Joseph von Lauff
Marie Verwahnen
Joseph von Lauff

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IX.

Intermezzo

– – – Ein scharfes Klingeln lief gellend und mißtönend durch die geräumige Wohnung. Es wurde stark an der Schelle gerissen. Wie etliche Stunden vorher, so kam auch dieses Mal das Echo von allen Ecken und Enden des weiten Hauses zurück.

Wir lauschten beide auf.

Dann wurde an die Tür geklopft.

»Herein!«

Doktor Johannes van Melle stand auf.

Die Alte mit den stechenden Augen und der kunstvoll gefälteten Spitzenhaube erschien wieder.

»Herr Doktor – die Landpraxis!«

»Wer ruft mich?«

»Die Alte vom Entenbusch. – Es soll schlimm mit ihr steh'n. Auch der Herr Notar ist schon da.«

»Anspannen lassen.«

»Bis morgen,« sagte Doktor Johannes zu mir. »Petronella soll es Dir behaglich machen auf Deinem Zimmer. Hier ist mein und Dein Haus. Leb' wohl.«

Bald darauf ratterte das einspännige Halbverdeck über das holperige Pflaster der kleinen Stadt hin. Geraume Zeit noch lauschte ich auf das ersterbende Geräusch der vorwärts eilenden Räder, dann stieg ich mit der völlig zutraulich gewordenen Alten die knarrenden Stiegen hinauf. Ein wohnlich ausgestattetes und gastliches Zimmer, mit alten Kupferstichen in schweren Barockrahmen an den Wänden, mit vergilbten Tapeten und einem mächtigen Himmelbett im Hintergrund, empfing mich. Auch hier machte alles den Eindruck bewährter Solidität und altbürgerlicher Wohlhabenheit. Mitten im Zimmer befand sich ein Tisch, auf dem die Alte in vorsorglicher Weise einen frugalen Imbiß hergerichtet hatte. Zwei Metalleuchter warfen ihr flirrendes Licht über die weißgespreitete Tafel und reflektierten in einem großen Wandspiegel, der fast die ganze, zwischen zwei Fenstern gelegene Wandfläche einnahm.

»Machen sich's der Herr nur bequem,« sagte die Alte, wobei sie diensteifrig den Polstersitz des hohen Sessels abstäubte und mich zum Sitzen einlud.

»Hier hat alles seinen geregelten Gang,« sagte sie mit einer nickenden Bewegung ihrer bauschigen Kopfhaube, »Essen und Trinken, Schlafen und Wachen, denn jedes Ding will seine Zeit haben.«

Indem sie dieses vorbrachte, rasselte sie leise mit dem großen Schlüsselbund, der mit einem Ledertäschchen an ihrer Seite hing, und mahlte dabei mit ihrem zahnlosen Munde, daß es oft den Anschein hatte, als lutsche sie an der durchsichtigen Spitze der scharfgebogenen Nase.

»Sie stehen wohl schon geraume Zeit dem Hauswesen des Herrn Doktors vor?« fragte ich, um doch auch etwas zu sagen.

»Ach, Gott, ja, mein bester Herr! – der hat ja sonst nichts auf der Welt als seine Geige und mich.«

Ein Lächeln spielte um meinen Mund.

»Lächeln der Herr nicht,« meinte sie mit einer geringen Dosis Vorwurf in der näselnden Stimme. »Eine Frau hat er nicht, keine Verwandten und Freunde – und die er einst geliebt hat auf dieser Erde, die es ihm angetan hatte, als er noch ein blutjunger Student war . . . Ach, du Herr Jeses! – der Herr haben wohl die Wasserrosen bemerkt, die unten so kreideweiß über den Rand des hohen Glases hängen?«

»Und was hat es für eine Bewandtnis mit diesen Blumen?«

»Gar nichts, mein Herr, absolut gar nichts! – das heißt . . . Aber die blühen nun schon an die dreizehn Jahre da unten – das heißt, immer frische, wenn ihre Zeit gekommen ist und die Julinächte warm über unser niederrheinisches Land gehen.«

»So! – und Sie stehen schon seit dreizehn Jahren in Diensten des Herrn Doktors van Melle?«

»Nein – aber zehn, und zwar hier in diesem Hause, mein Herr.«

»Und dieses Haus . . .

»Gehörte einem alten Sonderling. Als es nach seinem Tode vergantet wurde, hat es der Herr Doktor erstanden. Spottbillig kam es unter den Hammer. Keiner wollte es haben, denn alle Menschen fürchteten das dumpfe Geräusch, die meckernden Stimmen, die in den weiten Räumen dieses Gebäudes umgeh'n sollten. Herr Perdje Puhl brachte das ängstliche Gerede unter die Leute. Er hatte nach dem Tode jenes Sonderlings, des Herrn Jakob Verweyen, der hundertfünfzig Stunden hinter Amerika gewesen sein und ein lästerliches Verhältnis mit einer Schwarzen gehabt haben sollte, allerlei Dinge gehört und gesehen, die nicht auf natürlichem Wege zugingen. Mit Schlüsseln wurde gerasselt, Türen gingen auf und zu, trotzdem lange Zeit keine menschliche Seele in dem Hause wohnte, brannte viele Nächte hindurch eine Wachskerze in diesem Zimmer – gerade in diesem Zimmer, mein Herr – und erlosch von selber, wenn das erste Morgengrauen durch das Fenster blickte.«

»Das ist ja seltsam.«

»Äußerst seltsam!« fuhr das alte Weiblein fort, wobei es immer wieder versuchte, an der herabhängenden Nasenspitze zu kauen, »äußerst seltsam, mein Herr! – und Herr Perdje Puhl will es auf seinen Eid nehmen, daß er eines Nachts, als er mit dem Dechanten von einem Sterbenskranken gekommen, gesehen habe, wie der verstorbene Jakob Verweyen im großgeblümten, verwaschenen Schlafrock und mit weißer Zipfelmütze hier am Fenster gestanden und blitzeblanke Dukaten gezählt habe.«

»Und diesen alten Herrn habe ich selber gekannt,« unterbrach ich das geschwätzige Weibchen. »Im benachbarten Calcar habe ich meine Jugendjahre verlebt: eine enge Knabenfreundschaft verband mich mit Doktor Johannes, als wir gemeinschaftlich das Gymnasium in Münster besuchten. Die Ferien brachten mich zeitweilig nach hier, und da war es, daß wir den geheimnisvollen Vorbesitzer dieses Hauses in seinem verwaschenen Schlafrock und der weißen Zipfelmütze am Fenster bemerkten – aber da lebte der Mann noch.«

Ein verständnisvolles Grinsen huschte über die verrunzelten Züge der Alten: »Ach, du Herr Jeses! – schon richtig, denn das da mit der Gespenstergeschichte glaubten ja nur Perdje Puhl und die übrigen dösigen Leute. Sie werden doch nicht annehmen, mein Herr, daß ich . . .«

»Nicht im geringsten, werte Frau.«

»Wie mich das freut!« fuhr sie erstaunt fort. »Also der Herr sind so'n richtiger Jugendfreund vom Herrn Doktor gewesen?! – Nein, nein, nein,« ereiferte sie sich und schlug dabei die mageren Hände zusammen, »welche Ehre für uns! – Aber wie ging's denn weiter damit?«

»Nach dem Abiturientenexamen trennten wir uns. Ich schlug die militärische Laufbahn ein, während er zur Universität ging, um Medizin zu studieren. Jeder von uns folgte dem Leuchten des Sternes, der auf verschiedenen Bahnen für uns erstrahlte.«

»Ach, nee!« meinte die Alte, »und da haben sich die Herren nie wieder gesehen?«

»Nie mehr! – Erst heute . . .«

Ein stechender Blick glitt über mich fort; fragend blieb er auf meinem Antlitz haften. Ich fühlte, daß sie meine Gedanken zu erraten suchte, stellte mich aber möglichst unbefangen und sprach gleichgültig weiter: »Unser Geschick trennte uns. Mein Vater wurde als Justizrat aus dieser Gegend versetzt, während mich die militärische Karriere dem fernen Osten zuführte. Andere Menschen, andere Eindrücke! Die Weichsel flutete träge durch die Kiefernlandschaft. Alte Ziegelbauten spiegelten sich in dem ruhigfließenden Wasser. Fremde Laute drangen an mein Ohr, schwermütig tönte die Geige auf den Flößen, die von Polen herunterschwammen, und berückend schluchzte der Sprosser auf den weidenumbuschten Kämpen. Mich umfing eine andere Welt. – Erst vor kurzem wurde ich wieder in die engere Heimat verschlagen.«

Ein langgedehntes »So!« mahlte die Alte zwischen den zahnlosen Kiefern. Dann steuerte sie auf ihr Ziel los. »Also Jugendfreunde?!« meinte sie lauernd. »Hm, hm! – dann müssen der Herr auch jenes Wesen gekannt haben, jenes Mädchen mit dem sonderbaren Wachsgesicht und den schneeweißen Händen, was da unten ein berühmter Maler aus München nach einer kleinen Photographie . . . und was die Wasserrosen bedeuten . . . und die heiligen Nächte . . . und das traurige Geigen . . . Ach, du Herr Jeses! – ich soll doch nicht . . .«

Stoßweise kamen die letzten Worte aus ihrem kauenden Munde. Sie merkte, daß sie hier ein Thema angeschlagen hatte, von dem sie den Schleier nicht lüften durfte. Plötzlich gab sie dem Gespräch eine andere Wendung. »Na, ja!« mit diesen Worten lenkte sie wieder in das frühere Fahrwasser ein, »und so geschah es, daß dieses Haus hier vergantet wurde. Der Herr Notar saß vor einem großen Papier mit der Feder in der Hand, der brennende Wachsstock verlöschte: zum ersten, zum zweiten, zum dritten . . .! – Mein Herr hatte ganz alleine geboten, der Hammer fiel dreimal auf den Tisch – und dieses Haus war Eigentum des Herrn Doktors geworden. Spottbillig, sage ich Ihnen. Spottbillig, mein Herr: das ganze Haus mit Stallung, Garten, Remise und dem fetten Inventar, kaum seine bare zehntausend Taler preußisch Kurant. Und dabei dieser Plie, diese Freitreppe mits Messinggeländer, diese feinen Plüschmöbel und diese Spiegel mit den venetianischen Rahmen – nur bare zehntausend Taler preußisch Kurant! – Ach, du mein lieber Herr Jeses! – aber mehr konnte der blutjunge Herr Doktor auch nicht gut anlegen, denn das Erbteil von seinem inzwischen verstorbenen Vater war nicht bedeutend, und die Praxis des seligen Terwelp, in die er hineinspringen konnte, warf auch nur so viel ab, um ein anständiges Leben zu führen. Na – später ging's besser. Da kamen die blauen Scheine man so ins Haus geflattert, denn die Praxis wuchs – und da konnte die letzte Hypothek abbezahlt werden, die Moses Herzlieb noch zu seinem Gunsten im Grundbuch stehen hatte. Aber der Mann hat nie gedrängt; die Hypothek war eine Ehre für ihn, und es ging ihm ordentlich nah, als sie ihm gekündigt wurde.«

Ich sah das mundfertige Weibchen mit großen Augen an.

»Moses Herzlieb?« fragte ich, »der kleine Moses Herzlieb, konnte der denn Geld auf Hypotheken austun?«

Nun war das Erstaunen wieder auf seiten meiner Partnerin. »Der?!« meinte sie mit einem komischen Tonfall, als vermutete sie in mir einen Mondbewohner, der plötzlich auf die Erde gefallen sei. »Aber, mein Herr, kennen Sie denn die große Spinnerei nicht auf der Emmericher Straße?! – Moses Herzlieb und Sohn! – Fünfzig Webstühle – eigene elektrische Anlagen – Massenbetrieb – dreihundert Arbeiter, ungerechnet die fünfzig, die so auf dem Lande für Rechnung des Hauses arbeiten . . .! – Brillante Geschäfte . . .

Ich war wie aus den Wolken gefallen.

»Und nun«, ergänzte die Alte, »fährt er mit Frau Giddel in 'nem pikfeinen Landauer, und Schlaume hat sein eigenes Reitpferd und klingt mit den Sporen herum – und es sind schon Verhandlungen im Gange, Herrn Moses mit dem Kommerzienratstitel zu beehren, denn er hat liberale Gesinnungen, ist Mitglied der Sozietät und hat ein Krankenhaus für fünfundzwanzig Betten gestiftet. Und als er vor 'nem Jahr, auf Sankt Peter und Paul, mitten ins Zentrum hineinschoß, riefen alle Schützenbrüder ›Hurra!‹ und ›Vivat!‹ – Er wurde zum Ehrenmitglied ernannt, bekam ein funkelnagelneues Diplom, und Moses dienerte man so herum, daß es eine Art hatte. In seiner Großmut spendierte er ein gefälliges Gläschen Champagner, schlug auf den Tisch, daß die Gläser man so herumpurzelten und das feine Getränk auf dem Boden verspritzte. Aber das gehört sich so, meinte Herr Moses, wenn man einen silbernen Becher stiftet – denn er hatte einen solchen wirklich splendide geschenkt, daß es ein Angedenken sei für ihn und seine ganze Familie. Und die Sankt Sebastians-Schützenbrüder schrien wieder ›Hurra!‹ und ›Vivat!‹ – und hoben ihn auf und trugen ihn durch die Stadt und sangen dabei: Hoch soll er leben, hoch soll er leben – dreimal hoch! – Das war nun alles recht schön mit dem Champagner und dem silbernen Becher – aber Herr Perdje Puhl, der ihn in seiner Eigenschaft als Kassenwart unter Schloß und Riegel zu nehmen hatte, wurde durch den fortwährenden Anblick so erregt, daß er ihn immer heimlich füllen mußte, gottsjämmerlich die Trunksucht bekam und vor vier Tagen an den Folgen der verderblichen Kümmelei elend ins Gras biß. Er ist ›RIPS‹, sagen hierlands die Leute, und die beiden Lehrerinnen an der hiesigen Töchterschule, Nettchen und Settchen Käschen, bekreuzigten sich bei der Todesnachricht und hielten seinen plötzlichen Heimgang für eine gerechte Strafe und den Fingerzeig Gottes, weil er im Leben so schlechte weltliche Verse gemacht und das Sprüchlein auf der Fahne der Sankt Sebastians-Bruderschaft nicht mit ›Amen‹ beschlossen hatte. – Gott habe ihn selig!«

So lautete der Bericht, der auch der Wahrheit in den wesentlichen Punkten ziemlich nahe kam. Mit einer gewissen Lustigkeit hatte bisher die betagte Frau alle Einzelheiten ihrer Erzählung vorgebracht, und ein pfiffiges Blinzeln war damit untergelaufen, als die tiefen Gesichtsfalten plötzlich etwas Starres, Unliebsames, ja Unheimliches annahmen, die schmalen Hände in eine nervöse Unruhe gerieten und die Augen stechend wie scharfe Kardendisteln in ihre Höhlen zurücktraten. Dabei legte sich ein wehmütiger, betrübter und schmerzhafter Zug um die zusammengekniffenen Lippen, dann fuhr sie auf, und ein eigentümlicher Klagelaut, halb Lachen, halb Schluchzen, kam mir entgegen. Es war ein altmodisches Lachen, ein hüstelndes Seufzen – aber es paßte in dieses Haus, zu diesen vergilbten Tapeten und Vorhängen, es gehörte zur ganzen Umgebung, zu den Kupferstichen in den goldenen Barockrahmen und zum Himmelbett mit seinen schweren Quasten und Troddeln, daß es mir aufgefallen wäre, wenn die Alte dieses bittere Lachen und Seufzen unterlassen hätte. Es schien aus dem Boden, aus der Balkendecke, aus dem Nebenzimmer zu kommen – und dann wieder die seufzende Stimme: »Herr, du mein Jeses! – das können der Herr mir glauben: Moses Herzlieb ist glücklich, denn er wird bald Kommerzienrat werden, auch Perdje Puhl ist glücklich, denn ihm ist die ewige Ruhe geworden – aber mein armer Herr konnte die Ruhe nicht finden. Ich sah ihn leiden – und konnte nicht helfen. Immer mehr zog er sich von der Welt zurück. Es wurde stiller um ihn, immer stiller und einsamer. Er sah nur wenige bei sich, und die Wenigen, die kamen, blieben schließlich auch fort, denn das Verschlossene des Einsamen wirkte frostig auf alle. Und da mieden sie den traurigen Mann, denn sie verstanden ihn nicht mehr. Ich aber verstand ihn, mein Herr – und da hätte ich sterben mögen in meiner Betrübnis.«

Immer rätselhafter wurde das ganze Wesen der Alten. Mit ihren schmalen Händen griff sie ans Herz: »Hier saß das und wollte nicht mehr lassen von ihm. Er konnte eben nicht verwinden, was ihm in der Jugend, als er noch Student war und vor dem Staatsexamen stand, in so verhängnisvoller Weise passiert war. Nur wenn er die Geige zur Hand nimmt, wenn er vor dem Bilde des verstorbenen Mädchens steht, das ihm der große Maler gemacht hat, dann kommt der Friede über ihn. Das dauert dann bis in die Zeit, wo die Wasserrosen blühen und die Wiesen dem zweiten Schnitt entgegenreifen. Zwar klingt dann die Violine ebenso süß und lieblich wie sonst, aber es kommen doch sonderbare Töne hinein, die einem ins Herz schneiden – und dazu das Gelächter, das fürchterliche Gelächter, mein Herr . . .

Mit beiden Händen hielt sich das betrübte Weibchen die Ohren zu. Die Haube nickte bedrohlich vom Kopf: ihr Schattenbild an der Wand wuchs ins Ungeheuerliche.

»Ja – das Gelächter, das helle Gelächter! – Es läuft mir den Rücken herunter, wenn ich es höre. Sie ja selber, mein Herr . . . Es ist entsetzlich – entsetzlich – entsetzlich . . .! – Gute Nacht.«

Sie bot mir ihre verknöcherte Hand. Langsam trippelte sie aus dem Zimmer. Ich vernahm noch, wie sie keuchend und seufzend über den Flur wegscharrte, wie der große Schlüsselbund klirrte, mehrere Stufen knarrten und dann über mir eine Tür ging. Alsbald wurde es still in dem großen Hause des Doktors Johannes van Melle. –

Ich aber konnte den Schlaf noch nicht finden, setzte mir eine Zigarre in Brand, ging ans Fenster und sah in die sternklare Nacht hinaus. Das Geschick meines vereinsamten Freundes lastete schwer auf mir. Die Fäden des Gehörten verwirrten sich immer mehr, allerlei Kombinationen traten mir vor die Seele, wurden hin und her erwogen und wieder verworfen, allein eine befriedigende Lösung blieb mir fern, wie das Sternlein, das mit flirrendem Licht just über der Helmspitze des Kirchturmes aufleuchtete.

Eine selige Ruhe ging durch die warme Julinacht. Von meinem Fenster aus sah ich ein Stückchen des Rheines blitzen. Weiter nach rechts lag die Welt in einem bläulichen Dämmer; von dorther kam die Erinnerung auf weichem Flügel gezogen. Es war ein Gruß aus der Kinderzeit! –

Da – stromaufwärts und mehr in das Binnenland geschoben lag meine engere Heimat. Die beiden Türme der niederrheinischen Städtchen konnten sich wechselseitig begrüßen, und an stillen, klaren Sommerabenden, wenn der Wind ruhte, wenn sich auf den Roggenfeldern kaum eine merkliche Bewegung zeigte, mochte es vorkommen, daß das gegenseitige Aveläuten sanft und harmonisch ineinander verhallte. Und als ich dieses Aveläutens gedachte, als meine Seele hinüberschweifte in das Land meiner Kindheit, da ward ich selber zum Kinde. – Stattliche Linden umhegten mein elterliches Haus in der Siebenzahl – und in diesem Hause amtierte ein hoher, hagerer Mann als Notar, ein Mann mit lieben Augen und vieler Güte im Herzen. Und wenn seine Klienten kamen, dann fanden sie Trost und Hoffnung bei ihm, sie fanden liebevollen Zuspruch und offene Hände, denn manches Leid wurde ihnen von der Brust gewälzt und manche tiefe Furche auf der sorgenvollen Stirn geglättet. Und ich wuchs auf unter seiner liebevollen Führung, umrauscht von den Linden des väterlichen Hauses und umweht von dem Zauber der heimischen Poesie. Alles wirkte berückend auf mich: der melancholische Charakter der Gegend, die verschnörkelten Ziegelbauten mit ihren verkragten spanischen Giebeln, die Sankt Nikolaikirche mit ihrem sonoren Geläut und mit ihren Altartafeln, die Meister Jan van Calcar mit jugendfrischem Pinsel und leuchtenden Farben geschaffen – und dann das kleine Mädchen, die Schwester meines Freundes Joe und die Tochter des gefeierten Arztes, der so viele Krankheiten kurieren konnte und abends mit der langen Pfeife vor der Haustür stand und seine Wölkchen in die Luft hineinblies. Und dieses liebe Mädchen war meine Freundin; wir kannten uns gut und standen oftmals Hand in Hand auf der Deichkrone, wenn die Wiesen bald einschlafen wollten und der Abendstern schüchtern die Dämmerhelle besiegte. Dann sahen wir still über das wogende Grasmeer, wo die Kuckucksblumen standen mit ihren fleischfarbigen Blüten und die hohen Königskerzen, die an den Böschungen wucherten, sich leise im Winde bewegten. Und meine Freundin lächelte still vor sich hin. Dann aber wurde sie ernsthaft und meinte, ich solle besser den Katechismus lernen, denn sie müsse sich immer während der Christenlehre schämen, wenn ich so dumm vor dem Herrn Kaplan stände und Maulaffen feil hielte. – Ja – Maulaffen feil hielte, das sagte sie – und die Wiesen schliefen ein, im verfallenen Mühlenwehr brauste es auf, die kanadischen Pappeln rauschten dazwischen, und der liebe Abendstern leuchtete schöner und schöner. Späterhin! – Schneewehen gingen über das weite Land, der Kirchturm von Sankt Nikolai trug eine blendendweiße Haube, auf dem Monreberg wurden die jungen Fichtenbäumchen geschlagen, weithin klagte die Axt durch den eingeschneiten Wald, aber Engelsstimmen waren in den Lüften, und die heilige Weihnachtszeit mit ihren Schauern und Freuden dämmerte ahnungsvoll heran. Lustig knackte der Funke im Kamin, die Lichter erstrahlten, helle Weihnachtsseligkeit war in mir, während meine Mutter mich sorglich in ihre Arme schloß und mein Vater mit seinen großen Augen in den strahlenden Lichtschein und in die glücklichen Gesichter seiner Kinder hineinsah. – Und diese lieben Augen . . .?! – Etliche Jahre später, als er schon als Justizrat in die rheinische Hauptstadt versetzt war, zogen trübe Schatten vorüber, und diese Schatten nahmen an Stetigkeit zu. Sie ließen sich nicht mehr verscheuchen, sie wurden intensiver, dunkler und trüber – da, eines Tages . . . Ich weiß es noch wie heute: meine gute Mutter weinte leise vor sich hin, die Ärzte kamen häufiger denn sonst . . . Es mußte irgend etwas Trauriges geschehen sein. – Ein Arzt aus Utrecht kam gegen Abend an; aber auch dieser schüttelte wie seine Kollegen den Kopf und machte sich reisefertig. Wir wußten genug und konnten unseres Schmerzes nicht Herr werden. Betrübt bis in den Tod saßen wir alle zusammen und weinten bitterlich. Nur die Seele des schwergeprüften Mannes blieb sanft und heiter – aber Gott, der Herr, hatte ihm das Licht der Augen genommen. – Und diese Heiterkeit des Geistes blieb ihm zu eigen, trotzdem er von nun an in Finsternis tastete; seine Arbeitsfreudigkeit erlahmte nicht, ein verklärter Frieden verschönte sein inneres Leben, und aus diesem Frieden wuchs das ›Gaudeamus der Notare‹ heraus, das er in jenen Tagen gedichtet. Freudig, und dennoch mit Trübnis und Wehmut gepaart, klingt die Weise des erblindeten Mannes zu mir herüber:

Gaudeamus igitur,
Vacui dum sumus!
Procul sint a nobis acta,
Repertorium et pacta!
Hodie bibamus!

Vita nostra brevis est,
Labor autem longus!
Cras ut melius scribamus,
Bene hodie vivamus!
Vivat totus mundus!

Vivat Imperator Rex,
Guilelmus noster!
Vivat et Minister Ejus!
Ne reformet jus in pejus,
Caveamus semper!

Vivant omnes Judices,
Justi et benigni!
Vivant et Procuratores,
Qui non sunt persecutores!
Vivant Advocati!

Vivat nostra unio,
Et qui illam regunt!
Floreat Notariatus!
Crescat bene taxae status!
Pereant osores!

Gaudeamus igitur,
Vacui dum sumus!
Cras redibimus ad acta,
Repertorium et pacta!
Quod notamus – lex est!

Gaudeamus igitur . . .! – Noch lange hallten diese Worte in meinem Geiste nach – und dazwischen war leises Gläserklingen und Stimmengewirr . . . Das liebe Gesicht meines Vaters trat mir vor die Augen – und der Rhein blaute herauf, winkte und grüßte; Geisterlaute schwebten durch die ruhigen Lüfte, sie umzitterten mich, als hätten sie mir eine Botschaft zu bringen von dorther, wo die Sterne mit ruhigem Glanze erstrahlten. Ich war seltsam erregt, und als ich zufällig mit der Hand meine Wangen streifte, waren Tränen darüber gefallen. So saß ich lange. – Endlich holperte ein Wagen über das Pflaster, um bald darauf geräuschvoll in die Toreinfahrt des Hauses einzulenken. Doktor Johannes van Melle war von seinem Krankenbesuche zurückgekehrt. Noch lange Zeit hörte ich ihn unter mir auf und niedergehen, bis gegen drei Uhr die Schritte verhallten. Doktor Johannes hatte sich zur Ruhe begeben, um im Schlafe den ersehnten Frieden zu suchen, den er im wachen Zustande nicht finden konnte. –

Der junge Morgen fand mich noch am Fenster sitzen. Fahlgraue Lichter hoben sich jenseits des Rheines. In den kleinen Gärten der Nachbarschaft wurden die Vögel lebendig. Die kühle Frische scheuchte mich vom Fenster, und ich schlief bis weit in den Morgen hinein. – Als ich später das Wohnzimmer betrat, konnte ich meinen Freund nur flüchtig begrüßen. Draußen stand das Halbverdeck schon wieder reisefertig; das Pferd wurde angeschirrt, und Doktor Johannes fuhr nochmals zur Alten im Entenbusch. Ich benutzte den mir verbliebenen Rest des Vormittags dazu, verschiedene Örtlichkeiten der Umgegend, die mir noch aus der Jugend- und Ferienzeit her lieb und bekannt waren, wieder aufzusuchen. Es hatte sich vieles verändert; nur der Rhein rauschte herauf wie in früheren Tagen. –

Erst gegen Abend kehrte Doktor Johannes zurück. Er war sichtlich bewegt, denn seine Kunst war eitel gewesen. Nach schwerem Ringen hatte die Alte vom Entenbusch die Seele in seinen Armen ausgehaucht. –

Nach dem Abendessen saßen wir wieder in dem altmodischen Arbeitszimmer mit den düsteren Möbeln. Das musivische Glasgefäß, das unter dem Pastellbild stand, war inzwischen mit frischen Wasserrosen versehen worden. Kein Licht brannte. Wie gestern, so lichterte auch jetzt der Mond durch die Scheiben. Alle Dinge waren unter seiner Dämmerhelle deutlich erkennbar. Die weißen Hände des Doktors lagen wie aus Marmor gebildet auf der Stuhllehne. Leise wurde an die Tür geklopft. Die dritte Flasche kam – die dritte Flasche Forster-Traminer. – – –


 


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