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Der Brunnen

Wir sitzen auf den Stufen der Veranda von Mårbacka – alle Leute meinen, wir sollten »Veranda« sagen, statt wie bisher »Laube« oder »Treppe«, denn das klinge so altmodisch – und wir sagen zueinander, es sei recht langweilig, daß uns Tante Nana an diesem Abend nicht wie sonst eine hübsche Geschichte erzählen könne. Tante Nana ist etwas länger als die andern Gäste auf Mårbacka geblieben, um mit Vater und Mutter und Tante Lovisa noch in aller Ruhe zusammen zu sein, und das ist sehr vergnüglich. Und wir haben die ganze Zeit über so göttlich schönes Wetter gehabt, daß wir an den Abenden bis um elf Uhr draußen sitzen konnten. Da hat sich die Tante meist zu uns jungen Familiengliedern auf die Treppenstufen gesetzt und uns immerfort erzählt.

Und wir alle finden Tante Nanas Stimme wunderbar schön. Es ist uns unmöglich, nicht zu weinen, wenn sie uns etwas Schönes erzählt. Tante Nana ist auch selbst schön, und sie ist überaus glücklich, weil sie und Onkel Hammargren so ausgezeichnet für einander passen und sich so sehr lieb haben. Wir sagen öfters, Tante Nana tue uns leid, weil sie nur drei Jungen und kein Mädchen hat; aber sie selbst ist gewiß, wie es ist, ganz zufrieden.

Und wir waren ganz sicher gewesen, daß uns Tante Nana auch an diesem Abend etwas erzählen würde, aber dann wurde sie am Vormittag plötzlich krank. Sie war vorher ganz gesund gewesen, aber dann kam die Post, und sie hatte angefangen, die Wärmlandszeitung zu lesen. Aber kaum hatte sie einen Blick hineingeworfen, als sie auch schon sagte, sie habe schrecklich Kopfweh und wolle sich in ihrem Zimmer eine Weile ausruhen. Ich konnte nicht begreifen, wie jemand vom Lesen der Wärmlandszeitung Kopfweh bekommen könnte, deshalb las ich sie von Anfang bis zu Ende durch, aber es stand wirklich nichts anderes als das gewöhnliche darin.

Seither haben wir Tante Nana nicht mehr gesehen, und wir verstehen gar nicht, warum sie nicht kommt und uns etwas erzählt, und warum wir uns nun auf eigene Faust unterhalten müssen ...

Aber wie herrlich! Tante Nana ist jetzt auf die Veranda gekommen und sie sagt, es gehe ihr besser. Sie setzt sich sofort zu uns Kindern auf die Stufen, denn, wie sie sagt, ist sie nur deshalb gekommen, um ihr Versprechen, uns eine Geschichte zu erzählen, zu halten.

Und es ist fast dunkel, aber ich meine, Tante Nana sehe sehr blaß aus, und ihre Augen seien ebenso rotumrandet, wie meine damals waren, als ich auf den Ball in Sunne fahren mußte. Aber ihre Stimme hat einen noch schöneren Klang als sonst. Und alles, was sie sagt, auch das, was lustig sein soll, klingt merkwürdig rührend. Die Geschichte, die sie erzählt, kommt mir allerdings nicht so besonders merkwürdig vor, aber trotzdem muß ich die ganze Zeit mit den Tränen kämpfen.


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