Joseph von Lauff
Marie Verwahnen
Joseph von Lauff

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XVI.

Nicht heilig

Schlaume Herzlieb lag noch immer im Grase und zählte die Hüpfer, die über ihn wegschossen.

Der warme Sonnenschein drückte sich zwischen die jungen Halme und weckte alles zum Leben, was leben konnte und wollte. In den Wassergräben trieben Pfeilkraut und Froschlöffel ihre Spitzen an die Oberfläche. Langbeinige Spinnen huschten darüber hin. – Isidor weidete stelzbeinig durch den saftigen Rasen. Für seinen Herrn hatte er kein Auge mehr. Er war total mit ihm verfeindet, denn dessen beleidigendes Ansinnen, seine Gunst auch der Meyer Pinkusschen Ziege teilhaftig werden zu lassen, trug allzu sehr den Stempel des Geschäftlichen an sich, hatte mit Liebe nichts gemein und lief somit seiner bockigen Ehre schnurstracks zuwider. Die Weiße von Cornelis Janßen, die Schwarz-Braune von Herrn Eusebius Dornkat und vor allen Dingen die Rahmfarbige, die Zimperliche mit dem himmelblauen Bändchen der Damen Nettchen und Settchen Käschen: das waren denn doch andere Nummern, das waren Geschöpfe, mit denen zu buhlen nichts Anrüchiges anhaftete, nichts Unliebsames anklebte. Im Gegenteil, hier konnte die freie Liebe ihre schönsten Triumphe feiern, hier konnte sie aufjubeln und gleichartige Herzen im Taumel des Genusses vereinen. Aber die Lahme mit dem abgebissenen Ohr . . .? Hier sah das pure Geschäft wie ein Frettchen aus dem Bau. Infam! – Es ging ihm wider die ehrliche Bocksnatur, sein Gewissen sträubte sich dagegen; die von ihm selbst ausgeklügelte Theorie über den idealen Liebesgenuß und seine praktische Anwendung in besonderen Fällen wurde hierdurch über den Haufen geworfen, und dieses erwägend, stieß Isidor plötzlich ein zorniges Gemecker aus, zeigte sich halsstarrig und machte Miene, sich mit gesenktem Gehörn und mit schleppendem Bart auf seinen ahnungslosen Herrn zu stürzen.

Schlaume sprang auf. Schnellfüßig rettete er sich hinter einen Weidenstamm, riß eine Gerte herunter und versetzte dem zudringlichen Bock etliche wohlgezielte Hiebe, die diesen etwas zur Vernunft brachten. Der Angriff war abgeschlagen, das Gleichgewicht scheinbar hergestellt, aber innerlich wurmte und kochte das, und Rachegedanken im schwarzen Busen hegend, machte Isidor kehrt und rupfte mit der gleichgültigsten Miene von der Welt fettes Gras und saftige Kräuter. Zuweilen nur drang die verhaltene Wut durch. Er mobilisierte alsdann etliche Korinthen und Rosinen, quirlte mit dem Schwanz und dirigierte die runden Geschosse auf Schlaume.

Schließlich merkte dieser die böswillige Absicht.

»Nu grade,« sagte Schlaume. »Un Du kriegst doch dem Herrn Meyer Pinkus die seine; aber die Rahmweiße un die mit's dumme Gesicht von Herrn Eusebius Dornkat werden gestrichen. – Wir gehen nach Hause.«

Mit schwanker Weidengerte trieb Schlaume den steifen Bock vor sich her. Ängstlich vermied er die belebten Pfade. In großem Bogen lenkte er um die kleine Stadt, bog in die vereinsamten Gartenstege ein, um, von den grünen Hecken geschützt, den Stall zu erreichen. Er wollte am christlichen Feiertage kein Ärgernis geben.

Die braunrote Erdhummel von vorhin mußte wohl an Isidor ein besonderes Wohlgefallen gefunden haben, denn sie stellte sich von neuem ein, brummte schwerfälligen Fluges mit und machte nur ab und zu kleine Streifzüge in die nahegelegenen Gärten. Aber immer wieder taumelte sie über die Hagedorn- und Buchenhecken zurück, umkreiste Isidor – und so: Schlaume schimpfend und mit der Gerte fuchtelnd, Isidor meckernd und die dicke Erdhummel das tiefgestimmte Fagott blasend, zogen die drei auf verschwiegenen Wegen in die sonntägliche Stadt ein.

In den erwachenden Gärten trugen die Amseln dürre Stecken und faserige Quecken zu Nest. Die Aprikosen- und Pfirsichbäume spendeten Weihrauch, das sanfte Rauschen in den Obstbäumen erinnerte an fernes Orgelklingen, und die gelben Narzissen entfalteten ihre Sterne und muteten an wie Kerzen, die den Frühlingsgarten verschönten. Tausendfältig zirpte und geigte es zwischen den Hecken, die Vögel sangen dazwischen – aber alles wurde übertönt durch die mächtigen Klänge der Orgel, die jetzt aus der Kirche mit allen Registern über die Gärten frohlockte. Deutlich klangen die Aeolsstimmen und rief die vox humana herüber.

Das Hochamt war zu Ende. –

Duftig stieg der Weihrauch zur Decke; am hohen Sterngewölbe verflog er.

Die schweren Kirchentüren wurden geöffnet.

Langsam strömte die Menge durch die weiten Portale, noch ganz im Banne von dem stehend, was sie soeben gehört hatte.

Bonaventura hatte sich selbst übertroffen. Wie ein Frühlingsrausch, wie ein Auferstehungslied war es über ihre Köpfe gefahren. Er hatte gesprochen, wie der Wald spricht, wenn der Odem der erwachenden Erde ihn berührt und der Tauber lenzfroh der Gefährtin entgegenharrt. Er hatte vieles gemildert, was er während der verflossenen Fastenpredigten zürnenden Geistes angedroht hatte. Die zu Boden Geworfenen richteten sich wieder empor, die Zerknirschten freuten sich wieder des Lebens, die geängstigten Naturen atmeten auf: denn der Benediktiner hatte Töne gefunden, Töne der Verheißung auf die ewige Liebe und Barmherzigkeit Gottes, so überzeugungstreu und erquickend, so keusch und ergreifend, daß der dumpfe Geist der verlebten Trauertage von allen Zuhörern wich und der Ausblick auf eine hoffnungsfrohe Zukunft und ein glückliches Dasein nach dem Tode ihre Herzen erquickte.

Es waren große Augenblicke gewesen, Augenblicke des höchsten Genusses und der Erhebung. In verdorrte Stämme trat wieder der Saft. Nichts Irdisches klebte seinen Betrachtungen an, sie belebten wie Manna, sie entzündeten heilige Osterfeuer in der Brust der sündigen Menschheit. Unaufhaltsam, aber stetig und ruhig und einem warmen Regen gleich waren sie auf die Gemeinde geträuft. Kein Stocken trat ein. – Nur einmal hatte seine Rhetorik geschwankt und die Stimme gezittert, und das geschah, als er Marie Verwahnen bemerkte, jene Begnadete mit den traurigen Blicken, deren stummes Flehen ihn mit einem innigen Gefühl überschauerte. Auch Bonaventura war ein Mensch, auch ihm hafteten die irdischen Gebresten an; auch dem Reinsten naht sich der Versucher mit dem dämonischen Spiegel, aus welchem freudige Lebensbilder mit sinnlichen Reizen strahlen. Und dazu hofiert das Pfeiflein des Genusses und ladet ein, den süßen Einflüsterungen des Versuchers zu folgen und sich in den Taumel der schönen Sünde zu stürzen. Allein – nicht die Anfechtungen sind sündhaft, sie werden erst zur Sünde, wenn sich ihnen das Unterliegen gesellt, und Bonaventura war stark genug, dem Versucher zu trotzen und das Bild des schönen Weibes, das sich mächtig vor seine Seele stellte, von sich zu weisen.

Ja – nur für einen Augenblick hatte seine Rhetorik geschwankt und seine Stimme gezittert, dann war er wieder der Alte geworden. Die Welt und das Weib mit dem stummen Flehen in dem bleichen Gesicht lagen tief unter ihm. Er sah sie nicht mehr – aber die Welt sah ihn, und es gab Männer, die nicht mehr von seiner Seite wichen, wenn er die Straßen durchwandelte, es gab Frauen, die ihm knechtisch folgten, verhaltene Glut in den Blicken, und die schon glücklich waren, wenn sie in seine Fußtapfen treten und ein Zweiglein vom Boden nehmen konnten, das er von irgendeinem Strauche gerupft und achtlos auf die Erde geworfen hatte. Viele beteten ihn an und verehrten den Staub, der unter seinen Sohlen aufwallte. –

Bonaventura hatte zum letzten Male vor der kleinen Gemeinde gesprochen. Mit der heutigen Predigt nahm er Abschied. Sein Ziel führte ihn wieder stromaufwärts seinem Kloster zu.

Die schweren Kirchentüren waren geöffnet, und fast widerwillig verließ die erschütterte, aber auch neugestärkte Menge das Gotteshaus. Sie konnte sich nicht trennen von der Gestalt und dem Odem des Mannes, der so ganz anders geartet war wie ein jeder von ihnen. Nur Marie Verwahnen fühlte sich eins mit ihm. Sie hatte das Bewußtsein gegenseitiger Verwandtschaft, sie glaubte, daß ihre Neigungen und Gefühle in Wechselwirkung standen und sich derart verstrickten, daß eine Trennung voneinander für immer ausgeschlossen erschien. Unlösliche Bande fesselten sie an den Mann, der soeben die Kanzel verlassen und die Sakristei aufgesucht hatte; aber worin diese Fesseln bestanden, darüber wollte sie sich keine Rechenschaft geben. Sie tastete lieber durch unbestimmte Dunkelheit, als sich durch das grelle Licht der Erkenntnis aus ihrem süßen, magnetischen Taumel aufschrecken zu lassen. Die Begegnung mit Abraham van Melle hatte sie längst vergessen, an den sterbenskranken Johannes dachte sie nicht mehr. Strahlender denn je trat das schöne Bild des Kanzelredners vor sie hin, sein Auge berückte sie, seine Stimme übte Gewalt aus – und mehr träumend denn wachenden Geistes, von den Wahngebilden eines Irren umgeben, gewann sie das Freie.

Ehrfurchtsvoll wichen die Leute zurück, die sich am Portal aufgestellt hatten, um dem geliebten Manne ein letztes Lebewohl zuzurufen. Eine gedrückte Stimmung, vielfach von verhaltenem Schluchzen und Weinen durchsetzt, empfing sie. Sie drängte sich in die erste Reihe, gewillt, die letzten Blicke Bonaventuras, der von hier aus die altmodische Karosse zur Weiterreise benutzen wollte, für sich aufzufangen. Viele stießen sich an und warfen mitleidige Blicke auf sie, als sich ihnen Perdje Puhl gesellte. Er war barhaupt. Stattlich saß das zwiebelgroße Gewächs auf dem kahlen Schädel. Das einsame Toupet sträubte sich leicht. Mit großer Förmlichkeit zog er die Zinndose aus der hinteren Rocktasche, klappte sie auf, räusperte sich und warf sich den Spaniol in die Nase. Dann deutete er geheimnisvoll auf den Eingang.

Vom Herrn Dechanten begleitet, schritt der junge Benediktiner über die Schwelle.

Für einen Augenblick blieb er stehen. Man hätte von einer selbstgefälligen Pose sprechen können, wäre die Haltung nicht so ganz sein eigen und für ihn so natürlich gewesen. Heiteren Gesichtes spendete er mit seiner weißen Hand den Segen. Ruhig sah er über die harrende Menge.

Weihevolles Schweigen umgab ihn.

Alle sanken in die Knie.

Da tönte eine verzweifelte Stimme: »Bonaventura!«

Trunken von seinem Anblick warf sich ihm Marie Verwahnen zu Füßen. Ihr Leib hörte nicht auf zu zittern: beide Arme schlang sie weinend um seine Lenden.

»Du, Du!« keuchte sie aus gequälter Brust, »Großer, Heiliger, setze Deinen Schuh auf meinen Nacken: geh' über mich, auf daß ich gesunde!«

Tiefe Stille ging um. Die Bestürzung wuchs mit jeder Sekunde und lähmte Willen und Wesen.

Hochaufgerichtet stand der Mönch.

Man hörte den Herzschlag der näher Stehenden.

Was sollte jetzt kommen? – Diese Frage stand auf allen Gesichtern, und siehe: leise, als ob er sich gefürchtet hätte, streckte er die Arme von sich: dann beugte er sich nieder und nahm den kraftlosen Kopf der vor ihm Knienden mitleidig zwischen seine Hände. Langsam bog er ihr Haupt zurück, streifte mit der Rechten ihr Haar von den Schläfen und sah ihr stumm in die Augen. Dieser Augenblick sollte über ihr ganzes Leben entscheiden. Kalt und bleich kniete sie vor ihm. Sie sah nicht mehr die erschreckten Gesichter ihrer Mitmenschen, nicht mehr die eisig gewordenen Züge des Dechanten – nur noch Bonaventura war bei ihr.

Die Menge hing an seinen Lippen. Bewegt hob er das Haupt und fuhr mit der Hand über die Stirne, sie lange beschattend. Hatte sich ihm wieder der Versucher genähert? Er sah über die Aermste fort, aber er fühlte deutlich das krampfhafte Zittern ihres Körpers.

Da kam ihm die Stimme zurück.

»Was willst Du, Weib?« fragt« der Mönch.

»Was ich will?!« schrie die vor ihm Liegende. »Alles will ich . . .! – Mit Dir vereint, in Deinen Armen, an Deiner Brust – mit Dir vereint zu den ewigen Freuden . . .

»Unglückselige . . .

Bonaventura entsetzte sich.

Männer und Frauen drängten sich verstört zusammen. Nur ein kleiner Raum blieb übrig, auf dem der Mönch stand und die Wachsmarie kniete.

Was galten ihr die gleichgültigen Menschen mit den erschreckten und doch nichtssagenden Gesichtern?

Die Ekstase kam über sie. Sie gab sich keine Rechenschaft mehr von dem, was sie dachte und aussprach. Was kümmerten sie noch die gaffenden Leute, von denen ein nüchterner Hauch wie von Fenchel und Kamillen ausging! – Diese verstanden sie nicht, aber der junge Benediktiner verstand sie.

»Sieh her, Bonaventura . . .

Ein unsagbares Gefühl härtete und straffte ihren Körper. Sie bog sich im Kreuz zurück, daß ihre jungen Brüste sich steiften; sie zeigte die Handflächen und spreizte die Finger – die wächsernen Finger: »Sieh, sieh, sieh, Bonaventura, die Wundmale des Herrn – das Stigma! – Ich bin vom Himmel gezeichnet!«

»Ah!« stöhnte der Mönch.

Mit einer heiligen Scheu betrachtete er die religiöse Wut in diesem Weibe, dessen Körper sich wand unter der entsetzlichen Geißel der perversen Empfindung.

»Ich sehe nichts.«

»Nichts, nichts, nichts?!« jammerte Marie Verwahnen. »Ha! – und trotzdem: die Wundmale bluten und fließen – ein Blutgerinnsel, wie es der Herr getragen auf Golgatha! – Und diese blutenden Hände ergreifen Dein Haupt und beugen es nieder . . . Ich will – ich bete Dich an . . .

Marie sprang auf.

Jetzt verstand sie der Mönch. Die Erleuchtung war ihm gekommen. Ein düsterer Ernst legte sich um seine Schläfen.

»Du,« sagte er mit rauher Stimme, »Du hast Dein Joch gebrochen und Deine Bande zerrissen – und auf Dich passen die Worte Jeremiä, die da lauten: Du läufst umher wie eine Kamelin in der Brunst und wie ein Wild in der Wüste, wenn es lechzet vor Brunst, so niemand aufhalten kann. – Hebe Dich von hinnen, Weib – ich habe nichts zu schaffen mit Dir!«

Sie hörte nicht auf ihn; und wieder erschütterte sie das übermenschliche Zucken von eben.

»Du kannst mich erlösen oder vernichten,« wimmerte sie und reckte sich auf: »Du, küsse mich, Bonaventura!«

Ein einziger Aufschrei im Volke.

»Du, küsse mich!« klang es noch einmal.

Mit wütiger Inbrunst schlang sie die Arme um ihn. Sturm ging über sie fort. Etwas Medusenartiges, Entgeisterndes flammte aus ihren blauumränderten Augen.

Bonaventura streifte sie von sich.

Seine Stimme rollte.

»Hebe Dich von hinnen!« gebot er zum andern. »Der Himmel ist nicht in Dir!«

Mächtig flammte sein Blick auf.

»Aber eins ist in Dir, Weib,« ergänzte er in heiligem Zorn, »und das ist die Sünde.«

»Die Sünde . . .!« wiederholte sie schreiend.

Sie glich keiner Lebenden mehr. Etwas Dunkles, Furchtbares, Unheimliches lag zwischen ihr und Bonaventura. Sie fühlte, daß sie unter seinen Blicken, unter seinen Worten zermalmt war. Ihre Finger krümmten sich. Sie stand da, als hätte sie ein Gesicht, aus dem die Faust Gottes hervordrang. Sie glaubte die rollende Stimme des Allerhöchsten in den Wolken zu hören.

Die Menschen befanden sich unter dem Zwang des Augenblicks, und bevor sie sich noch Rechenschaft über das Entsetzliche, über diesen Gottesraub und dieses Sakrileg geben konnten, hatte Bonaventura den Wagen bestiegen, der in scharfem Trabe dem Rheindamm zufuhr. Bald war er hinter den ersten Häusern verschwunden.

Das harte Geräusch der vorwärts hastenden Räder brachte die Leute zur Besinnung. Jetzt merkten sie erst, daß ihnen Bonaventura genommen war, und das Kränkende von seiten einer Ortsangesessenen, unter dem er die letzten Augenblicke seines Hierseins verbracht hatte, fiel ihnen schwer auf die Seele.

Hochaufgerichtet stand die Wachsmarie.

Sie hielt die Arme gekreuzt und die Hände gegen die Brust gepreßt. Ihre visionären Augen schauten an der Menge vorüber. Sie folgten den Spuren Bonaventuras, der längst den übrigen entrückt war.

Aber keiner hatte Mitleid mit ihr. Ein jeder fühlte das Beschämende in dem Verhalten des sonst so vergötterten Mädchens heraus und hatte das Empfinden, als wäre die dem jungen Benediktiner angetane Schmach auf ihn selber übergegangen.

Noch immer stand die Verlassene mit seherischen Blicken da.

Dem dumpfen Brüten der Umstehenden folgte ein verdächtiges Wispern und Raunen. Alle steckten die Köpfe zusammen. Eine starke Erregung bemächtigte sich der in ihren heiligsten Gefühlen beleidigten Kirchengänger. – Das Volk hat kein Erinnern an geschehene Wohltaten. Dem gestern noch jubelnd ausgestoßenen ›Hosianna!‹ folgt heute schon das brutale ›Steinigt ihn!‹ – je nach Umständen und dem plötzlichen Wandel der Dinge.

Dem Küster kamen zuerst die Worte zurück.

Er sprang auf die obersten Treppenstufen. In einer Anwandlung von religiöser Wut schlug er das Zeichen des heiligen Kreuzes und stülpte die schäbige Kopfbedeckung über Toupet und Zwiebelwarze. Seine Blicke glotzten aus den Höhlen heraus.

Der Herr Dechant entfernte sich. Entrüstet folgten ihm Nettchen und Settchen Käschen, wobei sie, gleichsam um den bösen Geist der Hauptlehrerin fern zu halten und ihre erschütterten Kräfte neu zu beleben, die Kapseln, in denen sich die heiligen Partikel befanden, mit ihren Händen umkrampften.

Perdje Puhl kannte sich nicht mehr. »Was ist das, was bedeutet das?!« rief er von den Kirchenstufen herunter. »Der heilige Mann wandte sich ab! – Was sagte er doch? – Er sprach von einer brünstigen Kamelin. – Weib, gehe von hinnen: in Dir ist die Sünde – die Sünde, die Sünde . . .! – Ja, das sagte Bonaventura. – Also nicht heilig, nicht wundertätig! – Die Wachsmarie ist nicht heilig, nicht wundertätig, Geliebte im Herrn! – In ihr ist die Sünde!«

Perdje Puhl sprang unter die Menge.

»Nicht heilig, nicht heilig!« klang es ihm von allen Ecken entgegen.

Aller Augen richteten sich auf denselben Punkt, auf Marie Verwahnen. Ein dumpfes Geheul tobte sie an; geballte Hände wurden ihr entgegengestreckt. Man sprach beleidigende Vermutungen aus: Lästerungen kamen von allen Seiten gefahren. Unreife Jungen hoben Steine vom Pflaster, um sie auf die Ärmste zu werfen. Ein betäubender Donner von wilden Schreien brach los: »Nicht heilig, nicht heilig . . .

Vergebens suchten Eusebius Dornkat und Moses Herzlieb die erregten Gemüter in ruhigere Bahnen zu lenken. Auch die milden und schnapsseligen Äugelchen des Herrn Cornelis Janßen verfehlten ihre Wirkung. Der Ankerwirt und der Newö des Herrn Eusebius Dornkat blieben in abwartender Stellung. Sie verhielten sich neutral, und somit konnte das erregte Volk unter der Führung Perdje Puhls ruhig weiter rasen.

Alle Gesichte, die die Wachsmarie angeblich gehabt, alle Wunder, die sie angeblich getan hatte, fielen in nichts zusammen.

Perdje Puhl gerierte sich wie ein Tollhäusler.

In dem verwüsteten Kopf lief alles bunt durcheinander.

»Nicht heilig!« brüllte der schmächtige Großhans und schwenkte dabei den Hut durch die Luft. »Sie kann keine Wunder tun; sie hat uns betrogen!«

Perdje Puhl schluckte seine früheren Überzeugungen hiermit herunter, aber er blickte, vom Ton der eigenen Stimme erschreckt, scheu um sich her.

Ein höhnendes, vernichtendes Gelächter drang von allen Ecken und Enden auf die Wachsmarie ein.

Von allen verleugnet, von allen im Stich gelassen, stand die Unglückliche mitten in dem tobenden Haufen.

Einige Augenblicke vergingen.

Das Hohngelächter der Menge dauerte fort.

Moses Herzlieb wandte sich ab. Er konnte diese Erniedrigung nicht mit ansehen; sein Inneres bäumte sich auf gegen das Verhalten des aufgewiegelten Volkes.

Die Verspottete packte ihr Haar. Zwei Strähnen lösten sich aus der blendenden Fülle; diese legten sich kreuzweise über die Brust zusammen. Totenbleich sah das verlängerte Gesicht aus dieser Umrahmung.

Sie regte und rührte sich nicht. Ihre wächsernen Nasenflügel waren durchsichtig wie die einer Verstorbenen.

Und wieder das Gelächter von eben: »Nicht heilig bist Du; Du kannst keine Wunder tun!«

»Du hast uns betrogen!« rief es von anderer Seite.

Da legte sich ein verächtlicher Zug über das arme Gesicht.

»Also nicht heilig – nicht gezeichnet vom Herrn?!«

»Nein!« schrien die Leute.

Ein triumphierendes Lachen ertönte.

Die Wachsmarie hatte gelacht.

Das verblüffte.

»Schweiget alle!« rief sie mit lauter Stimme und preßte die Haarsträhnen fester an die Brust. »Der Himmel ist in mir. Ein Wunder wollt Ihr?! – Es sei.«

Und hochaufgerichtet, von einem inneren Drange getrieben, schritt sie durch die plötzlich stumm gewordene Menge auf das evangelische Pfarrhaus zu.

Die Leute faßten es nicht.

Dort erschien sie alsbald auf der Treppe, und dann: Marie Verwahnen war in das Haus Abraham van Melles getreten.

 


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