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Pastor Unger

Als wir beim Abendbrot sitzen, erzählt Aline uns eine prächtige Geschichte von Pastor Unger. Und ich bin ganz glücklich, als Vater und die andern sagen, er habe sich wie ein rechter Mann benommen; denn Pastor Unger habe ich sehr lieb. Wenn ich zwischen allen den Herren, die hierher zu Vater auf Besuch kommen, wählen sollte, würde ich ihn für den angenehmsten und liebenswürdigsten erklären.

Pastor Unger kommt natürlich immer am siebzehnten August und auch sonst, wenn wir Gesellschaft haben; aber merkwürdigerweise kommt er nicht nur da, sondern auch an Tagen, wo sich sonst niemand hierher wagt.

Wir pflegen zu sagen, wir wüßten wirklich nicht, wie es ihm gelinge, ausgerechnet gerade an dem Tag zu kommen, wo wir die große Weihnachtsputzerei haben und es am allerunbehaglichsten und unordentlichsten bei uns ist. Aber wenn zwei Dienstmädchen im Schlafzimmer den Fußboden scheuern und die Schlafzimmermöbel in den Flur hinausgeschafft sind und zwei bestellte Putzfrauen im Salon scheuern und die Salonmöbel im Eßzimmer stehen; und wenn Mutter in der Küche an dem einen Ende des großen Backbretts Weihnachtsstollen vorbereitet und die Haushälterin am andern Gewürzkuchen backt; und wenn Tante Lovisa die Küchenstube ausgeräumt hat, damit sie und Anna und Gerda und ich uns da mit dem Kleinbackwerk beschäftigen können; wenn wir alle miteinander unsere verwachsensten und abgelegtesten Baumwollkleider und große Backschürzen anhaben; und wenn Vater im Eßzimmer sitzt, auf der einen Seite von Salonmöbeln und auf der andern Seite von Küchenstubenmöbeln wie eingemauert, dann, ja, das wissen wir, dann ist Pastor Unger nicht weit weg.

Wenn er dann in seinem kleinen Einspänner auf den Hofplatz hereinfährt, jammern wir, weil an einem solchen Tag ein Gast kommt, und wir sagen zu Vater, er müsse selbst hinausgehen und ihn in Empfang nehmen, denn wir andern seien so angezogen, daß wir uns nicht zeigen könnten. Aber wir jammern immerhin bei weitem nicht so, wie wir es getan hätten, wenn es jemand anders als Pastor Unger wäre.

Sobald Vater auf die Haustreppe hinausgetreten ist, ruft er Pastor Unger zu, es wäre am besten, wenn er gar nicht erst ausstiege, denn im ganzen Hause gäbe es nur Backweiber und Scheuerfrauen. Aber Pastor Unger erschrickt nicht die Spur, sondern springt aus seinem Wagen und kommt die Stufen herauf.

»Ach so, ihr habt auch Großreinemachen!« sagt er. »Ja, das hätte ich mir fast denken können, denn Maria hat daheim so fürchterlich gestöbert, daß ich notgedrungen auf und davon gehen mußte.«

Dann geht er mit Vater ins Eßzimmer. Vater setzt sich wie gewöhnlich in den Schaukelstuhl, aber Pastor Unger sucht sich den schlechtesten Stuhl aus, den er entdecken kann, und rückt ihn zum Schaukelstuhl hin. Und ehe er sich noch recht niedergelassen hat, ist er schon mitten im Erzählen einer lustigen Geschichte.

Nach einer Weile begibt sich Pastor Unger in die Küchenstube und in die Küche.

»Ei, was höre ich! Luise und Lovisa wagen es nicht, mich zu begrüßen,« sagt er, »es bleibt mir also nichts andres übrig, als selbst hierher zu kommen.«

Und wenn die beiden dann Teig an den Händen haben, so klopft er ihnen statt eines Handschlags ein paarmal so auf die Schulter, daß der Mehlstaub auffliegt. Und dann sagt Pastor Unger zur Haushälterin, er sehe schon, wir bekämen kein gutes Weihnachtsfest, denn die Gewürzkuchen seien so flach wie Knäckebrot. Aber die Haushälterin erwidert sofort, mit Pastor Ungers Augen müsse etwas nicht in Ordnung sein, wenn er nicht sehen könne, daß die Gewürzlaibchen so rundlich wie ein Prälatenbauch seien.

Dann richtet er Mutter und Tante Lovisa Grüße von Tante Maria aus, und wenn er sich dann noch eine Weile umgeschaut hat, sagt er, hier in dieser Küche seien ja alle im Vergleich zu dem, wie die daheim aussähen, geradezu festlich angezogen. Danach bittet er, auch die Pfefferkuchen versuchen zu dürfen, denn Pfefferkuchen seien für ihn das allerbeste Backwerk. Er guckt auch noch in den Teigtrog, ob der Teig tüchtig aufgeht, tritt dann an den Kochherd und hebt von allen Töpfen auf der Herdplatte die Deckel auf, um zu sehen, ob er, wie er sagt, ein anständiges Essen zu Mittag bekäme, oder ob er vorher wieder fortgehen müßte. Ganz zuletzt taucht er einen Schaumbesen in einen Milchtopf und spritzt nach uns Kindern mit Milch. Wir sind nicht faul, ihm heimzuzahlen. Wir ergreifen die Rührlöffel, die wir zum Teig für die kleinen Kuchen benützen, und schleudern Mehl nach ihm. Ein wilder Krieg entsteht in der Küchenstube. Wir lachen und schreien, und die Kuchenbleche fallen auf den Boden, und das feine Weizenmehl vom Kaufmann wirbelt wie eine Wolke in der Luft herum. Tante Lovisa ruft uns zu, wir sollten wenigstens das daheim gemahlene Mehl nehmen; aber dann jagt Mutter Pastor Unger zur Küchenstube hinaus.

»Ich kann recht gut verstehen, daß Maria an einem solchen Tag Alfred notgedrungen fortschicken muß,« sagt Mutter. »Einen solchen Wildfang kann man bei den Weihnachtsvorbereitungen nicht gebrauchen.«

»Und so einer will Pfarrer sein!« murmelt die Haushälterin. Aber sie sagt es sehr leise, damit Pastor Unger es nicht hört.

Als wir zu Mittag essen, müssen wir uns ein wenig fein machen, was wir alle recht hinderlich finden; aber ich möchte doch wissen, ob nicht Mutter und Tante Lovisa so eine kleine Unterbrechung in der Arbeit ganz angenehm ist.

Ich kenne niemand, der so leicht über alles reden kann wie Pastor Unger, und das gefällt mir so besonders gut an ihm; aber Vater, der ihm nun seit zwei Stunden zugehört hat, ist jetzt gewiß müde, denn er ist ja um diese Winterzeit nie mehr ganz gesund. Vater schweigt auch während des ganzen Essens und überläßt die Unterhaltung mit Pastor Unger Mutter und Tante Lovisa.

Sobald wir uns zu Tisch gesetzt haben, sagt Pastor Unger, er sei leider gezwungen, von West-Ämtervik wegzuziehen. Er habe eine zu schlechte Besoldung und könne einfach nicht davon leben. Dasselbe hat er, soweit ich zurückdenken kann, an jedem Weihnachten gesagt, und so wird es uns Kindern schwer, nicht in helles Lachen auszubrechen, wenn er in der gewohnten Weise anfängt.

Aber Mutter erwidert ihm so ernst, wie sie kann, es tue ihr so leid, wenn wir eine so gute Nachbarschaft verlieren müßten, und dann fragt sie, um welches Pastorat er sich bewerben werde.

Dann zählt Pastor Unger alle die Pfarreien auf, die in diesem Jahr zur Besetzung in Frage kommen, sowie die, die im nächsten Jahr frei werden, und desgleichen die, um die er sich im letzten Jahre nicht beworben hat. Und ohne daß Mutter zu fragen braucht, berichtet er von allen Vorteilen und Nachteilen der verschiedenen Pastorate, und wie es mit dem Gehalt und allem andern dort bestellt ist. Er weiß, wo die Äcker schlecht sind und der Wald gelichtet ist, wo im Stall der Boden verfault ist, und wo es durch das Dach des Wohnhauses hereinregnet. Und das alles erzählt er äußerst komisch, es ist eine wahre Freude, ihm zuzuhören, er mag vorbringen, was er will. Aber es ist nicht allein unterhaltend, nein, ich freue mich auch, daß ich so vieles erfahre, während ich ihm zuhöre.

Nachdem er eine Weile von Pfarreien, Besoldungen und Pfarrhöfen geredet hat, geht er zu den Pastoren über, die sich möglicherweise um dieselben Stellen wie er bewerben wollen, und er berichtet, welche Nummern sie im ersten und zweiten Staatsexamen bekommen haben, und wie viele Dienstjahre sie anführen können, und wie sie predigen, und wie sie sich bei den Wahlen benehmen.

Und ich höre ebenso gern alles von den Pfarrern und den Pfarrhöfen. Was Pastor Unger sagt, wird mir nie langweilig.

Ich weiß nicht, was Mutter denkt, aber sie läßt ihn immer weiter reden, bis wir zum Nachtisch kommen. Und wenn dann das Mittagessen zu Ende geht, sagt sie:

»Weißt du, Alfred, es kommt mir doch nicht so vor, als würdest du von West-Ämtervik fortziehen.«

»Aber es bleibt mir eben nichts anderes übrig,« erwidert er mit einer entsprechenden Handbewegung. »Ich habe ja eigentlich gar kein Gehalt, und ich versichere dir, manchmal haben wir nichts zu essen im Hause.«

»Ja, Alfred, das ist schon möglich,« versetzt Mutter, »aber ich glaube, du hängst viel zu sehr an West-Ämtervik, um von da wegzuziehen. Und bedenke doch, wie beliebt ihr alle beide da seid! Das merkt man wahrlich an dem neuen Pfarrhaus, das eure Gemeinde für euch gebaut hat. Nicht viele Pröpste haben schönere Wohnhäuser.«

Wenn Mutter das so ernst und langsam ausspricht, wird es meist ganz still rings um den Tisch, denn es ist etwas sehr Ungewöhnliches, wenn Mutter lange Reden hält. Und auch Pastor Unger wird still, ja auch er.

»Du sagst, das Gehalt sei so sehr klein,« fährt Mutter fort, »aber denk doch an alle die Kalbsbraten und Hechte und Osterkuchen und Butterkübel, die euch in die Küche gebracht werden! Das ist auch etwas, was mitgerechnet werden muß.«

»Jaja, jaja,« sagt Pastor Unger, »du hast ganz recht, Luise.«

»Ihr beide, du und Maria, habt ja ein ganz besonderes Talent, mit den kleinen Einnahmen auszukommen,« spricht Mutter weiter. »Wir sagen oft, wir könnten nicht begreifen, wie ihr es macht. Pastor Lindegrens hier auf Halla haben wahrscheinlich das gleiche Einkommen wie ihr, aber sie haben nicht Wagen und Pferd und können nicht mit allen Herrschaften in Sunne und Ämtervik verkehren und große Gesellschaften geben, wie man das in West-Ämtervik gewohnt ist.«

Wenn Mutter eine Weile in dieser Weise gepredigt hat, schiebt Pastor Unger seinen Teller fort, lehnt sich in seinem Stuhle zurück und sieht mit etwas trüben Augen über den Tisch hin.

»Ja, gewiß hast du recht, Luise,« sagt er. »Ich ziehe auch sicherlich nicht weg, ehe Gunnarskog frei wird. Aber dahin muß ich mich melden, es geht nicht anders, denn dort sind die Unger von jeher Pfarrer gewesen, und dort kennt mich jedermann ohne Ausnahme.«

»Ach so,« sagt Mutter und steht vom Tisch auf. »Ja, dann wollen wir hoffen, daß der Propst in Gunnarskog noch recht viele Jahre lebt.«

An diesem letzten Weihnachten, als Aline von uns nach West-Ämtervik gezogen war, machte Pastor Unger nicht wie gewöhnlich einen Weihnachtsbesuch, und als wir dann beim Abendbrot sitzen, fragt Vater Aline, wie es denn ihrem Onkel gehe.

»Er ist doch wohl nicht krank?« fragt Vater. »In diesem Jahre ist er nicht mitten ins Großreinemachen hereingeplatzt.«

»Ach nein, krank ist er gewiß nicht,« antwortet Aline, »aber jetzt gerade vor Weihnachten hatte er eine recht schwere Zeit. Der alte Propst in Gunnarskog ist ja nun gestorben.«

»Wie, ist Gunnarskog jetzt frei? Dann wird dein Onkel nicht mehr lange in West-Ämtervik sein.«

»Doch,« antwortet Aline, »er bleibt, wo er ist.«

»Aber das war ja doch die einzige Stelle, um die er sich bewerben wollte,« versetzt Mutter, »und er war ja sicher, daß er alle Stimmen bekommen würde.«

Da sagt Aline, ja, ganz richtig, nach Gunnarskog zu kommen, sei ihres Onkels besonderer Wunsch gewesen. Da sei er aufgewachsen, da kenne er jeden Menschen, und er sage, es sei dort so schön wie im Paradies. Er habe ja immer so viel von Pfarrstellen und Besoldungen gesprochen, daß man hätte meinen können, er denke an nichts weiter als daran, ein gutes Pastorat zu bekommen, und Aline habe auch geglaubt, selbst wenn er auf einer der allerbesten Pfründen gesessen hätte, wie zum Beispiel Sunne oder Karlskoga, so würde er sich doch um Gunnarskog bewerben.

»Na ja,« sagt Vater, »aber warum bewirbt er sich denn jetzt nicht? Ist es vielleicht wegen der Leute von West-Ämtervik? Er denkt vielleicht, wenn sie ihm ein so großes Pfarrhaus gebaut haben ...«

Aber das glaubt Aline nicht. Ihr Onkel hatte schon vor längerer Zeit mit seinen Gemeindegliedern davon gesprochen, daß er sich um Gunnarskog bewerben wolle, sobald diese Stelle frei werde; die Gemeinde habe also genau gewußt, wonach sie sich zu richten hatte, als sie das Pfarrhaus baute. Trotzdem aber hätten die Leute das Pfarrhaus groß und prächtig gebaut zum Dank dafür, daß er ihnen in dem Hungerjahr durchgeholfen hatte.

»Ja, das ist wahr, daran erinnere ich mich,« sagt Vater. »Er nahm eine Anleihe auf, um ihnen Verdienst und Saatkorn zu verschaffen. Ja, er hat für die Leute dort sicherlich ebensoviel getan wie sie für ihn. Er ist ihnen nichts schuldig.«

»Aber,« fährt Aline fort, »nun ist eben der Propst in Gunnarskog mehrere Jahre krank gewesen, und so konnte er sein Amt nicht mehr versehen. Während der letzten vier Jahre hat er als Hilfsgeistlichen einen älteren verheirateten Pfarrer gehabt, der seit vielen Jahren vom Konsistorium von einem Ort zum andern geschickt wird, ohne je eine feste Stelle zu bekommen. Dieser Mann ist selbstverständlich arm, und er hat eine Frau und vier Kinder. Und jetzt meint Onkel Alfred, dieser Hilfsgeistliche habe sich auch Hoffnung auf Gunnarskog gemacht, nachdem er vier Jahre da Dienst getan habe. Und er hätte die Stelle auch so nötig. Er habe nicht einmal ein eigenes Haus, sondern hätte seine Frau und die Kinder in einem Bauernhof unterbringen müssen.«

»Ja, das ist eine kniffliche Sache,« sagt Vater.

»Onkel Alfred hat jeden Tag immer und immer über diese Sache gesprochen,« fährt Aline fort. »Er war in schweren Zweifeln. Weder er noch Tante Maria wußten, was er tun solle. Gunnarskog zog ihn wie ein Magnet an, aber er wollte doch auch nicht einem andern Pfarrer, der arm und alt ist, im Wege stehen. ›Es ist Senf in den Honig gekommen,‹ sagte er öfters. ›Er schmeckt nicht mehr süß.‹ Jedenfalls aber fuhr er doch nach Karlstadt, ehe der Meldungstermin abgelaufen war, und so glaubten wir, er würde sich doch melden.«

Ei, Aline, das ist ja furchtbar interessant,« sagt Elin. »Nun, und wie ging's dann?«

»Die Meldezeit lief um zwölf Uhr ab,« fuhr Aline fort, »und um elf Uhr traf Onkel Unger im Konsistorium ein. Die Herren schienen den ganzen Vormittag auf ihn gewartet zu haben, und sobald er sich zeigte, rief der Konsistorialsekretär ihm zu, er solle rasch seine Papiere abgeben, denn man habe ja nur noch eine Stunde Zeit vor sich. Aber Onkel Alfred zog eben keine Papiere heraus. Er setzte sich und redete von dem und jenem und ließ die Zeit vergehen. Als es halb zwölf war, mahnte ihn der Konsistorialsekretär aufs neue. ›Aber, Alfred, du wirst doch nicht daran denken, dir diesen fetten Bissen entgehen zu lassen? Du bist ja ein alter Mann und kannst doch nicht noch länger zweiter Pfarrer bleiben!‹ sagte er. – ›Ach, ich bin überaus zufrieden mit West-Ämtervik,‹ erwiderte Onkel Alfred. Und er rührte sich nicht von der Stelle, sondern ließ die Zeit vergehen.«

»So ein Teufelskerl!« ruft Vater. »Er saß mit den Papieren in der Tasche da und zog sie nicht heraus?«

»Nein, er zog sie nicht heraus,« erwidert Aline. »Als es drei Viertel zwölf schlug, wurde der Konsistorialsekretär wieder ungeduldig. Er streckte die Hand aus und befühlte Onkel Alfreds Brusttasche. ›Du hast die Dokumente bei dir,‹ sagte er. ›Heraus mit ihnen!‹«

Onkel erwiderte, er könne doch wohl nicht ohne seine Brieftasche nach Karlstadt fahren. Und dann redete er weiter, wie gerne Tante Maria in dem neuen Pfarrhaus in West-Ämtervik sei. ›Nun, es wird ihr auch in Gunnarskog gefallen,‹ sagte der Konsistorialsekretär. ›Das ganze Kirchspiel hat keinen andern Wunsch als den, euch als Pfarrleute da zu sehen.‹«

Und er versuchte, sich mit Onkel Alfred über Gunnarskog auszusprechen; aber es gelang ihm nicht. Auf diese Weise verging die Zeit, bis es zwölf Uhr schlug. Da stand Onkel Alfred auf, steckte die Hand in die Tasche, zog eine Handvoll Schriftstücke heraus und zeigte sie dem Konsistorialsekretär. Es war seine Bewerbung um Gunnarskog. Während die Uhr zwölf schlug, ließ er die Hand so weit sinken, daß die Papiere fast auf dem Tisch lagen, aber er ließ sie nicht los, und gerade als der letzte Schlag ertönte, hob er sie wieder auf und steckte sie in seine Brusttasche zurück. Dann setzte er ohne ein weiteres Wort seinen Hut auf, zog seinen Überzieher an und ging zur Tür hinaus.«

»So ein Teufelskerl!« sagt Vater noch einmal.

»Ja, aber da im Konsistorium fiel es Onkel Unger vielleicht gar nicht so schwer. Nachher wurde es viel schlimmer. Die Leute in Gunnarskog waren ja durchaus überzeugt gewesen, daß Onkel Alfred sich um die Stelle bewerben würde, und so hatten sie selbst nichts in der Sache getan. Als sie nun aber hörten, wie es stand, kamen sofort Briefe mit Fragen und Wehklagen. Und in der letzten Woche kam sogar eine ganze Deputation von Gunnarskog. Es waren die vornehmsten Bauern, stattliche, prächtige Männer, Onkel Alfred kannte sie alle und wußte, was sie wert waren. Und diese teilten ihm mit, daß die Gemeinde ihn als vierten Probekandidaten berufen wolle. Wenn er die Aufforderung annehme, werde er ohne Ausnahme jede Stimme bekommen, dafür bürgten sie ihm. Ich habe selbst gehört, wie sie ihn baten und zu überreden suchten. Es war geradezu herzbeweglich. Auf den Knien haben sie allerdings nicht vor ihm gelegen, aber sie flehten wie um ihr Leben. Sie sagten, sie brauchten so notwendig einen tüchtigen Pfarrer. Ihr letzter habe so lange krank gelegen, daß die Gemeinde gleichsam in der Irre gegangen sei. Und man kann ja verstehen, wie das Onkel Alfred ans Herz griff. Schon allein die bekannten Gesichter erinnerten ihn an all das Alte, das ihm so teuer ist, und nun zu hören, daß sie jemand brauchten, der ihnen helfen solle, auf rechten Wegen zu gehen ... Ach, ich verstehe nicht, wie er nein sagen konnte!«

»Und das hat er alles nur für diesen Hilfsgeistlichen getan?« warf Elin ein.

»Ja, der hatte sich ja gemeldet; er stand auf der Liste, und Onkel Alfred dachte sich, wenn nur er den Ruf nicht annehme, dann könnte der andere vielleicht gewählt werden. Die Gunnarskoger Bauern suchten zwar Onkel Alfred davon zu überzeugen, daß sie den Hilfsgeistlichen nicht wollten, aber Onkel sagte, er hoffe, sie würden ihre Ansicht darüber noch ändern. Nein, das käme gar nicht in Frage. Sie hätten jetzt lange genug einen kränklichen Propst gehabt. Der Hilfsgeistliche sei alt und ebenfalls kränklich. Wenn Onkel seinetwegen nein sage, so wäre das ganz und gar unnötig.«

»Aber blieb er dabei?« fragt Vater, und jetzt sehe ich, wie es in den kleinen Fältchen unter Vaters Augen zuckt und zittert, wie immer, wenn er kaum die Tränen zurückhalten kann.

»Ja, das tat er. Aber in der Nacht darauf, nachdem die Bauern von Gunnarskog bei ihm gewesen waren, schlief er nicht eine Minute. Ich hörte ihn in seinem Amtszimmer hin und her gehen, immerfort hin und her.«

»So ein Teufelskerl!« ruft Vater.

»Meiner Ansicht nach müßten sie ihn zum Bischof ernennen!« sagt Tante Lovisa. Darauf fangen wir alle an zu lachen und rufen, ja, ja, sie habe ganz recht.

Wir sind sehr glücklich, weil jemand, den wir kennen, etwas so Großartiges getan hat, und wir wollen gar nicht zu Bett gehen.

Und ich bin nicht ein bißchen betrübt über das, was Aline am Nachmittag, als wir miteinander spazierengingen, zu mir gesagt hat. Ich hatte es mir ja überhaupt nicht sehr zu Herzen genommen, und nun ist es vollständig vergessen. Wenn ich etwas Ähnliches wie Pastor Unger tun könnte, ja, das würde ich für viel mehr halten, als wenn ich das allerschönste Buch der Welt schriebe.

Aber siehe, als ich schließlich in meinem Bett liege, habe ich einen sonderbaren Traum: Ich versuche etwas Schönes über Pastor Unger zu schreiben. Und wie ich im besten Zuge damit bin, tritt Tante Maria zu mir und sagt, ich solle das lieber sein lassen, denn ich hätte ja gar kein Talent zum Schreiben. Das habe sie jedenfalls gehört.

Und als sie das sagt, werde ich tiefbetrübt. Mir ist, als müßte ich sterben, und ich erwache daran, daß mir die Tränen übers Gesicht strömen. Doch bald verstehe ich: Gottlob, es war nur ein Traum! Aber das Herz tut mir weh, es klopft und schmerzt mehrere Stunden lang, obgleich ich das ja nicht recht beurteilen kann, denn es ist ganz dunkel um mich her, und ich kann die Uhr nicht sehen.

Ich kann nicht begreifen, warum mir das Herz so weh tut, weil Tante Maria Unger das im Traum zu mir gesagt hat. Vorher, als Aline mitten am Tag dasselbe zu mir sagte, war ich ja gar nicht betrübt.

Ich drehe mich auf die rechte und auf die linke Seite, ich presse die Hände fest, fest aufs Herz, aber dieses klopft und schmerzt weiter. Schließlich sage ich zu meinem Herzen, es solle doch nicht so sehr betrübt sein, denn ich würde, wenn ich groß bin, sicherlich Bücher schreiben, ich würde mich nicht abschrecken lassen.

Und als ich dies ein paarmal zu meinem Herzen gesagt habe, beruhigt es sich allmählich. Es hört auf, weh zu tun, und ich schlafe wieder ein.

Am nächsten Morgen, während ich noch nicht so recht wach bin, sage ich zu mir selbst:

»Ich bin eben doch gezwungen, Romane zu schreiben, wenn ich groß bin; denn dazu bin ich auf die Welt gekommen.«

Und ich fühle mich glücklich und froh, weil das nun entschieden ist. Vorher, ehe Aline mir abzuraten versuchte, war es nur etwas Unbestimmtes und Schwebendes, aber jetzt ist es ganz sicher.


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