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Der Kuß

Ach, wir sind furchtbar niedergeschlagen, weil Aline Laurell uns jetzt im Herbst verlassen wird.

Aline sagt, sie habe nicht genügend Kenntnisse, um uns noch länger zu unterrichten. Sie habe uns nur Französisch lehren können, und wir müßten jetzt doch auch englischen und deutschen Unterricht bekommen. Und sie sei auch nicht so perfekt im Klavierspiel, wie es nötig wäre. Es ist sehr schön von Aline, daß sie uns verlassen will, damit wir mehr Kenntnisse erlangen können, als sie uns beibringen kann; aber es ist uns darum doch furchtbar leid.

Aline hat eine Base, die Aline sehr lieb hat, mit Namen Elin Laurell. Diese kann Englisch und Deutsch und soll ausgezeichnet Klavier spielen. Aline hat es bewerkstelligt, daß Elin Laurell unsere Erzieherin wird, wenn sie selbst fortgeht. Aber Elin soll, wie wir gehört haben, schon dreißig Jahr alt sein, und wenn sie so schrecklich alt ist, wird sie wohl nicht mit uns spielen und sich nicht verkleiden und überhaupt nicht wie Aline bei allem Spaß mitmachen wollen. Und sie ist auch nicht schön. Ich habe sie einmal auf einer Gesellschaft bei Pastor Ungers in West-Amtervik gesehen, und da fand ich sie recht häßlich.

Aline selbst wird nach West-Amtervik ziehen und dort die Erzieherin der Ungerschen Kinder werden. Sie sind bei weitem nicht so alt wie wir, deshalb meint Aline, diese Kinder könne sie wohl noch unterrichten. Und Frau Unger in West-Amtervik ist Alines Tante, und Aline liebt diese Tante von ganzem Herzen, deshalb möchten wir wohl wissen, ob nicht am Ende Aline von Mårbacka weggeht, weil sie lieber bei dieser Tante, der Schwester ihrer Mutter, sein will.

Emma Laurell darf nicht mit nach West-Amtervik; sie wird noch einige Monate bei uns bleiben und bei Elin lernen. Im nächsten Jahr wird sie dann zu ihrer Mutter nach Karlstadt zurückkehren und dort die Töchterschule besuchen. Emma bleibt also vorerst noch bei uns, und darüber sind wir furchtbar froh, denn sie ist uns ja ganz wie eine Schwester. Wir können durchaus nicht begreifen, daß Emma Laurell nicht auf Mårbacka geboren ist.

Und ich glaube, Vater und Mutter ist es gar nicht recht, daß Aline von uns fort will. Sie sagen zwar nichts, aber Anna behauptet, keines von ihnen glaube, Aline wolle nur deshalb von uns fort, weil sie zu wenig Kenntnisse habe, sondern da müsse noch etwas anderes dahinterstecken. Und das glaube ich auch.

Diese Veränderung ist gar zu rasch gekommen. Im Frühjahr, als Aline nach Karlstadt zu ihrer Mutter reiste, war bestimmt angenommen worden, daß sie uns weiter unterrichten würde. Und genau so war es auch, als sie im August nach den Sommerferien zu uns zurückkehrte.

Aline traf wie sonst zum siebzehnten August wieder bei uns ein; denn nichts macht ihr eine solche Freude wie die Geburtstagsfeier des siebzehnten August auf Mårbacka. Und an dem Tag und auch noch die ganze Zeit nachher, solange die Gäste, Afzeliusens und Hammargrens und Schensons und Frau Hedberg und Onkel Christofer, da waren, war sie in übersprudelnder Laune. Aber sobald die Gäste abgereist waren, fing sie davon zu reden an, daß sie nicht fähig sei, uns noch weiter zu unterrichten, und deshalb von uns fortgehen wolle.

Und wir Kinder finden Aline auch ganz verändert. Seit sie uns gekündigt hat, ist sie äußerst empfindlich und aufbrausend. Es ist, als sei sie mit uns allen böse. Und wenn ich Klavierstunde bei ihr habe, so fürchte ich mich ordentlich davor. Ich habe gar kein Talent zum Klavierspielen; aber Vater und Mutter meinen doch, es wäre ganz gut, wenn ich so weit käme, wenigstens in einer Gesellschaft einen Walzer oder eine Fran&#263;aise spielen zu können. Sie sagen, das sei eine Freude für jedes, ob es auch noch so alt werde. Und früher hatte Aline Geduld mit mir und meinem Spiel, aber jetzt wird sie beim kleinsten Fehler böse.

Und ist es möglich, am heutigen Tag, wo wir mit den Nachmittagsstunden beginnen sollen, ist Aline unpräzis! Und das ist in den vier Jahren, die sie als Erzieherin bei uns war, noch niemals vorgekommen. Wir sind auch ganz betrübt darüber. Wir sollen Rechenstunde haben, und während wir auf Aline warten, nehmen wir unsere Schiefertafeln aus der Tischschublade und spitzen die Griffel. Und Anna sagt, als sie vor einer Weile durch das Schlafzimmer ging, habe Aline drin gesessen und mit Mutter geplaudert, sie könne also nicht weit entfernt sein. Jedenfalls erscheint Aline nicht bei uns im Kinderzimmer, ehe es ein Viertel über zwei Uhr ist. Und als sie endlich kommt, ist ihr Gesicht ganz rot, wie gewöhnlich, wenn sie Kopfweh hat; das sehen wir sofort, als sie eintritt. Sie schlägt das Rechenbuch auf und sagt uns, was wir rechnen sollen; aber sobald das getan ist, wirft sie sich der Länge nach auf das Kinderstubensofa und fängt heftig zu weinen an.

Sie sagt kein Wort, sondern schluchzt und weint nur immerfort, daß ihr ganzer Körper zittert. Und wir sagen auch kein Wort, wir bleiben stumm sitzen mit den Schiefertafeln vor uns. Es ist uns sehr traurig ums Herz, weil wir sie nicht trösten und ihr nicht helfen können, ihr, die wir doch alle miteinander so furchtbar liebhaben. Aber sie würde wohl aufgebracht werden, wenn wir es versuchen wollten, etwas zu ihr zu sagen.

Auch rechnen können wir nicht. Es ist uns unmöglich, an etwas anderes zu denken als an sie, die dort drüben liegt und weint. Schließlich steht Anna auf, legt ihre Schiefertafel in die Schublade zurück und macht Gerda und mir ein Zeichen, dasselbe zu tun. Dann schleichen wir uns alle drei zur Kinderstube hinaus; aber Emma Laurell lassen wir drinnen, weil Anna meint, sie als Alines Schwester sollte bei ihr bleiben.

Dann nimmt Anna mich mit in den Obstgarten, und da setzen wir uns auf eine Bank, wo man uns weder hören noch sehen kann, und dann spricht sie mit mir über Aline.

Seht, Anna ist ja am zweiten September fünfzehn Jahr alt geworden, und furchtbar verständig ist sie von jeher gewesen; Mutter fragt sie auch sehr häufig um Rat und bespricht alles mit ihr. Und Mutter hat zu Anna gesagt, sie sei sehr bekümmert wegen Aline Laurell und könne nicht begreifen, warum sie von uns fortgehen wolle. Sie hat Anna gefragt, ob sie nicht wisse, was dahinterstecken könnte.

Aber Anna wußte nichts, und jetzt sagt sie zu mir, sie wisse, daß Aline mich besonders gern hat und sich so oft mit mir unterhält. Sie fragt mich, ob ich mich nicht erinnern könne, daß Aline einmal etwas Besonderes über Onkel Christofer gesagt habe.

Und während ich da auf der Gartenbank sitze, bin ich über die Maßen stolz, weil Anna mich in einer ernsten Sache um Rat fragen will, denn das war gewiß noch niemals vorgekommen; aber ich begreife eben absolut nicht, was sie wissen möchte. Was hätte denn Aline Besonderes über Onkel Christofer sagen sollen?

Anna seufzt, weil ich so dumm bin und nichts begreife, und dann erklärt sie mir die Sache. Sie sagt, jetzt im Sommer, wo wir die vielen Gäste hatten, seien Mutter und Tante Georgina Afzelius und Tante Augusta auf Gärdsjö sehr darauf aus gewesen, daß sich Onkel Christofer mit Aline verlobe. Denn sie meinten, Onkel Christofer sei nun lange genug unverheiratet gewesen, und er müsse die Gelegenheit wahrnehmen, wenn er ein so prächtiges Mädchen wie Aline bekommen könnte. Er hat sich ja jetzt ein kleines Gut bei Filipstadt gekauft, das Hastaberg heißt, es wäre also besonders angezeigt, daß er sich nun eine Frau anschaffe. Und Aline sei gerade die richtige, die er nehmen sollte, weil sie klug und liebenswürdig und sparsam und ordentlich sei, ja auch keine Spielverderberin, sondern scherzen könne und Lust und Freude am Verkleiden und Theaterspielen und dem geselligen Leben habe, ganz wie Onkel Christofer auch.

Nein, wie erstaunt bin ich, als Anna mir das alles mitteilt! Ich kann kein Wort herausbringen, und deshalb fährt Anna mit ihren Erklärungen fort.

»Und ich glaube auch, daß Mutter und Tante Georgina mit Onkel Christofer ein wenig über Aline gesprochen haben,« sagt sie, »und er hat ihnen gewiß zugestimmt, denn er war ja jetzt im Sommer so ganz besonders liebenswürdig gegen Aline. Und ganz gewiß war auch Aline darum so ausgelassen, weil Onkel Christofer so liebenswürdig war, ja, bis zu seiner Abreise. Denn Onkel Christofer ist schon imstande, ein junges Mädchen in sich verliebt zu machen, sobald er nur will.«

Und da Anna schon fünfzehn Jahr ist, versteht sie ja das alles viel besser als ich, denn ich bin erst zwölf. Ich habe noch nie daran gedacht, daß sich jemand in Onkel Christofer verlieben könnte, und ich sage das auch zu Anna.

»Aber bedenk doch, wie schön er malt!« erwidert Anna. »Und wie schön er Klavier spielt, und wie angenehm er ist, und wieviel er von Deutschland und Italien zu erzählen weiß! Und er ist durchaus nicht alt, nur ein paar Jahr älter als Daniel.«

Und als Anna das sagt, fallen mir plötzlich ein paar Sachen ein, die ich vorher nicht richtig begriffen hatte.

Seht, solange die Gäste nach dem siebzehnten August noch bei uns sind, unternehmen wir meist an jedem Abend irgend etwas Lustiges. Manchmal tragen wir alle Möbel aus dem Eßzimmer hinaus, und dann lehrt uns Onkel Oriel die alten uppländischen Bauerntänze, denn Onkel Oriel ist in Enköping aufgewachsen. Und bisweilen singt Onkel Christofer Lieder von Erik Bögh, und manchmal setzen er und Frau Hedda Hedberg Studentenmützen auf und singen Studentenlieder, und manchmal bringen wir Tante Nana Hammergren dazu, uns Spukgeschichten zu erzählen.

Aber jetzt denke ich an einen Abend, wo Onkel Christofer am Klavier saß und improvisierte. Es begann damit, daß Onkel Oriel einen Damenhut mit einem breiten Rand aufsetzte, sich eine Mantille über die Schultern warf und »Emilies Herzklopfen« sang. Ach, es war furchtbar komisch gewesen, als Onkel Oriel ein junges Mädchen spielte und ganz schüchtern und verschämt tat, denn Onkel Oriel ist gewiß schon sechzig Jahr alt. Aber als Onkel Oriel fertig war, blieb Onkel Christofer am Klavier sitzen – denn natürlich hatte er Onkel Oriel begleitet –, und nach einer kleinen Weile spielte er dann auf ganz andere Weise. Er hatte keine Noten vor sich, und deshalb fragte ich Tante Georgina, was denn der Onkel da spiele. Tante Georgina aber gebot mir Schweigen und flüsterte mir zu, der Onkel improvisiere.

Ich begriff ganz und gar nicht, was sie damit meinte, aber das begriff ich, daß es etwas Außerordentliches sein müßte, denn alle die andern saßen still und feierlich da. Onkel Christofer spielte fort und fort, schließlich schlug es im Eßzimmer elf Uhr, und ich war im höchsten Grade erstaunt, daß Onkel Christofer alle diese vielen Noten hatte auswendig lernen können.

Und während Onkel Christofer spielte, war mein Blick zufällig auf Aline Laurell gefallen. Sie saß auch wie die andern ganz unbeweglich da, aber ihr Gesicht war voller Leben. Es war, als hörte sie jemand zu, der redete. Bisweilen lächelte sie, bisweilen schlug sie die Augen nieder, und bisweilen wurde sie blutrot. Und als ich Aline ansah, da wurde mir plötzlich klar, daß sie alles verstand, was Onkel Christofer spielte, ganz wie wenn er mit ihr redete. Ich selbst konnte keinen Sinn hinein bringen, aber das konnte Aline.

Und dann ein ander Mal. Es war am Lovisentag, am fünfundzwanzigsten August. Den Tag feiern wir Tante Lovisa zu Ehren immer mit einer Theatervorstellung, denn damit macht man ihr die allergrößte Freude. In dem Jahr hatten wir den »Besuch der Gräfin« aufgeführt. Das Stück ist von Frau Lenngren, in fünf Bildern, und es war alles ungeheuer gut gelungen. Aline war der Propst gewesen, und sie sah kugelrund aus, so sehr hatte sie sich ausgestopft, und auf ihrem Kopf trug sie eine große wollene Perrücke. Und Onkel Christofer war die Gräfin gewesen in einem langen seidenen Schleppkleid, einem weißseidenen Schal und einem geschlossenen Hut mit einem weißen Schleier darauf.

Onkel Christofer hatte sich jedoch einen Vollbart wachsen lassen, während er in Düsseldorf Bilder malen lernte, und der Vollbart war durch den Schleier hindurch sichtbar. Aber es war ganz merkwürdig, sobald der Onkel den Kopf zurückwarf und sich hoch aufrichtete und die Finger zierlich spreizte, glaubten wir alle miteinander, er sei eine richtige Gräfin, und vergaßen den Bart vollständig.

Als alles zu Ende war und Aline und ich uns im Kinderzimmer umkleideten – denn ich hatte auch mitgespielt –, da fragte ich Aline, ob sie nicht gefunden habe, daß Onkel Christofer sehr komisch gewesen sei.

»Komisch!« sagte Aline. »Ja, da hast du sehr recht. Er ist ja der geborene Schauspieler.«

Und das sagte sie überaus heftig, mir wurde ganz angst, und ich wagte nichts mehr zu fragen.

Aber Aline fuhr fort: »Ihr meint ja, er ist furchtbar komisch, und ihr kümmert euch um nichts weiter, als daß er sich immer als Possenreißer aufspielt, nur damit ihr recht lachen könnt. Aber ich sage dir, das ist sehr unrecht, denn dein Onkel ist ein Genie. Er kann ein großer Maler werden oder ein Komponist oder ein Schauspieler, was er nur will. Aber darum kümmert ihr euch nicht. Er soll nur immer euer Hanswurst sein. Kein einziges von euch hat so viel für ihn übrig, daß es sich darum kümmert, wieviel Schönes er in sich trägt.«

Ich dachte damals noch lange darüber nach, wie großartig Aline aussah, als sie das sagte. Aber jetzt erst kam mir der Gedanke, es könnte ja auch bedeuten, daß Aline Onkel Christofer liebt.

Und nun erzähle ich Anna beides, das, was Aline damals gesagt hat, und auch, was ich gesehen habe, als Onkel Christofer improvisierte. Und Anna sagt auch, sie meine, es könnte bedeuten, daß Aline in Onkel Christofer verliebt sei.

Und Anna sagt, wahrscheinlich habe Onkel Christofer an demselben Tag, wo er abreiste, Aline einen Antrag gemacht, sie aber habe ihm einen Korb gegeben.

»Irgend etwas ist im letzten Augenblick dazwischen gekommen,« sagt Anna, »aber wir verstehen eben nicht, was es ist; denn sie liebt ihn doch gewiß.«

Und gerade heute ist ein Brief von Filipstadt gekommen, das hat Anna gesehen, und sie glaubt, daß Mutter mit Aline über Onkel Christofer gesprochen hatte, als Aline zur Rechenstunde zu spät kam. Anna sagt, Aline hätte nicht so bitterlich geweint, wenn sie Onkel Christofer nicht lieb hätte. Und doch schlägt sie seine Werbung aus. Wir können sie ganz und gar nicht begreifen.

Anna und ich überlegen eine gute Weile; aber wir wissen weder aus noch ein, und schließlich trösten wir uns damit, daß wir unter Großvaters Astrachanbaum heruntergefallene Apfel auflesen.

Es ist mir gerade, als hätte ich ein Brett vor dem Kopf; und ich kann mich nicht davon frei machen, bis ich herausgefunden habe, warum Aline so sonderbar ist.

Am Abend, so zwischen fünf und sechs Uhr, ist meist kein Mensch im Kinderzimmer. Ich gehe also hinauf, nehme ein Schulbuch heraus und setze mich so hin, wie wenn ich lernte; aber eigentlich tue ich nichts weiter, als immerfort an Aline denken.

Nach einer Weile kommt das Kindermädchen Maja herein, um die Betten für die Nacht zurechtzumachen. Sie ist gewiß erstaunt, weil ich dasitze, nur in ein Buch hineinstarre und gar nichts tue.

»Was hast du denn heut abend, Selma?« fragt sie. »Hast du eine Strafaufgabe?«

»Nein,« sage ich, »ich bin nur betrübt, weil Aline von uns fortgeht.«

Ei, das hat Maja noch nicht erfahren, obgleich sie sonst immer alles weiß. Sie stimmt mir bei, ja, es sei sehr schade, daß Mamsell Aline fortgehe, »denn,« sagt sie, »sie war ein Mensch, den man geradezu liebhaben mußte.«

Darauf schweigt Maja einen Augenblick, sagt aber dann doch, sie könne auch gar nicht verstehen, warum unsere Mutter Mamsell Aline gekündigt habe.

»Ach, Mutter hat ihr sicher nicht gekündigt,« erwidere ich, »sondern sie ist es, die gekündigt hat. Mutter begreift nicht einmal, warum sie fort will.«

Maja schweigt wieder eine Weile. Sie macht Annas Bett zurecht und sieht ganz grüblerisch aus, zuletzt sagt sie:

»Ich hatte auch gedacht, daß Mamsell Aline bald gehen wird, aber ich meinte, ganz wo anders hin.«

»Wohin meintest du denn, Maja?«

»Ja, siehst du, ich war überzeugt, daß sie deine Tante werden würde.«

Darauf erwidere ich nichts, denn es gefällt mir nicht recht, daß Maja alles von uns allen weiß.

Maja beschäftigt sich weiter mit den Betten, dann sagt sie mit einem tiefen Seufzer:

»Vielleicht ist es am besten so. Es ist nicht sicher, ob das etwas für sie gewesen wäre.«

Aber nun fühle ich mich für Onkel Christofer gekränkt.

»Warum sollte Onkel Christofer nicht für Aline passen?« frage ich.

Jetzt wird Maja ganz eifrig, sie läßt die Betten stehen und kommt zu mir her.

»Ich will dir etwas sagen, Selma, was ich am siebzehnten August gesehen habe,« sagt sie.

Und dann erzählt mir Maja folgendes: am letzten siebzehnten August hatte eine der Damen, die zu Besuch da waren, das Mißgeschick, ihr Kleid zu zerreißen, als sie drunten im Garten Beeren pflückte. Wer es war, wollte Maja nicht sagen, aber jung und schön und verheiratet sei sie gewesen, sagte Maja. Sie sei nicht aus unserem Kirchspiel, und sie sei auch in diesem Jahr zum erstenmal auf Mårbacka gewesen; das übrige müsse ich selbst erraten.

Diese schöne Frau, deren Namen Maja nicht nennen wollte, war mit Onkel Christofer und Frau Lindegren von Halla in den Garten gegangen, und da war das Mißgeschick mit dem Kleid passiert, und die Dame war natürlich sehr erschrocken und ärgerlich darüber, was man ja gut begreifen kann. Der ganze Ärmel war aufgeschlitzt und mußte durchaus zusammengenäht werden. Mit dem zerrissenen Ärmel wollte sie nicht in das Hauptgebäude durch die ganze Schar der Gäste hindurchgehen, um Nadel und Faden zu holen. Da hatte Onkel Christofer vorgeschlagen, daß sie in Vaters Amtszimmer gehen sollte, dorthin könne sie unbemerkt kommen, denn es sei dort kein Mensch um den Weg. Und Frau Lindegren von Halla erbot sich, Nadel und Faden zu holen und damit ins Amtszimmer zu kommen, um ihr beim Zusammennähen zu helfen.

Die schöne fremde Dame hatte Frau Lindegren für ihr Anerbieten warm gedankt und war dann mit Onkel Christofer ins Amtszimmer gegangen. Frau Lindegren ging ins Hauptgebäude, aber es dauerte eine Weile, bis sie das Nähzeug fand, denn an einem solchen Tag steht auf Mårbacka nichts auf seinem richtigen Platz. Schließlich fand sie aber doch ein Nähkörbchen und lief mit diesem eiligst hinunter nach der Amtsstube, denn sie meinte, sie habe lange auf sich warten lassen.

Aber in der Tür des Amtszimmers befindet sich ein kleines rundes Fenster. Es ist nur ein kleines Guckloch, damit der, der drinnen ist, sehen kann, für wen er die Tür öffnet. Als nun Frau Lindegren von Halla vor der Amtsstube stand, warf sie durch dieses Guckloch einen Blick hinein. Sie wollte wohl sehen, ob die schöne Frau und Onkel Christofer noch drinnen auf sie warteten, sonst hätte sie ja nicht hineinzugehen brauchen.

Und da hatte Frau Lindegren von Halla gesehen, daß Onkel Christofer und die schöne fremde Frau mitten im Zimmer standen und sich küßten.

Und Frau Lindegren von Halla war ganz verwirrt gewesen und wußte nicht, was tun. Zu den beiden, die sich da drinnen küßten, wollte sie nicht hinein. Andererseits aber brauchte die schöne fremde Frau das Nähzeug, um ihren Ärmel flicken zu können. Doch dann hatte Frau Lindegren Maja erblickt, die in irgendeinem Auftrag durch den Hof daherkam. Sie rief Maja zu sich her und trug ihr auf, mit dem Nähkorb zu der schönen fremden Frau hineinzugehen und ihr zu helfen, ihren Ärmel, den sie sich beim Stachelbeerpflücken zerrissen hatte, zusammenzunähen.

»Aber, Maja, Sie müssen dreimal fest anklopfen, ehe Sie die Tür aufmachen,« hatte sie gesagt.

Und das tat Maja. Aber ehe sie anklopfte, warf sie auch einen Blick durch das Guckloch, und da begriff sie natürlich, warum Frau Lindegren von Halla nicht mit dem Nähkorb hatte hineingehen wollen. Als dann Maja angeklopft und die Tür so langsam wie möglich aufgemacht hatte, stand Onkel Christofer drüben am Fenster und die schöne Frau am Ofen. Er war ganz wie sonst gewesen, sie aber hatte ein dunkelrotes Gesicht, und ihr Haar war zerzaust.

Maja hatte keinem Menschen außer nur mir ein Wort von alledem gesagt, denn das hatte sie nicht gewagt. Aber ob Frau Lindegren von Halla auch geschwiegen hatte, das wußte sie nicht.

Aber sobald Maja ausgesprochen hat, laufe ich zu Anna hinunter und berichte ihr die ganze Geschichte.

»Und weißt du noch,« sage ich sehr schnell und erregt, »als Pastor Lindegrens am letzten Abend, bevor die Gäste abreisten, noch bei uns waren, begleiteten wir sie ein Stück Wegs, weil es herrlicher Mondschein war? Und erinnerst du dich, daß Aline die ganze Zeit mit Frau Lindegren ging und sich mit dieser unterhielt. Und da hat gewiß Frau Lindegren die Gelegenheit wahrgenommen und Aline von diesem Kuß erzählt. Glaubst du das nicht auch?«

Und Anna stimmt mir bei. »Ja, auf diese Weise muß es sich verhalten, denn seit dem Abend ist Aline so verändert.«

»Und glaubst du nicht, daß sie Onkel Christofer deshalb einen Korb gab, weil sie das von ihm gehört hat?« sage ich, und ich bin immer noch ebenso eifrig und hoffnungsvoll.

»Doch, das glaub' ich gewiß,« antwortet Anna, aber sie sieht eben kein bißchen froh aus.

»Und weil Aline nun so böse auf Onkel Christofer ist, deshalb will sie jetzt von uns fort, glaubst du das nicht auch?« erwidere ich.

»Doch,« antwortet Anna, »das ist doch selbstverständlich.«

Ich sehe Anna verwundert an, denn sie sitzt ganz still da und sieht ganz und gar nicht vergnügt aus; auch läuft sie mit der Neuigkeit nicht eiligst zu Mutter.

»Willst du Mutter nicht mitteilen, daß wir nun wissen, was hinter dieser Aufkündigung steckt?« frage ich.

»Nein,« antwortet Anna. »Wenn es so steht, würde es sich wohl gar nicht verlohnen, darüber zu reden. Aline nimmt solche Sachen sehr genau. Sie wird ihn nie heiraten.«

»Nein, das ist ja klar,« sage ich. »Aber kann Mutter sie nicht bitten, bei uns zu bleiben? Sie braucht uns doch nicht zu verlassen, weil Onkel Christofer eine fremde Frau geküßt hat.«

Anna sieht mich an, und ich verstehe. Ach, sie hält mich für furchtbar dumm!

»Begreifst du denn nicht, daß sie gerade wegen dieses Kusses von uns fortgeht?« sagt sie. »So lange sie bei uns ist, muß sie jeden Tag daran denken. Und das kann sie nicht ertragen.«


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