Joseph von Lauff
Marie Verwahnen
Joseph von Lauff

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XII.

Und der Todesengel stand bei ihm

Der Wind ging – der Wind wehte . . .! –

Die Köpfe der Weidenpfosten, die als markante Punkte die Grenzen des Wiesengeländes begleiteten und meistens die schmalen Wassergräben entlang liefen, schwammen auf einer Schicht hin und her sich bewegenden Nebels, dessen feines Gebilde vom Mondlicht am Boden gehalten wurde. Es erinnerte an ein leise wogendes, gespenstisches Meer, über dem der nächtige Himmel in unendlicher Klarheit ruhte.

Der Wind ging – der Wind wehte . . .! –

Die Einsamkeit legte ihre Hand auf die dampfenden Schollen. Da ward es still, ganz still, nur die Wasserblasen stiegen in den nahen Kolken auf und zerplatzten gurgelnd an der Oberfläche. – Im Nebel tauchte der Oberkörper eines Menschen auf. – – –

Abraham van Melle war schon längst von Doktor Barthes Terwelp zurückgekehrt. Er hatte ihn nicht zu Hause gefunden. Als er hierauf bekümmert über seine eigene Schwelle trat und die Haushälterin nach seinem Sohne fragte, zuckte diese mit den Schultern und wies auf die Straße. Da wußte der Prediger genug, begab sich in sein Arbeitszimmer und legte die Hände zusammen.

So saß er lange.

Der schmale Kopf der Haushälterin schob sich nach einiger Zeit zwischen die Spalte der kaum geöffneten Tür.

»Domine,« sagte sie mit scheuer Betonung, »soll ich bei den Webersleuten . . .

Abraham van Melle machte eine abwehrende Handbewegung. Ein stumpfes Lächeln belebte seine Züge, die Mundwinkel zogen sich tiefer, als ob er weinen wollte. Aber er schluckte die Tränen mit einer krampfhaften Bewegung herunter. Die Hände schlossen sich fester zusammen, und die eckigen Züge lagen wieder so hölzern in dem harten Gesicht, wie sie es gewöhnlich taten.

»Gute Nacht, Domine.«

Die Tür schloß sich geräuschlos, und Abraham van Melle war wieder allein.

»Da lehre mich einer die Welt kennen!« sagte er mit bitterem Lachen. »Du sollst Vater und Mutter ehren . . . So'n Pastorjunge versteht das. Der wird gemästet von der frommen Luft, die im Pfarrhause weht, und dieses Fette macht ihn für die Weltlust gefügig.«

Alle milden Regungen erstickten in seinem Innern: »Es wäre besser . . .«

Schwer hob er sich vom Stuhle. Mit großen Schritten ging er über den Teppich. Die zusammengefalteten Hände verstrickten sich immer mehr. Die einzelnen Sehnen sprangen hervor; die Nägel bohrten sich tief in das magere Fleisch. Der grüne Schirm der brennenden Lampe gab seinem Gesicht den Anschein des Leichenhaften. Vor dem großen Kruzifix aus Porzellanmasse blieb er stehen. Die früheren Worte taten ihm leid. Ein Frösteln erschütterte den starken Mann. Er suchte Hilfe und Trost beim Heiland. Er beugte sich und sank in die Knie. Unter den buschigen, straffen Brauen hoben sich die Augenlider. In dem irisierenden Grau verschwand das Harte, das Puritanische, das Abstoßende. Er schluckte nicht mehr die Tränen herunter. Langsam rollten sie über die knochigen Wangen, wobei er die Worte sprach: »Vater, willst Du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern Dein Wille geschehe.«

Er stand auf und ging ans Fenster. Draußen war Stimmengewirr; viele Leute kamen vorüber. Die Fastenandacht war zu Ende. Dann bildeten die Menschen da unten Spalier, entblößten die Köpfe und verneigten sich tief. Wie ein Heiliger schritt ein Mann mit weißem Gewand und dunklem Oberkleid durch ihre Reihen. Es war Bonaventura. Er ging zum katholischen Pfarrhaus.

Die Lust am Kampfe zuckte im Gesicht des Predigers auf. Mit denselben Worten, die er vor Wochen seinem Sohne entgegengehalten, verlieh er seinen Gedanken Ausdruck. Auch jetzt sprach er für sich, wobei er die Hände krampfte: »Als Pionier, als Tempelwächter des wahren Evangeliums bin ich hier in dieser Enklave an gefährdeter Stelle aufgestellt – und so wahr ich lebe, so wahr ich das Wort Gottes verkünde, ich bin der mir auferlegten Mission bewußt bis in die innersten Nieren.«

Alles Weiche und Milde wich von ihm. Abraham van Melle verließ die Fensternische, warf sich in einen Lehnstuhl und betete lange. – – –

Der Wind ging – der Wind wehte . . .! –

Nebelschwaden schleppten über die Wiesen, schattenhaft standen die kahlen Baumkronen über dem weißen Meer, und im Nebel tauchte der Oberkörper eines Menschen auf . . .

Kurz vor der Rückkehr seines Vaters von Doktor Barthes Terwelp hatte Johannes van Melle das Haus verlassen. Er wußte nicht, wohin er seine Schritte wenden sollte. Planlos irrte er zuerst durch die engen Gassen, war dann ans Rheinufer gegangen und hatte in die Flut gestiert, die ihn mit ihrer träumerischen Stimme hinablockte. Nur mit Mühe riß er sich von den knirschenden Kieseln los. Scheu und verzweifelt umkreiste er hierauf die große Kirche, sah durch das Portal in die dämmrige Halle und drückte die heiße Stirn an die Ziegelsteine der Turmmauer. Sie kühlten nicht; sie glühten, als wären sie eben aus dem Ziegelofen gekommen. Ihr brennender Dunstkreis betäubte ihn. Alles war Feuer um ihn, und das ›Stabat mater‹, das wuchtig und schwer aus der Kirche hervordrang, traf ihn wie mit Keulenschlägen. Er versuchte in die dämmrigen Hallen einzudringen, allein seine Füße versagten, und eine starke Gewalt hielt ihn zurück. Da taumelte er von den Stufen und lief den Wiesen zu, wo die Schwaden wie dünne, weißgraue Tücher über das kurze Gras krochen. Er beugte den Oberkörper und ließ seine Stirn von der kühlen Feuchte umspielen. Aber auch dieses fruchtete wenig; er fuhr sich mit der Hand über den Kopf, als müsse er die heißen, tollen Gedanken verwischen. Er quälte sich mit der Vergangenheit, er grübelte in der Gegenwart und durchlief die ihm bevorstehenden Leidensstationen der zukünftigen Tage – und es kam ihm vor, als wenn er sich nur in Irrtum und Sünde befände. Da biß er die Lippen zusammen und irrte weiter und weiter.

Er wollte ein anderes Leben beginnen, die verderbliche Liebe aus seinem Herzen reißen und sie mit Füßen zertreten; das flog blitzartig durch sein Hirn. Aber wie konnte er wollen?! – Dort von der Kirche her kam sie mit geschlossenen Augen gewandelt. Sie winkte ihm mit der Hand – und er folgte ihr durch Nebel und Weideland bis an die Stelle, wo er sie zuletzt gesprochen hatte. Sein Atem keuchte. Jetzt glaubte er, sie fassen zu können, als er aber die Arme streckte, schwebte sie lächelnd weiter wie ein Irrwisch. Sie hatte die Kraft eines Riesen und den Zauber eines Wunderkindes in sich vereinigt. So kam er in seinem wirren Umherstreifen wieder an den Rhein, genau an dieselbe Stelle, wo er noch kurz vorher gewesen.

Und er stand da mit verzerrten Zügen und stierte in die Flut, die, kleine Trichter ziehend, vorüberhastete. Hinter ihm lagen einige Matrosendestillen. Bald darauf hörte er leise Stimmen und das Klappern von Holzschuhen auf dem Pflaster. Es drang aus den Gassen, die auf den Strom mündeten. Die Fastenpredigt mußte beendet sein. Nicht lange, und um ihn lag wieder die große, furchtbare Einsamkeit, die ihm ins Gewissen redete. Wollte er nicht die Bretter zum Sarge seines Vaters schneiden? Hatte er nicht vor, mit den Lehren, mit den Heilswahrheiten zu brechen, in denen er groß geworden? War er nicht jenem Weibe rettungslos verfallen, das Dinge von ihm verlangte, gegen die sich sein Gewissen aufbäumen mußte? Gedachte er nicht etwas zu tun, vor dem seine Seele schauderte und sein guter Engel das Antlitz verhüllte? War das, was jetzt geschehen sollte, nicht gegen Gottes Gesetz, nicht gegen der Menschen Gesetz? – Ach, was . . .?! – Dort hinten, im Nebel, auf dem gurgelnden Wasser schwebte sie wieder . . .

»Marie . . .

Mit beiden Händen griff er an die heißen Schläfen. Er fühlte, wie das Fieber dort pochte.

»Verrückt, oder . . .«

Er lehnte sich über die hölzerne Brustwehr. Drunten wogte es und zog Kreise um Kreise – und kein Mensch war in der Nähe . . .

»Habe die Ehre, Herr Studiosus!«

Eine feste Hand legte sich auf seine Schulter.

Er wandte sich. Das freundliche Gesicht von Moses Herzlieb stand vor ihm: »Herr, was wollen Sie hier?«

»Das hab' ich ßu fragen an Sie,« sagte der Handelsmann mit ruhiger Betonung. »Herr, machen Sie keine Geschichten! – Bin ich doch soeben gekommen aus die Predigt des Herrn Pater Bonaventura. Kennen Sie ihn? – Nein, Sie kennen ihn nich, un da kennen Sie auch nich die Erregung, die in mir war – un die wollte ich mir ein bißchen am Rhein vertreten. – Un da fand ich Sie. – Bin ich meschugge! – Herr Studiosus, wissen Sie was: Sie wollten machen Geschichten.«

»Herr Herzlieb . . .

Das gutmütige Gesicht des Juden nahm einen fürchterlichen Ernst an. »Ich habe gesehen,« sagte er nach einiger Pause, »ich habe gesehen mit meine zwei Augen am leiblichen Körper: der Malach Hamoves, der Todesengel, stand bei Sie.«

Johannes van Melle prallte zurück.

»Kommen Sie ßu 'ner Besinnung, Herr Studiosus, Kenne ich doch Ihren Herrn Vater. Er is ein stiller Mann, er is ein gelernter Mann, aber er is auch ein Mann mit 'nem Blick, der 'nen Strohreiter ansticht, wenn er hineinsieht; nü, un sieht er ins Wasser – wahrhaftigen Gott! – dann wird's ßu 'nem großen Klumpen Eis. Un ich kenne auch Sie – un ich kenne auch Maria Verwahnen. Gott, ob ich sie kenne, das Freilein! – Aber was ich sagen wollte, Herr Studiosus van Melle! – Bleiben Sie ruhig, bleiben Sie bei 'ner richtigen Besinnung. Lassen Sie heute die schönen Gefühle ßurück. Ich kenne das mit die schönen Gefühle. Sie bringen nich immer Perzente for's menschliche Leben. Ich habe öfters mit die schönen Gefühle verspielt. Seien Sie kalt und bewußtlos wie der Herr Tapezier- und Malermeister Eusebius Dornkat vom Hinteren Graben. Gott, wie is der Mann kalt und bewußtlos bei die fitalsten Begebenheiten im menschlichen Leben! – Weuß ich! – werden Sie sagen – aber kennen Sie ihn?«

Johannes van Melle nickte.

»Schön,« sagte Moses, »dann muß ich Ihnen 'ne Geschichte erzählen. – Nü, was is denn?! – Kommt da eines Tages meine Frau Giddel ßu mir un sagte: Moses, sagte sie, die Gute Stube is müffig, da müssen neue Tapezereien hinein. – Schön, sagte ich, da werde ich gehen ßu'm Herrn Eusebius Dornkat vom Hinteren Graben. Gut, sagte sie, un die Küche muß werden frisch gekälkt, da haben die Fliegen un die Kakerlaken geschweinigelt un es schlimmer getrieben als die Menschenskinder in Sodom un Gomorra. – Schön, sagte ich, da werde ich auch gehen ßu'm Herrn Eusebius Dornkat vom Hinteren Graben. Un ich ging ßu ihm. Der Mann saß in seinem Atölje, wie er seine Werkstätte benennt, denn er hält was auf sich, un ich sagte ihm das von wegen der Guten Stube un Küche. Weuß ich, sagte er, wird gemacht. – Szu welchem Termine? – Szu morgen. – Schön, sagte ich, un ging wieder ßu Giddel.

Anderen Tages hatte meine Frau Geschäften mit Herrn Perdje. Der Mann brauchte neues Unterßeug. Gott, warum soll der Mann nich brauchen neues Unterßeug for Hosen un Jacken?! Er hat's ja daßu! – Schlag Klock neun kommt nu Herr Eusebius Dornkat in meine Behausung. Gott Abrahams segne den Eintritt, Herr Dornkat! – Danke! sagte er – aber wie kam er! – In der linken Hand trug er 'nen Eimer mit Weißkalk, in der Rechten 'nen Eimer mit Blaukalk, un um dem Halse hatte er ßwei Weißquäster mit 'nem Bindfaden gebunden. Die bammelten man so auf dem äußerlichen Menschen. Auch sein Herr Newö, was is ein richtiger Schwestersohn un ein gelernter Lehrling von ihm, war bei ihm un trug die übrigen Sachen. – Aber, wo sind nu die Tapezereien? fragte ich. – Herr Dornkat is nu ein kalter un bewußtloser Mann un macht sich nich viel aus wörtlichen Umständen. Er nickte dem Weißkalkeimer ßu, spuckte hinein und sagte: Hier sind sie! – un stellte ihn in die beste Stube von Giddel. – Un das for die Küche, Herr Dornkat? – Da spuckte er in den Blaukalk hinein un stellte den Eimer in die Küche, wo die Fliegen geschweinigelt hatten. Nu kann's losgehen! sagte Herr Dornkat. – Bon! sagte ich – un er nahm den Blauquast un bemalte die Küche lila un blitzblau, daß es mir vor Augen wie 'nem Färber wurde, der in 'nen Kübel mit Blauholz hineinsieht. – Fertig! sagte Herr Eusebius – un dann ging's in die Gute Stube mit's Weiße los. Sein Herr Newö hatte inzwischen die alten Tapezereien von die Wände gerissen. Nü, warum sollte er nich herunterreißen die Tapezereien von die Wände? Püh! – rochen sie doch un müffelten wie'n Landbriefträgertornister. Gott, was 'ne Maramme! – Alles wurde weiß wie's Unschuldskleid von Maria Verwahnen. Man kriegte die Schneeblindheit in die leiblichen Augen. – Nu kann die wahre Kunst losgehen, sagte Herr Dornkat, hier mit de Blumierung und mit de Sternierung da hinten. – Schön, sagte ich, un wie ich das sagte, da brachte der Herr Newö den Eimer mit Weißkalk in die Küche un den Eimer mit Blaukalk in die Gute Stube. Un der Herr Dornkat streifte die Ärmel von's Flanellhemd ßurück, knüffelte die Finger der rechten Hand zusammen un stellte sich in Positionierung. So knüffelte er die Finger zusammen . . . un wie ich mir so recht besinne, da stippt Herr Dornkat die Hand mit die Fingerspitzen in den Blaukalk un tuppt fünf blaue Punkte mit so 'nem richtigen Wuppdich auf die Wand mit's Unschuldskleid. – Sind Sie meschugge? fragte ich. – Warten Sie ab, sagte Herr Dornkat, das is Künstlerinstinktum! – un dann ging's los mit die Finger: immer 'rein in den Blaukalk, immer 'ran an die Weißwand – un wie ich so richtig ßusah, da is sie mit die feinsten Vergißmeinnichtblümchens gemustert. – Gott, wie gefühlvoll! – sagte ich, aber die Stengels fehlen. – Modern! sagte Herr Dornkat un warf sich wieder in so 'ne richtige Positionierung. Stengels? – die gibt's nich, die ahnt man. – Schön, sagte ich – un nu? – Nu kommt die Sternierung, sagte Herr Dornkat, nahm den Weißquast un ging in die Küche. – Habe die Ehre, sagte ich, vielleicht vorher so'n gefälliges Schnäpschen? – Gerne, sagte Herr Dornkat, das mischt die Farben ßusammen – un wuppte das Schnäpschen herunter. – A votre santé! dienerte der Herr Newö, denn er hatte doch auch bekommen sein gefälliges Schnäpschen – aber ein süßes. – Platz, die Herrens! schrie Herr Eusebius Dornkat. – Gott, der Gerechte! – mit 'ner tigerischen Wut hatte er den Quast in den Weißkalk getaucht, ßog ihn wieder 'raus un sagte: Nu kommen Sonne, Mond un Sterne 'ran! – Wie machen Sie das? fragte ich. – Alles aus purem Kopfe! rief Dornkat. Platz da, die Herrens! – Und vor ihm die blitzblaue Wand un über ihm die blitzblaue Decke – un dann: Rrrrr! – wie so'n Brummkreisel turnierte Herr Dornkat um seinen eigenen Senkel un schwenkte dabei seinen majestätischen Weißquast. Un klacks! stand ein Stern an die Wand, un klacks! 'ne Sonne, un klacks! gimel Sterne, lames Sterne, 'ne Milchstraße von Sternchens, un klacks! ein Mond mit fünfzehn Kuriere. – Platz da, die Herrens – nu kommt's! – Un siehst du mir: Herr Dornkat hatte mit seinem Weißquast geschmissen, un klacks! stand ein Komet mit die ganze lange Kö an die blitzblaue Decke. – Fertig! sagte Herr Dornkat. – Wo erhaben, wo erhaben! begeisterierte ich mir, un der Herr Newö hatte sich for Rührung noch ein gefälliges Schnäpschen genehmigt – aber ein süßes. – Da trat Giddel in die bekometete Küche. – Herr Dornkat hatte, wie so'n richtiger Moderner, seine rechte Hand zwischen Flanellhemd und Hosenträger gesteckt un triumphierte mit die Augen umher. – Wo gefällt es Dir, Giddelchen? fragte ich. – Mir? fragte Giddel, ging zuerst in die beste Stube, besah sich die Vergißmeinnichtblümchens mit ohne Stengels – un sagte nichts; kam in die Küche, besah sich Sonne, Mond un die blinkenden Sternchens – un sagte auch nichts. – Nü, meinte ich, Giddel, wo gefällt Dir die Sache? – Mir? fragte Giddel noch einmal, aber mit Augen wie so'n giftig Kaninchen. – Bedanke Dir auch recht schön beim Herrn Eusebius Dornkat, sagte ich dann mit so'n bißchen Beklemmung. – Ich? fragte Giddel un stemmte die Arme in die Seiten. Bin ich meschugge? – Waih geschrien! – Mit 'ner tigerischen Wut, aber 'ner richtigen, ergriff sie den Eimer und goß Herrn Dornkat den restierenden Weißkalk mit aller Ausdrucksvolligkeit über dem puren Kopfe: – Sie sind ein Kilaf, Sie sind ein Behemeh, Sie sind ein Meschores . . .! – Waih geschrien! rief ich. – Aber Herr Malermeister Eusebius Dornkat behielt seine kalte un bewußtlose Fassung. Ich danke for die Fetierung, sagte er, nahm den Weißquast unter den linken und den Blauquast unter den rechten Arm und stakelte in aller Besonnenheit mit seinem Herrn Newö aus dem ehrengekränkten Hause, um in aller Ruhe das große Schlamassel in seinem Atölje ßu besinnen. Als er jedoch durch die Haustür das öffentliche Pflaster betrat, kam ihm der ßweite Guß über dem Kopfe. Gott, der Gerechte! – diesmal war's Blaukalk – un Giddel stand am Fenster un lachte so recht aus giftiger Seele. Auch jetzt behielt Herr Dornkat seine kalte un bewußtlose Fassung. Ich danke, sagte er, nu hab' ich die bayrischen Kulören am äußeren Menschen. In meinem Atölje trinke ich 'ne Potellje Rotspon auf Ihrem Wohl, Frau Herzlieb; aber ich schicke die Rechnung. Un dann ging er in seiner bewußtlosen Ruhe un sang dabei: Ich un mein junges Weib . . . un sein Herr Newö pfiff un flötete daßu wie so'n liebreicher Karnaljenvogel. Ich aber lief dem Herrn Maler nach un sagte: Um Verßeihung, Herr Dornkat, von wegen die Sache. Schad't nichts, sagte Herr Dornkat un ging mit 'ner erhabenen Seelenruhe nach Hause. Der Mann imponierte mir mit seiner großen Positionierung. Erhaben! – sagte ich, ging wieder 'rein in die Stube, besah mir die Blumierung un Sternierung un dachte: Habe ich doch gesehen den Herrn Dornkat in seiner Amtierung, habe ich ihn doch gesehen ßwischen seine Planeten un Blümchens mit ohne Stengels, habe ich ihn doch gesehen in seine misen Verhältnisse un dann in seine feldherrlichen Ruhe, un da mußte ich sagen: der Mann is mehr wie erhaben, der Mann is mehr wie'n Löwenbändiger, weil er die Giddel un sich selber besiegt hat.«

Moses Herzlieb atmete tief auf; mit einer schnellen Bewegung tastete er nach der Hand des Insichgekehrten und sah ihm treu in die Augen.

»Junger Mann,« sagte er, »schämen Sie sich, denn bei Sie hat der Todesengel gestanden, un was das Schlimmste is, Sie haben ihn selber gerufen. Un das is so viel, als um Ihren ehrenwerten Herrn Vater un die übrigen Menschen in Tränen zu bringen. Un da über uns steht auch einer,« sagte er mit zitternder Stimme und zeigte nach oben, »der sieht allens, der weiß allens un will dereinst Rechenschaft haben von Sie, junger Mann.«

Johannes van Melle wollte antworten.

»Schweigen Sie, Herr Studiosus,« sagte Moses. »Un was auch immer passiert is, ich kann Ihnen geben 'nen guten Rat, der bringt hundert Perzente. Denken Sie an Herrn Eusebius Dornkat. Der Mann war erhaben, großartig, erschütternd in seiner Fitalität. Seien Sie ebenso kalt un bewußtlos in Ihren Todesnöten wie Herr Eusebius Dornkat. Also: kalt un bewußtlos, Herr Studiosus, und sind Sie's – nü, da werde ich zu übermorgen als am Ostersünntag, wo geht ein Liebreiz un 'ne animierte Verbrüderung durch die Natur un die Herzen der Menschen, 'ne Potellje Rotspon trinken auf Ihrem Wohl, Herr Studiosus. – Also schlagen Sie ein.«

Moses Herzlieb hielt ihm die Hand hin. Langsam legte er die seine hinein.

»Gut so!« sagte der ehrliche Jude, »gehen wir nach Hause. Sie müssen ins Bett.«

In dumpfen Schlägen tönte die zehnte Abendstunde über die Dächer und den Rhein hin. Die Nebel waren inzwischen dichter und weißer geworden. Rötlich dunstete der Mond aus der zarten Umhüllung.

Die beiden wandten sich der inneren Stadt zu. An der großen Kirche trennten sie sich. Beim Abschiednehmen hob Moses Herzlieb noch einmal die Hand auf und sagte: »Denken Sie an Herrn Eusebius Dornkat un den Malach Hamoves. Noch hat's gut gegangen. Adjüs, junger Mann. Ich habe die Ehre.«

Dann ging er.

Johannes van Melle sah ihm bekümmerten Herzens nach.

Der Wind ging – der Wind wehte . . .! –

Wie eine rote Laterne hing der Mond zwischen dem ziehenden Nebel. Er machte ein ernstes Gesicht und schimmerte blutig.

Die Schritte Herzliebs waren schon längst verhallt.

Da seufzte Johannes van Melle tief auf und wandte sich dem evangelischen Pastorat zu. Sein ganzes Mißgeschick fiel ihm zentnerschwer auf die Seele.

Er dachte an den Malach Hamoves.

 


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