Joseph von Lauff
Marie Verwahnen
Joseph von Lauff

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XVIII.

Der Morgen graut

Hellauf krähten die Hähne durch den erwachenden Morgen.

Noch krochen die Nebel auf grauen Tatzen und mit langen, schleppenden Gewändern über die Wiesen, klare Tröpfchen triefenden Taues hinterlassend. Fern, jenseits des Rheines stand ein rosiger Dunstkreis. Es war die Sonne, die sich bis jetzt vergeblich bemüht hatte, die dichten Nebel niederzukämpfen. Das Wasser des Rheines war bleifarben umsponnen. Man sah es nicht, wo es begann, wo es aufhörte; man vernahm nur ein verschlafenes Gurgeln, ein leises Plätschern am Ufer, das ins Ungewisse hinaustönte. Auch die Deiche verloren sich bald in diesem weißen Nebelmeer. Nur auf eine kurze Entfernung hin war ihre Spur zu verfolgen. –

Die Baumkronen, die sich zwischen Wisselward und die endlosen Wiesen drängten, schauerten leise zusammen. Der Frühwind spielte mit ihnen und machte jedes Blättchen lebendig, das sich bemühte aus der braunen Hülle hervorzudringen. Die Bäume konnten noch nicht ihr volles Rauschen entfalten; es war zu früh in der Jahreszeit. Der volle Blätterschmuck mangelte noch.

Durch die langen Pappelreihen trabte ein Reiter. Er hatte sich fest in seinen hechtgrauen Don Diego gehüllt. Lässig führte die Linke den schlappen Zügel.

Ein glimmendes Lichtpünktchen tanzte matten Scheines durch den Nebel. Es befand sich über dem Pferdekopf und gehörte zum Rattenschwanz, den sich Barthes Terwelp angebrannt hatte, übernächtigt kehrte der Doktor vom Krankenlager zurück, um zu einem anderen zu traben, an welchem der Tod stand. Vielleicht hatte er schon seine Sense geschwungen. In Wisselward war Terwelp zufrieden gewesen. Hier hatte seine Kunst genützt. Bis in den grauenden Morgen hinein war ein verzweifeltes Kämpfen gewesen; dann war der Umschlag zum Besseren gekommen. Ein quäkender Ton mutete an wie Himmelsmusik. Ermattet drückte die junge Frau ihr Haupt in die Kissen, aber sie besaß noch so viel Kraft, die Hand des Arztes zu ergreifen, sie beseligt an die Lippen zu führen und sie dankbar zu küssen. Als dann Barthes Terwelp sein Lieschen vorführen ließ, es bestieg und davonritt, blieben glückliche Menschen unter dem Strohdach zurück. Aber die Herzen schlugen ihm nach, und Segenswünsche folgten dem vortrefflichen Manne.

Die Sonne stieg höher. Ihre erwärmenden Strahlen drückten die grauen Schwaden zu Tal. Die Höhen wurden frei, klar, durchsichtig, glänzend. Nur die Erde konnte noch nicht die tiefgehenden Nebel verschlucken. Dicht und geschlossen, widerstrebend und schleifend drehten sie sich über Wiesen und Kolke. Wie eine hechtgraue Ente schwamm das Fortunatshütlein des Doktors auf der weißen, hin- und herwogenden Fläche.

Längst hatte Barthes Terwelp das säuselnde Pappelgehölz durchritten. Vor ihm lag das verschleierte Gelände, aus dem der Kirchturm der kleinen Stadt auftauchte. Die höchste Helmspitze war rosig umleuchtet. Die strahlende Glorie senkte sich tiefer und tiefer. Schon wurden einzelne Giebel sichtbar. Allmählich traten auch die Kämme der Rheindeiche in die Erscheinung.

Doktor Barthes Terwelp lenkte sein braunes Rößlein zur Linken. Wiehernd setzte es durch die triefenden Halme und Blumen. Jetzt ging es an dem ehrwürdigen Flieder vorüber, dessen knospende Zweige unter dem kühlen Hauche des Morgenwindes erschauerten.

Wieder grüßte der Doktor.

Die Nebel wurden dünner, feiner, gespenstischer. Das Licht auf der noch fernen Helmspitze nahm an rosiger Färbung zu. Die Gegend erinnerte an einen Bleichsüchtigen mit feiner, durchsichtiger Haut, auf dessen Wangen scharfumgrenzte, hektische Flecke standen. Die Niederung lag unter dem Einfluß einer Morgendämmerung, die immer noch zögerte, ein freies, sonniges Bild zu entfalten. Das Wiesenland stöhnte hohl und dumpf unter den eilenden Hufen Lieschens auf. Es war der einzige Laut in der nächsten Umgebung.

Jetzt mußte der Reiter an einer tiefhängenden Weide vorüber. Er beugte den Kopf, wobei er das Gesicht mit dem glimmenden Rattenschwanz zur Linken wandte. Da war es ihm, als wenn eine menschliche Gestalt fern im Nebel stände. Er konnte sich täuschen, denn unter dem Einfluß der noch immer ziehenden Dünste nahm jedes Ding eine absonderliche Form an.

Aber die ferne Gestalt ließ ihn nicht los. Sie schien zu wachsen. Auch war es ihm, als wenn eine klagende Stimme herüberkäme.

Da hielt Doktor Terwelp sein Rößlein an.

Nichts war zu hören. Ringsum Schweigen; nur ein schläferiges Beichtstuhlgeflüster ging von den nahegelegenen Bäumen aus. Auch das, was er zu sehen geglaubt hatte, war spurlos verschwunden.

»Unsinn!« sagte Barthes Terwelp, setzte die Sporen ein und hoppelte weiter. Aber er konnte seiner grüblerischen, düsteren Gedanken nicht Herr werden. Er zerbastelte sich den Kopf: etwas ritt hinter ihm her, um ihm eine Trauerbotschaft zu melden. Unwillkürlich kroch er in seinem Don Diego zusammen. Noch einmal wandte er sich und sah in die Gegend, wo er das menschliche Wesen vermutete. Aber es regte und rührte sich nichts. Ruhig und friedlich blenkerte der Wasserspiegel eines Kolkes aus der Ferne auf. Vorher hatte er ihn übersehen. Jetzt, wo das Licht über ihn fortlief, lag er ihm deutlich vor Augen. Allein die Unruhe wich nicht von ihm. Auch die Botschaft, die hinter ihm hertrabte, blieb ihm dicht auf den Fersen, und sie verließ ihn erst, als er den Rheindamm gewann und bald darauf vor seinem Hause aus Sattel und Gurt stieg. Hier schien sich manches verändert zu haben. Die Fenster blinkten hell über den Rhein fort, die Gardinen sahen weißer aus als am Tage zuvor, und eine genügliche Kanasterstimmung lag mit ihrem großblümigen Schlafrock und der gestickten Zipfelmütze im ersten Stock und ließ die Gaudaer Tonpfeife über das Fenstersims wegbaumeln. Auch der melancholische Dompfaff, der am Tage zuvor so unwirsch gesessen hatte, schwänzelte jetzt vergnügt mit dem hinteren Frackschoß, trippelte von einem Bein auf das andere und pfiff so akkurat wie nur möglich: »So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage . . .

Das mußte anregend und erheiternd wirken – und es geschah auch.

Doktor Barthes Terwelp hatte längst die menschliche Gestalt, die ihm im Nebel da draußen erschienen war, vergessen. Er dachte nicht mehr an sie, schlürfte behaglich seinen Morgenkaffee und begab sich gespornt und gestiefelt, nachdem er zuvor seinen Don Diego beiseite gelegt hatte, in das evangelische Pfarrhaus.

Sporenklirrend, den beknopften Bambus aufstampfend, schritt er durch die stellenweise mit kurzem Gras bewachsenen Straßen, in denen das erste Morgentreiben noch verschämt wie ein Küchelchen aus dem Ei kroch. Von einzelnen Schornsteinen kringelte der Rauch auf. Hier und da zerrte ein Bäckerjunge an den blankpolierten Klingelzügen, Frauen und Mädchen mit bloßen Armen und weißen Knippmützen klapperten in ihren gescheuerten Holzschuhen zu den nahegelegenen Pumpen; in den Kramläden wurden die Fensterblenden aufgestoßen. Hin und wieder begegneten ihm eifrige Kirchengänger, Frömmler, denen das spätere Hochamt allein nicht genügte, und die bereits die Frühmesse besucht hatten. In den Dachrinnen schilpten die Spatzen, auf dem Kirchturm wurden die Dohlen lebendig – und so aus dem Holzschuhgeklapper, dem Kreischen der Pumpenschwengel, aus den mehr oder weniger lauten Geräuschen, die sich aus dem Spatzengeschilp und dem Schwatzen der Dohlen zusammensetzten, kam allmählich der Morgen in dem kleinen Flecken zustande. Er war flügge geworden und sah mit erstaunten, wenn auch etwas verschlafenen und noch traumverlorenen Augen über die Ziegeldächer in Gottes herrliche Welt hinein. –

Barthes Terwelp mußte die schmale Gasse passieren, in welcher das Moses Herzliebsche Firmenschild fast die ganze Frontseite des kleinen Hauses erdrückte.

Moses Herzlieb kannte die Bauern. Heute war großer Verkaufstag.

Während Frau Giddel und Schlaume sich im Schaufenster selbst zu schaffen machten, geköperte Stoffe, Drell, Batist und gemusterte Leinenstücke herbeiholten, sie hinter den Scheiben aufstapelten, zusammenrollten und in knitterige Falten legten, stand Moses in höchsteigener Person auf der Straße und dirigierte von hier aus das ganze Arrangement und den eigentlichen künstlerischen Dreh. Durch Kopfnicken, vielsagende Handbewegungen, Wenden des Körpers, durch Springen von der einen auf die andere Seite, durch ein äußerst ausdrucksvolles Spiel mit den Fingern und ein lautschallendes Zungengeschnalze gab er Frau Giddel und Schlaume die nötigen Direktiven, stellte in gebleichtem, grauem, meliertem und gefärbtem Drell die sanftesten und einschmeichelndsten Couleuren zusammen, verband das Grobe der Wollsocken mit dem Zarten und Gerundeten der jungfräulichen Strümpfe, ließ hier ein Chemisettchen hervorblinzeln, häufelte zur Linken eine Kollektion bedruckter Taschentücher auf, ließ zur Rechten als Gegenstück blitzblaue Garnsträhnen niederbaumeln, machte liebevolle, streichelnde und abgerundete Handbewegungen durch die Luft, nickte und legte den Kopf auf die Seite, bis alles im Laden seine Richtigkeit hatte. Dann trat er einige Schritte zurück, schob die seidene Schirmmütze in den Nacken, brachte den linken Arm unter den Rockschoß, kniff das linke Auge ein und gab der rechten Hand ein perspektivartiges Aussehn, die er in dieser Verfassung dem andern Auge näherte und so den ausstaffierten Laden betrachtete.

Lange stand er in Erwägung.

Frau Giddel und Schlaume verhielten sich abwartend, bis Moses Herzlieb mit sich einig war und eine zustimmende Bewegung machte. Die da drinnen verstanden ihn und verließen das Schaufenster.

»Giddel, es stimmt,« sagte Herzlieb für sich. »Schlaume, die Sache is richtig.«

Doktor Barthes Terwelp kam vorüber.

»Wahrhaftigen Gott, der Herr Doktor!« freute sich Moses, streckte Terwelp die Hand entgegen und fragte: »Wo geht es dem Herrn Studiosus Johannes van Melle?«

»Je, Herzlieb . . .

»Woso, Herr Doktor? – Steht's schlimm?«

»Ich glaube.«

Mit einem wehleidigen Gesicht zuckte der Arzt mit den Schultern. Da lüftete der Jude die Seidenmütze und sagte: »Gott Abrahams beschütze ihn: ich will für ihn beten, Herr Doktor. Er war immer so liebreich, der Herr Studiosus van Melle.«

»Adjüs.«

Mit einer vielsagenden Handbewegung empfahl sich Barthes Terwelp.

Stumm sah ihm Moses Herzlieb nach.

»Also er ist doch gekommen – der Malach Hamoves,« sagte er endlich und ging in den Laden.

Eiligst schritt der Doktor weiter, querte den Großen Markt und stieg die bekannte Treppe hinauf.

Stina Prußt öffnete.

»Um Jesu Christi willen!« schrie sie auf, als sie Terwelps ansichtig wurde. »Das christkatholische Fraumensch . . .

»Lassen wir das,« versetzte das hechtgraue Männchen. »Wie geht es?«

Da trat Abraham van Melle aus dem Krankenzimmer und streckte ihm beide Hände entgegen: »Barthes, bist Du es?! – Bist Du es?!«

»Domine . . .«

»Ja, Du bist es, mein Jugendgenosse, mein Freund . . .

Ein heftiges Schluchzen erschütterte den Körper des Predigers: die Augen des harten Mannes standen in Tränen.

»Aber, Domine!«

Das Herz des Arztes war in Zweifel und Hoffnung.

»Was soll das?«

»Barthes,« sagte der Prediger, »es ist über mich gekommen wie ein großes Licht, wie eine seltsame Musik aus einer anderen Welt. – Komm,« meinte er schließlich.

Da gingen die Männer in das kahle, schmucklose Zimmer, wo der Studiosus zwischen den Kissen ruhte. Stina Prußt blieb zurück und verhüllte ihr Gesicht mit der grobleinenen Schürze. Die beiden Männer aber standen am Bett des friedlich Schlummernden. Ein seliger Glanz spielte um die Züge des Kranken. Der Atem ging ruhig.

Lange und mit verwunderten Blicken verfolgte Terwelp die Atemzüge des vor ihm Liegenden.

Dann beugte er sich nieder und horchte. Endlich richtete er sich wieder auf.

»Du . . .,« sagte er leise.

Der Prediger trat näher.

»Sie war hier?« fragte Terwelp.

»Ja,« sagte Abraham van Melle.

»Domine, hier ist ein Wunder geschehen.«

»Auch ich glaube daran,« versetzte der Prediger.

Barthes Terwelp ergriff die Rechte Abraham van Melles: »Also Du glaubst?«

»Ja.«

»Und die Wundertäterin, das verlästerte Mädchen . . .

»Nicht mehr hier.«

Da fühlte Terwelp wieder das eigentümliche Grausen; es war dasselbe Grausen, das er empfunden, als er draußen im Wiesenland jemand mit einer unheilvollen Botschaft hinter sich wähnte. Und wieder trat ihm die Gestalt deutlich vor Augen, die er draußen im Nebel gesehen haben wollte. Er gab sich keiner Täuschung und keinem Zweifel mehr hin. Jetzt wußte er es mit aller Bestimmtheit: er hatte sie deutlich gesehen und konnte nicht irren.

In tiefer Bekümmernis warf er einen großen Blick auf den Kranken. Das Grausen und das tiefe Leid, das er in diesem Augenblick für den Ärmsten verspürte, machten ihn sprachlos. Er wandte sich ab. Aber der Prediger war am Bette seines geretteten Sohnes in sich zusammen und auf die Knie gesunken – ein Mensch, der von der Überfülle des Glückes zu Boden gedrückt wird. –

Inzwischen hatte Mutter Verwahnen in der Nacht vom Ostersonntag zum Ostermontag im Webstuhl gesessen. Bis gegen den Morgen hin hatte der Nachtwächter Licht in der vorderen Stube bemerkt und das dumpfe Wuchten der Lade vernommen. Er kannte die eigentümlichen Schrullen der Alten, aber dies kam ihm doch sonderlich vor.

Allein, wie er auch singen und klopfen mochte, Hille Verwahnen hörte nicht auf ihn und webte und webte. Beim dritten Male war es still da drinnen geworden – ganz wisperstill; nur der Lichtschein huschte wie ein glühendes Mäuschen durch den herzförmigen Ausschnitt der Läden, die Mutter Verwahnen sorglich vorgelegt hatte. Dann verkroch sich auch dieses, und zum letzten Male pochte der Wächter an, dann sang er dumpf und feierlich in den grauenden Morgen hinein:

»De Klock het fiff, fiff het de Klock –
Rin in de Box en in den Rock;
De Dag well komme naar en wiet –
Heer Pater noster, verlaat ons niet.
              Amen!«

Mutter Verwahnen jedoch war ruhig und sanft zwischen den Garnfäden eingeschlafen.

Stunde auf Stunde verging; das werdende Taglicht fiel durch die herzförmigen Ausschnitte und spann sich gespensterhaft um das vorgesunkene Antlitz der stillen Frau. Die Hände lagen ihr im Schoß; lange Flachs- und Hanfsträhnen hingen dicht neben ihr von den Stuhlsäulen herab, so daß es aussah, als wäre ihr das dünne, graue Haar über die Schultern gefallen. Mit verkohltem Docht stand die altmodische Lampe neben ihr. Auch der kleinste Rest des Rüböls war aus dem Behälter gewichen. Die Flamme hatte sich selbst aufgezehrt. Ein brenzlicher Geruch durchwölkte die Stube.

Hille Verwahnen schlief bis tief in den Morgen hinein.

Das Licht da drinnen wurde heller und heller; draußen ließen sich die Schritte der Menschen hören, die zum Hochamt gingen. Dann lief ein lautes Knacken durch den Webstuhl – und Hille Verwahnen wachte auf.

»Wo bin ich?!«

Sie brachte wieder den Kontermarsch in Gang und versuchte das Schiffchen zu werfen. Allein die Kräfte versagten ihr.

Und wieder das laute Knacken von eben.

Da merkte sie, daß sie die Zeit verschlafen hatte.

»Das ist der böse Geist, der im Webstuhl sitzt,« sagte die Alte. Eine fliegende Angst kam über sie: »Jesus, Maria . . .

Da streckte ihre Seele die Arme aus.

Ängstlich kroch Hille aus den Stuhlsäulen vor und tappte ans Fenster. Dort stieß sie die Läden zurück.

Helles Licht flutete ihr entgegen.

»Nun kommt das Unglück,« stöhnte sie leise.

Sie dachte an ihre Tochter Marie.

»Marie, Marie!« jammerte Hille Verwahnen.

Keiner hörte sie, denn hallend gingen feierliche Glockentöne über die Stadt hin.

Sie riefen zum Hochamt.

 


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