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Erstes Bild

Mit dem umzäunten Gutsgarten des Schülerschen Gutshauses, zu dem eine Freitreppe führt, beginnt das Dorf: Hexengaesecke. Eine warme Augustnacht, der Vollmond und die Sterne am Himmel. Von überall sieht man die Tierhecken um Gaesecke. Das Theaterstück spielt etwa um 1840. In der Nähe des Gutshauses steht ein alter Brunnen.

Der Nachtwächter Altmann; Jungfer Fanny; der Kaplan Bernard Michalski; der Wanderbursch Nathanael Brennnessel.

Kaplan, heiter von der Landstraße her dem Dorfe zuwandernd, rastet er vor dem großen Gutsgarten. Er hört den Nachtwächter schnarchen.

Nachtwächter (erwacht jäh, dann schlaftrunken): Wat, Brennessel, schon wieder hier von der Rundreise?!

Kaplan verhält sich schweigend.

Nachtwächter: Gestern man erst auf und davon! (Diktatorisch) In der Nacht hab eck nur zu residenzen in der Welt, Mensch!! – (Pause) – Wat? (Er erkennt den Kaplan.)

Kaplan (hebt die Hände, neckisch bittend): Noch ein Viertelstündchen vergönnt dem Kaplan, aus der schönen grünen Welt in den (er zeigt zum Himmel) zu gucken!?

Nachtwächter (verwirrt): Eck – (sucht sein Horn, das ihm auf den Rücken gerutscht ist) Eck Hornochse!! (Der Kaplan hilft ihm, sein Horn wiederzufinden. Der Nachtwächter küßt die Hand des Kaplans.) Aber jewiß, solang et dem Hochwürdigen Herrn Kaplan beliebt. (Der Nachtwächter bläst ganz leise und vorsichtig in sein Horn.) Damit minne Kinder (er weist auf alle Häuser im Dorf, zuletzt auf die vielen Fenster im Gutshaus, süßlich) nicht die Äugelein öffnen.

Kaplan: Fürsorglicher Vater er unserem lieben Dorfe Gaesecke.

Nachtwächter: Dat hör eck gern und justement von Eurer Kaplanigkeit.

Kaplan pflückt ein kleines Zweiglein von dem über dem Zaun üppig herüberhängenden Zweige.

Nachtwächter (erstaunt): Kick eener an? –

Kaplan (er deutet fragend auf sich): Gedenkt er mich etwa wegen Laubraub zu verpetzen, Altmann?

Nachtwächter (naiv vertraulich): Eck? Klau ja selwer die Zwetschken von den Bäumen.

Kaplan (lacht überlegen und frisch): Wuchs mir doch dieses kleine wilde Zweiglein entgegen, daß ich mich seiner annehme, mich an ihm erfreue.

Nachtwächter: So ist et! (Kleine Pause, er zeigt aufs Gutshaus.) Der Großvatter Rabbi aus Paderborn ist auf Besuch.

Kaplan (stürmisch fragend): Der berühmte Gelehrte??

Nachtwächter: Gelehrte? Rabbi ist er!! Der Vatter von Madame.

Der Nachtwächter setzt das Horn an die Lippen.

Kaplan erinnert ihn, seine Kinder nicht aufzuwecken.

Nachtwächter: Eck blas jo Schofar – ihm zu Ehren.

Er bläst ganz heiser.

Die Stimme des Wanderburschen (flötend, wie auf einer Syrinx): Tekia! – – Schewarim! – – Terua!

Nachtwächter (zum Kaplan): Eck hab mir doch nicht geirrt – – (Sie lauschen beide, Kaplan und Nachtwächter.) Komm heraus aus dem hohlen Baumstamm, Nathanael! Er bläst nochmal ganz heiser.

Kaplan: Aber was weiß er vom Schofarblasen?

Nachtwächter (ausflüchtend): Eck versteh eben auf katholisch zu blasen und – anders.

Kaplan: Und weiß er auch, warum im Synagogentempel Schofar geblasen wird?

Nachtwächter: Weiß et der Herr Kaplan justement?

Kaplan: Um das neue Jahr anzulocken, Altmann.

Nachtwächter: Jo! – – (Er bläst wieder rauh, aber milde ins Horn und dann den Kaplan examinierend) Und dat olle Jahr – wohin dat nu?

Kaplan hebt, ironisch lächelnd, fragend die Schultern.

Nachtwächter: Die Katholischen, mit Fürlaub, zählen die Zeit erst vom Christi Geburt an, aber wir – ich meine die Juden – müssen immer wieder dat olle Jahr transportieren durch die Sintflut mang bis nach Weltenanfang.

Kaplan: Er versteht sich ja excellent in der Weltgeschichte!

Nachtwächter: Und dann erscht locken wir – ich meine die Juden – dat neue Jahr heran, wenn dat abgenutzte heimgekehrt ist (belehrend) in die Ursprünglichkeit.

Kaplan: Und wer hat ihm dann das Schofarblasen beigebracht?

Nachtwächter (ausfluchtend): Eck versteh katholisch und – und anders zu blasen.

Kaplan (heimlich lächelnd): Ist er etwa doch ein Jude? Denk er mal nach –

Nachtwächter: Ein halbwüchsiger schon – vom Vatter her, aber minne Mutter – war eine Nonne. (Für sich) Dat kommt von dat viele Schwätzen noch im Dunkeln, wo man kaum dat Maul findet.

Kaplan: Schämt er sich denn seines alten Glaubens, Altmann?

Nachtwächter: Eck mir nich, ehrwürdiger Herr Kaplan, aber die Katholischen schämen sich – meiner – und deswegen blas ich katholisch, und wenn er (zeigt nach oben zum Gutshause) auf Besuch ist, für ihn jüdisch.

Kaplan: Plagt ihn diese Verzwicktheit nicht immerhin in seinem Mannesadel?

Nachtwächter: Den muß man ablegen! So een Dünkel kann ein Tagelöhner (verbessert sich), ein einfacher Nachtwächter, sich verdeck nicht leisten.

Kaplan (nachdenklich, gütig und mitleidig): Dein Geheimnis bleibt unter uns Männern, Altmann. Stoß er getrost nach Gutdünken weiter ins Horn, doch setz ers mir fürder nicht auf.

Nachtwächter: Für Herrn Kaplan hat Altmann immer ein Faible gehabt – (Blickt jäh empor zu einem der Fenster, das geöffnet wird) Een Moment – een kleenen Moment – kleensten Moment – und denn bring eck Herrn Kaplan in die Klappe und blas ihm ein.

Kaplan: Mich?

Nachtwächter (läßt kein Auge von oben): In letzter Zeit treiben sich Nachtühlen auf den Pfaden umher.

Kaplan streckt dem Nachtwächter seinen kräftigen Arm entgegen.

Nachtwächter: Stille eens! Sch! (Spricht abwesend weiter) Soll Ihnen mal so ein Nachtgespenst –

Kaplan (bemerkt Jungfer Fanny oben im Fensterrahmen und verhindert den Nachtwächter immer wieder, nach oben zu schauen): Ich bin doch noch jung.

Nachtwächter in Verwirrung.

Kaplan: Schau er doch!

Hält seinen Arm unter seine Nase.

Nachtwächter (zerstreut): Dat wundert mich verdeck bei däm Futter! Excüs, Herr Kaplan, aber auf der gelehrten Schul wird doch nur Gelehrsamkeit geschluckt.

Jungfer Fanny lehnt aus dem Fenster zwischen blumigen Gardinen. Der Kaplan spielt weiter den Uninteressierten.

Kaplan: Die kräftigt grad den Mann!

Nachtwächter (überhört die Antwort. In Ekstase): Die Fanny! (Blickt intensiv zum Fenster empor) Mit dem sauberen Frauenzimmer hätt sich Altmann verehelicht, wenn er ein Chevalier geworden wär.

Kaplan: Wie?

Nachtwächter: Die Fanny ist die älteste von den Schwestern. (Andächtig süßlich) Nu trällert die Lerche in die Nacht hinaus – –

Er hält die Hand hinters Ohr. Kaplan blickt ironisch lächelnd empor.

Nachtwächter (etwas eifersüchtig, den Kaplan musternd): Die wär ooch wat man für Euch gewesen. (Lauernd) Aber die Kaplans müssen keusch leben, wat?

Kaplan (streng zurückweisend): Altmann!

Fanny verläßt das Fenster.

Nachtwächter: Excüse, hochwürdiger Herr Kaplan! – (Kleine Pause) – Dreiundzwanzig Kinder und einen Enkelsohn und einen Kaffeepott schmauste die Gemeinde heit am Nachmittag beisammen auf dem Rasen.

Kaplan: Wann ruht er denn eigentlich von der Nacht aus?

Nachtwächter: Der Moritz und ich sind aus einer der selbigen Geburtsstadt, darum legt er immer noch zu meinem kargen Lohn bei.

Kaplan anerkennend.

Nachtwächter: Nur der Simeon, der Zweite von vorne gezählt, darf es nicht sehen. (Der Nachtwächter läßt keinen Blick vom obigen Fenster.) Sie ist wieder weg. Eenmal kömmt sie, eenmal geht sie – –

Kaplan: Der Gutsbesitzer Schüler soll ein großzügiger, biederer Mann sein!

Nachtwächter: Im großen ganzen schon – darum schlof eck auch so gern vor seiner Pforte (guckt verstohlen wieder nach oben). Und erst die Henriette, sein ehelich Weib (leiernd) so rundlich und mundlich mit däm goldenen Mond (geil) da droben im Wolkenbett. (Der Nachtwächter läßt sich wieder auf dem Grenzstein nieder.) Oder wollen der Herr Kaplan sich gefälligst plazieren?

Fanny erkennt den Kaplan, lehnt sich weit aus dem Fenster. Man sieht, wie ihre Hand rücklings ein helles Tuch ergreift, das sie um ihre Schultern kokett legt. Sie wirft eine Rose über den Garten, die aber im Dorn des Zaunes hängen bleibt. Der Kaplan ergreift sie. Der Nachtwächter bemerkte den Vorgang nicht.

Kaplan (mit absichtlich vernehmbarer Stimme und beherrscht zum Nachtwächter): Erfrischen Sie sich, Altmann, den Rest der Nacht an dem Duft (gibt ihm die Rose).

Nachtwächter: Wo kam die her?

Fanny schließt hörbar ihr Fenster.

Nachtwächter (enttäuscht): Jetzt is sie wieder weg von der Bühne – und sie kommt heute nicht wieder! Wat hat se nur auf eenmal? Se kommt, se geht, se kommt, se geht, wat hat se nur auf eenmal?

Kaplan angewidert durch des Nachtwächters Vertraulichkeit. Er ist im Begriff weiterzugehen, der Nachtwächter ihm zögernd nach.

Nachtwächter (bleibt wieder etwas stehen): Dreiundzwanzig Kinder hat er zu füttern, der Moritz, aus einer Kasse; und die mannigfachen Gäste und Gastgemälde! (Gehen beide weiter.) Zuerst wurde ihm der Menachem Heinrich geschenkt. Er ist sing Erstgeborener! Ein fertiger Gutsbesitzer lag der Kronprinz in der Wiegen. Dann kam der Simeon (er leiert die Namen wie ein Schuljunge herunter), der Julius, die Fanny, die Katharine, die Elise, der Berthold, der Alex, der hat's auf der Brust; der Ferdinand, August, die Dora, die Eleonore, der Albert, die Bettina, der Arthur Aronymus, die Margarete, das Lenchen (der Kaplan zählt die Namen), der Karl, dat Mäxken, sing Augapfel, die Zwillingsmetas, wie zwei Zuckerpüppkens! Dat kleine Meierchen, und zuguterletzt – die Titi.

Kaplan: Na, den Vers hat er aber tadellos auswendig gelernt.

Nachtwächter: Was soll ich in der Nacht weiter tun?

Kaplan: Nun ja, ein schöner Strauß von Namen.

Nachtwächter: Aber das fünfzehnte von den Kindern, Unkraut vergeht nicht, der Arthur Aronymus, der will nicht so, wie »er« gern will.

Kaplan: Wie meint er das?

Nachtwächter: Der Jung ist doch gestern in einer Papierbuxe, aus unserem Käseblättchen geschnitten, auf Prells Esel durch Hexengaesecke geritten und seine beiden Taugenichtse von Schulkameraden – der Willy und der Caspar heißen sie – hinter ihm her, dat Faultier anzufeuern.

Kaplan: Köstlich!

Nachtwächter: Aber den Vater hätten Sie resonieren hören müssen, Herr Kaplan, als der verflixte kleine Kerl mit den Annoncen am Allerwertesten nach Hause geschlichen kam. (Der Nachtwächter setzt noch einmal das Horn an die Lippen und bläst heiser hinein.)

Die Stimme Nathanaels (neckisch): Tekia! Schewarim – – (Triller) Terua!

Nachtwächter: Komm heraus aus dem alten Brunnen, oller Ziegenbock!

Beide, der Kaplan und der Nachtwächter, biegen um die Landstraße ein zum katholischen Kirchplatz zu. Alles ganz ruhig. Es läutet eins vom Kirchturm.


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