimmer. Deutlich klang die scharfe Locke der Merle dazwischen.

Mir waren die Stunden vergangen, als wären sie Minuten gewesen – und diese Stunden-Minuten hatten mir Leib und Seele erschüttert. Ich stand völlig unter der zwingenden Gewalt des soeben Gehörten.

Doktor Johannes van Melle stand auf und trat in die Mitte des schwacherleuchteten Fensterrahmens. Der etwas nach vorn geneigte Körper meines unglücklichen Freundes nahm eine seitliche Wendung an. Das scharfe, bartlose Profil des bedeutenden Gesichtes ruhte wie ausgeschnitten auf der Helle des grauenden Morgens.

Die Kerzen erloschen.

Doktor Johannes van Melle machte eine große Handbewegung; dann fuhr er sich über die Stirn, als wollte er dort das Erinnern verwischen. Das Feierliche, Gespenstische, Niedagewesene in seinem ganzen Verhalten, das mir besonders am ersten Abend aufgefallen war, trat wieder so recht in die Erscheinung. Seine großen Augen ruhten fragend auf mir.

»Du hast mich verstanden?« meinte er nach einiger Weile.

»Ich habe verstanden, lieber Johannes.«

»Es ist eine einfache Geschichte,« fuhr er ruhig sprechend fort, »die in diesen Tagen an Dir vorüberzog, aber diese einfache Geschichte . . . Nun, Du verstehst mich. Meine Liebe und mein späteres Leben standen unter dem Zeichen des Kreuzes. – Ich trug eine große Leidenschaft zu Grabe, und als ich sie zu Grabe trug, da war ich nahe daran, mich mit ihr bestatten zu lassen. Es sollte nicht sein, und die Zeit hat vieles geändert. Ich habe mich in das Unabwendbare gefügt, ich habe gekämpft wie ein Verzweifelter und schließlich die Prüfung bestanden. Wenn auch blutenden Herzens – ich raffte mich nach dem wuchtigen Schlage auf, vollendete meine Universitätsstudien und betäubte die Erinnerung in Ausübung meines ärztlichen Berufes. In München lernte ich Gabriel Max kennen und schloß mit ihm innige Freundschaft. Er verstand mich so ganz, er klärte mich über manches auf, dem ich ratlos gegenübergestanden, er entwirrte so manche Fäden, die ich vergebens zu lösen versucht hatte, und über so viele, viele Wunden, die mir jene verhängnisvolle Neigung geschlagen, ließ er den Balsam des Genesens träufen. Seiner Liebe und Freundschaft habe ich jenes Bild zu verdanken . . .«

Er zeigte auf das Pastellgemälde, das undeutlich aus dem Schatten des Zimmers aufleuchtete.

»Und dann! – Ich bin meinem Vater ein guter Sohn geworden; wir verstanden uns. Ich habe ihm die Augen in Frieden zugedrückt, und ihn unter heißen Tränen bestattet. Als die ersten Schollen auf die schmalen Bretter niederfielen und der kleine Hügel über seinem Grabe sich wölbte, da fühlte ich so recht, was ich an ihm verloren hatte. Aber auch dieses verwand ich, und ich wäre zufrieden und glücklich in meinem ärztlichen Berufe geworden, wäre die Erinnerung an die vergangene Zeit nicht gewesen. Aber sie war da und ist da; sie läßt mich nicht los, sie ist bei mir Tag und Nacht, und das ist das Entsetzliche in meinem qualvollen Zustand. Oft ist sie nur einem ersterbenden Licht zu vergleichen, das mir schwach entgegendämmert – und dann sind meine ruhigen, erträglichen Tage und Nächte gekommen. Doch sie kann zur Flamme werden, auflodern und mich mit glühenden Zungen umspielen – und das ist jetzt der Fall, das ist die Zeit, wo ihre arme Seele erscheint und die Teichrosen gleich bleichen Gesichtern auf dem Wasser schwimmen. Das fühlst Du nicht, nein, das kannst Du nicht fühlen und wirst es auch niemals begreifen . . . Aber es ist so.«

Er schüttelte leise das Haupt: »Aber es ist so – und dann ist die entsetzliche Zeit der heiligen Nächte gekommen. – Ich nenne sie ›heilig‹, weil das Gedenken an ihre unsterbliche Seele mir heilig vorkommt – allein dieses Gedenken ist furchtbar, vornehmlich, wenn die Stille der Nacht die Erinnerung wachhält und mir alles so deutlich und scharf umrissen vor die Blicke stellt, als wären die traurigen Ereignisse erst gestern geschehen. Nur meine treue Genossin im Leid, meine Geige, vermag mir Tröstung zu geben.«

Johannes van Melle atmete tief.

»Marie Verwahnen ist tot. – Rätselhaft wie ihr ganzes Leben und Lieben ist auch ihr Sterben gewesen. Ich will nicht rechten mit ihr, ich will nicht richten über sie. Sie war ein Kind, und ihr Geist war krank, aber ihrem Zauber konnte niemand entrinnen. Auch jetzt noch, nach ihrem Tode, übt er eine ungeschwächte Gewalt aus. – In den glücklichen Nächten tritt sie vor mich hin, schön wie der Morgen, leuchtende Wasserrosen im Haar, und küßt mir die Stirne.«

Johannes van Melle reckte sich auf. Sein Gesicht verfärbte sich, und mich beschlich wieder jenes beklemmende, drückende und unheimliche Gefühl, das ich bei meinem ersten Begegnen mit ihm in so aufdringlicher und zwingender Weise verspürt hatte.

»Und warum sollte sie nicht?« fuhr er mit scharfer Stimme fort, die etwas Beängstigendes an sich trug, »warum sollte sie nicht?! – Hatte sie doch im Leben so oft in diesen Armen geruht und ihren verzehrenden Mund auf diese Lippen gedrückt, als sollten wir beide vergehen in Rausch und Verzückung. Das ist doch klar, das ist doch begreiflich . . .! – Das ist doch menschlich und vernünftig gedacht . . .! – Aber dann: Bonaventura . . .! – Und das ist das Verrückte – der Wahnsinn . . .

Er preßte die Hände gegen die Schläfen.

»Marie . . .

Er stieß ein gellendes Gelächter aus, das mich auf das tiefste bewegte und erschütterte.

»Aber, Johannes . . .

»Es ist gut,« sagte er leichthin und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

Der ganze Mensch war plötzlich ruhig geworden.

»Komm.«

Stumm drückte er mir die Hand: eine schimmernde Feuchte stand in seinen milden und zärtlichen Blicken. Er war wie umgewandelt in seinem Verhalten.

»Wohin willst Du?«

»Dort hinaus. Der Morgen hat sich aufgetan, und dann: Du mußt doch wissen . . .«

Ich verstand ihn.

Wir gingen hinaus. Ein kühler, erfrischender Windhauch schlug uns entgegen. Es war noch einsam und leer auf den Straßen. Kein menschliches Wesen begegnete uns. Nur die grünen Grashälmchen, die verschlafen zwischen den Pflastersteinen sich duckten und die Öhrchen zu spitzen begannen, mochten unsere Schritte vernehmen. Neugierig sahen die Spatzen von den Dachrinnen uns nach. Die Gärten, die uns zur Seite lagen, atmeten üppige Lebensfülle. Die Levkojenbeete standen in voller Sommerpracht. Der nächtige Tau hatte sie ganz entfaltet. Etliche Linden dufteten noch, andere verstreuten bereits ihre Blüten. In den Weißdornhecken purzelten und vergnügten sich die Zaunkönige. Die Gärten traten zurück.

Gestreckte Felder mit blauroten Kappesköpfen nahmen uns auf. Strotzend lagen diese in ihrer kräftigen Färbung und zu langen Schnüren gereiht auf der dampfenden Erde. Jenseits der Kappesfelder dehnten sich die endlosen Weiden, und dort, wo sie sich mit dem angebauten Lande berührten, flossen Grün und Violett sanft ineinander.

Schweigend gingen wir durch die langen Rabatten der blauroten Köpfe. Saftig ruhten sie auf kurzen Stielen zwischen ihren starkgerippten Blätterhüllen.

Es war friedlich und still auf den weiten Feldern und Wiesen.

Noch ging keine Frühglocke über die Erde.

Weiter zur Rechten und ungefähr dort, wo Pappel- und Erlenbüsche aus der Niederung aufstiegen, lagen verschiedene Gebäulichkeiten, die erst die neue Zeit hingestellt hatte. Sie trugen ein fabrikartiges Gepräge. Es waren langgestreckte Bauten mit niedrigen Dächern und vielen Fenstern, die matt, wie blinde Augen, ins Leere starrten.

Vereinzelt aufgeführte Schornsteine ragten darüber hinaus. Weißliche Rauchsäulen standen kerzengerade und fast unbeweglich über den Schloten. In der Nähe dieses Fabrikanwesens erhob sich ein zweistöckiges Haus, das einen herrschaftlichen Charakter trug.

Mit Rücksicht auf die kleine niederrheinische Stadt kam mir dieses industrielle Unternehmen, das sich allem Anscheine nach in blühendem Zustande befand, wunderlich vor.

Johannes van Melle blieb stehen.

Er deutete auf den Gebäudekomplex.

»Die Herzliebschen Spinnereien!« sagte er mit einem Anflug von innerer Freude. »Moses Herzlieb und Sohn.«

Als er dies sagte, spielte eine stille Heiterkeit um seine Mundwinkel. Es war das erste Mal, daß ich ihn während unseres Zusammenseins lächeln sah.

»Herzlieb und Sohn . . .«

Mit einer gewissen Befriedigung wiederholte ich die soeben gesprochenen Worte – dann gingen wir weiter.

Alsbald umfing uns das große Schweigen, die heilige Stille der taufrischen Wiesen. Auf einem schmalen Pfad, der sich schnurgerade dem Inneren zuwandte, drangen wir in das üppige Meer der feuchten Rispen und Halme. Das Gras reifte seinem zweiten Schnitt entgegen.

Vor uns dehnte sich die grüne Niederung in unabsehbarer Weite, nur von einzelnen Baumgruppen und kleinen Liegenschaften durchsetzt, während unmittelbar zur Linken die Flanken des Paternosterdeiches durch die Ebene krochen. Es war jener Deich, der in unserer Geschichte eine so traurige Berühmtheit erlangte. Auf ihm hatte vor Jahren die Wachsmarie gestanden. Er hatte Bonaventura gesehen. Auf ihm war der junge Mönch in die kleine Stadt eingezogen – auf ihm hatte er sie wieder verlassen. Darüber hinaus stand der erste Frühschein des erwachenden Morgens.

Wir mochten ungefähr eine halbe Stunde gegangen sein, als ein kreisrundes Wasser in Sicht kam, das unvermittelt das Einerlei der Landschaft belebte. Niedriges Weidengebüsch, von einigen alten Stämmen überragt, legte sich um die steilabfallenden Ufer.

Eine sichtliche Unruhe bemächtigte sich meines armen Freundes, als wir uns dem Wasser näherten.

Ein kaum wahrnehmbares Schilfgesäusel empfing uns.

Alsbald standen wir vor der ruhigen, tiefen Fläche, die auch nicht die geringste Furche aufwies. Mit schwarzem, blaudurchsetztem Wasserspiegel lag sie unter dem Himmel. Ein langgedehnter Streifen weißlichen Lichtes begrenzte das jenseitige Ufer.

Doktor Johannes stierte in den geheimnisvollen Kolk. In seinem Gesicht ging eine plötzliche Wandlung vor, die mir Besorgnis einflößte.

Ich stand dicht neben ihm.

Dunkelgrüne, große und herzblattförmige Blätter schwammen auf dem Teich. Etliche Knospen der Wasserrose lagen daneben. Nur eine Blüte hatte sich völlig entfaltet.

In blendender Reinheit, keusch und leuchtend ruhte sie auf der dunklen Tiefe.

Langsam wendete Johannes van Melle seine Blicke auf den Kelch der schwimmenden Blume.

»Du mußt es doch wissen,« sagte er mit inniger Rührung, »Du mußt es doch wissen, wo sie ihr Ende gefunden hat. – Hier war es. – Friedlich lag ihr schöner Körper auf der schimmernden Tiefe, als die Leute sie fanden. Ihre Haare waren gelöst – ihr Antlitz war gen Himmel gerichtet . . .«

»Und die Teichrose?« wagte ich schüchtern einzuwerfen.

»Das ist die Seele der Ärmsten, die auf dem Wasser schwimmt. – Die eigene Kirche hatte ihr den Eingang zum Himmel versperrt – da suchte sie die Stätte auf, wo sie sich vom Leibe der Entschlafenen trennte.«

Doktor Johannes van Melle schwieg.

Er nahm meine Hand und weinte bitterlich.

Die erste Morgenglocke hallte herüber – die Stimme des Herrn.

 

Ende.

 


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