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Sechstes Bild

Im kleinen Kaplanhaus. Ein geschmückter Christbaum. Die beiden kleinen Nichten des Kaplans, Narzissa und Ursula, knien in der Nische vor einem kleinen Altar vor dem Kreuz, daran Herr Jesus hängt. Angezündete Kerzen, Tannen- und Blumenschmuck und ein Wachsherz, geweiht Maria.

Kaplan; Arthur Aronymus; Narzissa; Ursula; Nathanael Brennessel und Leute aus Gaesecke.

Arthur Aronymus (verharrend vor der halbgeöffneten Stube des Kaplans. Er hält einen Weihnachsstrauß in der Hand): Mutter hat mir's verboten, heute durch dein Fenster zu klettern – selbst – wenn es geöffnet stand.

Kaplan (lacht): Vermutlich des schönen Blumenstraußes in der kostbaren Spitzenmanschette wegen.

Er zieht Arthur Aronymus in die Stube.

Arthur Aronymus: Der Weihe wegen – sagte meine Mutter. (Arthur Aronymus erblickt den Baum.) Ah – h –! Bezähme dich, Junge, sagte meine Mutter, damit der Herr Kaplan deine gute Kinderstube nicht vermißt.

Arthur Aronymus gewahrt plötzlich die beiden Nichten des Kaplans, die die letzten Strophen des Vaterunsers beten.

Ursula und Narzissa (gleichzeitig): – und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Amen.

Sie erheben sich beide, Ursula kommt auf Arthur Aronymus zu.

Kaplan: Nun Kinder, gebt euch mal alle die Hände! (Zu den Nichten gewandt) Dieser nette Junge ist mein kleiner Freund Arthur Aronymus, und diese kleinen artigen Mädchen, lieber Aronymus, sind meine Nichten Ursula und Narzissa. Tretet näher, laßt uns vorerst den Christbaum anschauen.

Arthur Aronymus regt sich plötzlich nicht von der Stelle und ist verstummt.

Kaplan (zu Arthur Aronymus): Du bist ja mit einem Mal so still geworden, was ist dir denn, mein Junge?

Arthur Aronymus: Mir is wat unheimlich.

Er sieht sich im Zimmer um.

Kaplan (die beiden Mädchen drängen sich um den Kaplan, der Kaplan führt den Arthur Aronymus an den Christbaum, die beiden Mädchen folgen): Nun laßt uns zusammen »O Tannenbaum, o Tannenbaum« singen.

Ursula: Und dann beschert uns der Onkel Bernard.

Narzissa: Lieber Onkel Bernard! (Sie umhalst ihn.)

Kaplan (streicht Arthur Aronymus über seinen Scheitel): Oder wißt ihr was? Ihr stellt euch dort in die Ecke und schließt alle drei die Augen, und wenn ich rufe: »Macht die Augen auf!«, war das Christkind hier gewesen und hat seine Präsente gebracht.

Die drei Kinder: O ja!

Kaplan holt aus dem Schrank zwei Puppen, zwei kleine Testamente in Samt gebunden, einen kleinen Baukasten, einen Kreisel und stellt die Geschenke unter den Baum auf den Tisch, holt dann drei Teller, mit Spekulatius, Äpfel, Apfelsinen und Nüssen gefüllt. Zuguterletzt zieht er ein Schaukelpferd hinter dem Schreibtisch hervor.

Ursula (zu Arthur Aronymus, leise): Ich kann alles sehen, zwischen den Fingern!

Arthur Aronymus: Ich seh gar nix.

Kaplan hört es und lächelt amüsiert.

Narzissa: Ich muß so zittern, Onkel Bernard.

Kaplan: Augen auf!!!

Die Kinder: Aaaaaaaah!

Kaplan: Nehmt den Arthur Aronymus in die Mitte, ihr zwei Mädchen, und tretet vor den Tisch des Christbaums!

Ursula im Begriff, auf die Geschenke loszustürzen.

Kaplan: Nicht so ungeduldig, Ursula.

Die Kinder betrachten mit Jubel ihre Geschenke.

Ursula: Narzissa, sollen wir tauschen? Ich möchte lieber deine rosane Puppe –.

Arthur Aronymus, beglückt über das schöne Schaukelpferd, hat alles andere um sich vergessen.

Kaplan: Nun wollen wir singen.

Narzissa (mit einem sehr feinen hellen Stimmchen): »O Tannenbaum« –

Alle: »O Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter« –

(die erste Strophe.)

Arthur Aronymus (zum Kaplan): Das haben wir grade in der Gesangsstunde gelernt (freudestrahlend).

Kaplan: Das hörte ich eben vom Christkindchen.

Arthur Aronymus: Ich muß es immer allein singen in der Schule, Der Lehrer sagt, dann käme er so richtig ins Lachen mal. Das täte seinen trägen Därmen gut.

Narzissa (hebt den Finger): Ist das nicht eine Sünde von seinem Lehrer, über ein heiliges Lied zu lachen, Onkel Bernard?

Kaplan (erschüttert): Eine sehr große, mein Kind. Nun schnell wieder an die Weihnachtsgaben, die das Christkindlein euch brachte.

Narzissa (verzückt): Lieber, lieber Onkel Bernard.

Sie nimmt die Puppe in den Arm, mit dem andern Arm umarmt sie den Kaplan.

Kaplan: Wahrlich, du bist so ein rechtes Gotteskind.

Ursula (zu Narzissa): Tausch doch mit mir, ich geb dir meine blaue, und du gibst mir deine rosane.

Arthur Aronymus springt auf den Gaul und reitet. Seine Augen blitzen.

Kaplan: Daß du ihm aber einen Stall baust, Arthur Aronymus.

(Tief gerührt beobachtet der Kaplan die Kinder.)

Arthur Aronymus (fällt ihm jäh um den Hals): Ich danke dir, lieber Onkel Bernard.

Ursula (zu Narzissa): Zeig mal deinen Teller (zu Arthur Aronymus) und deinen.

Narzissa: Fein, nicht?

Ursula (zu Arthur Aronymus): Du hast ja einen Zuckerfrosch, ich und Narzissa nicht. (Zum Kaplan) Warum hat Arthur Aronymus einen Zuckerfrosch?

Kaplan: Der kam gewiß auf seinen Teller gehüpft.

Ursula: Wie komisch.

Kaplan: Nun wollen wir aber die Schokolade in der großen Kanne nicht länger warten lassen, denn meine Hausfrau feiert bei ihrer Tochter und ihren Enkelkindern den Heiligen Abend und wird sie nicht wieder aufwärmen. Plaziert euch drei bescherte Kinder recht brav um den Tisch.

Vor dem Kaplan steht die größte Tasse mit Goldbuchstaben: Bernard. In zwei Körben liegen Aniszwiebäcke und Kuchen. Die beiden Mädchen ordnen umständlich beim Niedersetzen die weiten Röcke, um sie nicht zu verrammeln. Arthur Aronymus betrachtet noch vertieft sein Schaukelpferd, und dann jäh mit einem Satz sitzt er auf dem Stuhl zwischen den Mädchen am Tisch.

Kaplan: Nun, Ursula, Narzissa, ihr wollt doch mal Hausfrauen werden, reicht schön die Bäckerei von Hand zu Hand.

Der Kaplan füllt in der Zeit die Tassen.

Narzissa: Ich will Nonne werden, so eine recht andächtige, im schwarzen Gewände.

Kaplan: Und du, Ursula?

Ursula: Ich will freien und lauter Kinder haben und dann gibts alle Tage Pudding und Safrantunke.

Der Kaplan und Arthur Aronymus lachen.

Kaplan: Und unser Arthur Aronymus, was will er mal werden?

Arthur Aronymus lächelt verlegen.

Kaplan: Doch wahrscheinlich ein Baumeister.

Arthur Aronymus: Ach ja, ich wüßt nur nicht, wie das heißt.

Kaplan: A propos, ich wollte dich schon fragen, wie es deiner kranken Schwester, der Dora, geht?

Arthur Aronymus: Simeon hat gesagt: »Der Arzt studiert nur an dem Kinde herum. Bald hat er dein Geld geschluckt, der Quacksalber, Herr Vater« – und Julius hat gesagt: »Lasse Professor Eisenbart aus Paderborn kommen, der ist Arzt über fünfhundert unheilbare Kranke.«

Kaplan verbeißt sich das Lachen. Auf einmal wird ein Stein ans kleine Fenster geworfen, und es singt jemand gehässig vor dem Kaplanhaus.

Stimme: Dat kam ein Christenkind zu gut, herfür mit dinne Judenbrut!!

Kaplan eilt ans Fenster, der Lästerer ist nicht zu sehen.

Arthur Aronymus (hebt den Finger): Darf ich was sagen? Kaplan: Gewiß, mein Junge.

Arthur Aronymus: Der singt immer im Sommer, wenn sie das Fallobst bei uns sammeln in ihren Säcken – meine Mutter sagt, arme Leute wollen auch Obst essen.

Kaplan (beunruhigt): Habt ihr verstanden, was der böse Mann gesungen hat?

Ursula (lügt kindlich): Ich hab alles verstanden, Onkel Bernard.

Arthur Aronymus (vertieft in sein Schaukelpferd; er zieht es an den Tisch zu sich. Er glaubt, er muß Ursulas Worte bestätigen): Präzise.

Narzissa (versonnen): Ich hab es nicht verstanden –.

Kaplan (legt den Kindern noch Kuchen auf den Teller): Nun schmaust weiter, meine lieben kleinen Gäste, sonst ladet euch das Christkindchen nicht wieder nächstes Jahr zum Kaplan ein.

Arthur Aronymus (zu Ursula): Du hast ja schon leer.

Ursula (zu Arthur Aronymus): Trink doch aus. (Zeigt auf Narzissa) Die ist so zimperlich immer.

Arthur Aronymus: Laß doch das Puffen.

Ursula: Onkel Bernard, ich hab noch so Durst. (Kaplan füllt noch einmal ihre Tasse.) Schmeckt lecker, Onkel Bernard.

Ein zweiter Stein trifft wieder das Fenster. Derselbe Gesang, etwas ferner, und zwar dieses Mal von einigen Stimmen. Der Kaplan eilt wieder ans Fenster, öffnet es. Brennessel kommt über den Marktplatz. Der Kaplan erkennt ihn. Im Arm hält er ein kleines geputztes Weihnachtsbäumchen.

Brennessel: Da laufen sie doch.

Kaplan: Kennen Sie die Leute bei Namen?

Brennessel: Die Missetäter? Nää. (Er hebt das Bäumchen empor, ein bißchen affektiert im Flötenton) Vom Zuckerclärchen. Se hat dem Nathanael ein Bäumchen geputzt. (Er geht weiter.) Schönen Weihnachtsabend wünsch ich Herrn Kaplan. Geht ab.

Kaplan (kommt vom Fenster, vergißt, es ganz zu schließen. Setzt sich wieder zu den Kindern): Nun dürft ihr euch alle noch etwas zum Schluß der Feier vom Baume abpflücken.

Narzissa: Den schönen Silberstern, bitte, bitte.

Kaplan geht nochmals ans Fenster, das er vergessen hatte, wieder zu schließen.

Ursula (zu Arthur Aronymus): Pflück mir wacker die Schaumkugel, kiek, die da!

Arthur Aronymus: Nää.

Ursula (auf den Kaplan zeigend): Er merkts jetzt nicht. (Sie reckt Arthur Aronymus' Arm in die Höhe) Nur wacker.

Arthur Aronymus, wie behext, pflückt die Kugel.

Kaplan (kommt dazu, zu Arthur Aronymus): Aber du willst doch nicht gar ein dreister Judenjunge werden? (Tief erschrocken über die ihm entfahrene Bemerkung.)

Arthur Aronymus (instinktiv schwer erschrocken, jäh erwacht, dann apathisch, ruft auf einmal weinerlich und furchtbar schmerzlich): Ich will zu meiner Mutter.

Pause. Kaplan erschüttert.

Arthur Aronymus (schwingt sich jäh aufs Schaukelpferd und reitet unbändig – vorwurfsvoll): Nun bin ich bald zu Hause angekommen.

Der sich schwer schuldig fühlende Kaplan ergreift den Arthur Aronymus in seinem galoppierenden Ritt, hebt ihn vom Pferde zu sich empor und küßt ihn auf den Mund. Dann holt er den Wachsengel aus der Krone des Baumes.

Kaplan: Für Lenchen, dein Schwesterchen.

Arthur Aronymus lächelt müde, er läßt sich apathisch den Engel in die Tasche stecken, und ohne sich auch nur nach seinen Geschenken umzusehen, flieht er aus der Stube, aus dem kleinen Kaplanhaus über den Markt dem Gutshaus zu.

Kaplan (verzweifelt): Legt euch in der Nebenstube schlafen, Ursula und Narzissa, damit ihr morgen ausgeruht seid für die Heimreise.

Narzissa, instinktiv, streichelt tröstend des Kaplans Wange und schreitet mit Ursula in das Nebenzimmer.

Kaplan (nimmt seinen Rosenkranz, der auf dem kleinen Altar unter den Blumen liegt, kniet vor dem Altar nieder): Vergib mir armem Sünder, Jesus Christus, diese giftige Muschel! (Tränen fließen über sein Gesicht.) Längst geläutertes Blut trieb sie an den Strand meiner Lippen. (Seine Augen tief geschlossen.)

Nach einer Weile erhebt er sich und bläst die Kerzen des Baumes aus.


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