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Anna Lagerlöf

Ich begreife nicht, warum Anna immerfort sagt, sie wisse bestimmt, sie werde unglücklich.

Bedenkt doch, sie, die so schön und so verständig ist und die alle Menschen so sehr lieb haben!

Ja, wenn ich es wäre – ich, die hinkt und häßlich ist –, die so redete, dann wäre es mehr am Platz, aber das würde mir doch nie einfallen, denn so lange es schöne Bücher zum Lesen gibt, meine ich, es brauche niemand, weder ich noch irgendein anderer Mensch, unglücklich zu sein.

Jetzt im Frühjahr hat man uns die »Erzählungen des Feldschers« von Topelius geliehen, und am Abend wird daraus vorgelesen, während wir mit unseren Handarbeiten bei der Lampe sitzen. Und ich begreife nicht, wie Anna an Sorgen und Unglücksfälle denken kann, wenn wir ein so entzückendes Buch hören dürfen.

Manchmal stellt sich Anna vor das Bild in der Küchenstube, das eine Kirche und eine Kirchhofmauer vorstellt und von Anna Wachenfeldt ausgeschnitten ist. Und wenn Anna das Bild eine Weile betrachtet hat, sagt sie immer, sie wisse, daß sie ebenso unglücklich werde wie Tante Anna.

Mir gefällt es nicht, wenn sie so redet, und ich frage sie deshalb, woher sie denn das so sicher wissen könne.

»Jawohl,« erwidert Anna, »alle, die Anna Lagerlöf heißen, werden unglücklich.«

Aber das kommt mir höchst sonderbar vor, weil doch Anna sonst immer so verständig ist. Und wenn auch Tante Anna so unglücklich war, daß sie sich zu Tode grämte, deshalb braucht es nicht bei allen andern, die Anna Lagerlöf heißen, auch so zu gehen.

In diesem Jahr geht Anna bei Pastor Lindegren in den Konfirmationsunterricht, und seither ist sie nicht mehr ganz so wie sonst. Sie ist überaus freundlich und ruhig geworden, und es ist, als seien ihre Gedanken in weiter Ferne.

Und sie hat durchaus nicht mehr so viel an Gerda und mir auszusetzen wie vorher so oft. Sie hilft uns, wenn wir ausfahren dürfen, damit wir ordentlich gekämmt und pünktlich angezogen sind. Das hat sie zwar schon immer tun müssen; aber jetzt scheint es, als ob es ihr gar nicht mehr so unangenehm wäre, es ist im Gegenteil, wie wenn sie es nur aus Liebe zu uns täte.

Mir scheint im ganzen Hause ein besonderer Friede zu herrschen, seit Anna in den Konfirmationsunterricht geht. Wir beide, Gerda und ich, schreien und singen nicht mehr, wie wir es gewohnt waren. Zwar hat es uns niemand verboten, aber wir meinen, es passe sich während dieser Zeit nicht. Und dieses ganze Jahr her hatte es in der Küche immer viel Zank und Streit gegeben. Seht, die Haushälterin wird allmählich alt und gebrechlich, und so haben die Dienstmädchen keinen so großen Respekt mehr vor ihr wie früher, sondern sie widersprechen ihr, oder tun einfach nicht, was sie sagt. Und dann schilt die Haushälterin mit den Mägden, und diese geben unartige Antworten, und das ist alles sehr widerwärtig. Wenn dann aber Anna nur durch die Küche geht, wird es ringsum ganz still, denn wenn die Mägde Anna sehen, können sie nicht mit der Haushälterin weiterstreiten.

Sobald Anna in ein Zimmer hereinkommt, sieht jedes gleich, daß es eine kleine Konfirmandin ist, die über die Schwelle tritt. Ich kann nicht sagen, worauf das beruht, aber es ist so.

Und das Kindermädchen Maja hat mir erzählt, der alte Per in Berlin habe gesagt, wenn er ein Hund wäre, könnte er nicht bellen, so lange dieses Mädchen an ihm vorbeiginge.

Wir wissen ja, daß Mutter von allen ihren Kindern Anna immer am liebsten hatte, und das verwundert uns nicht, denn mit Anna hat sie niemals so viel Mühe gehabt, wie mit uns andern. Gerda will nur immer spielen, und ich will nur lesen, aber Anna näht, wie Mutter auch, gern Weißzeug und Kleider. Und jetzt, wo Anna in den Konfirmationsunterricht geht, ist es, als sollte Mutter auch konfirmiert werden. Gerade wie Anna liest auch Mutter in der Bibel oder im Katechismus, und zwar oft mitten an einem gewöhnlichen Werktag, unsere Mutter, die es sonst so eilig mit dem Nähen hat und außer an den Sonntagen nie ein Buch aufmacht!

Und vor ein paar Tagen fand ich Vater ganz von selbst in die »Abendmahlskinder« von Tegnér vertieft.

Und jetzt hat Mutter gesagt, sie halte es nicht für passend, daß wir die »Erzählungen des Feldschers« noch weiter lesen, denn das sei ein Buch, das Annas Gedanken von der Vorbereitung auf das Heilige Abendmahl abziehe. Mutter denkt zwar gewiß nicht, das Buch sei an sich schlecht, sondern sie meint, es erfülle die Phantasie eines jungen Mädchens mit zu viel weltlichen Dingen. Ich glaube zwar, daß es selbst dem flotten Grafen Bertelsköld nicht gelingen würde, Annas Gedanken von ihrem Konfirmationsunterricht abzulenken, aber natürlich tun wir, was Mutter will.

Hilda Wallroth und Emilie Nilsson gehen auch zu Pastor Lindegren in den Konfirmationsunterricht, und sie sind ebenso bezaubert, oder wie ich es nennen muß, wie Anna. Und wenn die drei beieinander sind, ist das so feierlich, daß man kaum weiß, was man zu ihnen zu sagen wagen darf.

Und die Konfirmanden in Ost-Ämtervik tragen immer schwarze Kleider; aber da nun drei herrschaftliche Mädchen miteinander eingesegnet werden, hat Frau Lindegren auf Halla vorgeschlagen, wenigstens diese drei weiß zu kleiden. Sie meint, die lieben Kinder täten ihr leid, wenn sie in schweren, schwarzen, unkleidsamen, wollenen Kleidern vor den Altar treten müßten. Und siehe, Frau Lindegren ist es gelungen, Vater und Mutter und Onkel Kalle und Tante Augusta und Herrn und Frau Nilsson zu überreden, von der alten Sitte abzuweichen und Anna und Hilda und Emilie in weißen Kleidern konfirmieren zu lassen.

Als wir in die Kirche fahren, sitzt Mutter im Vordersitz der Kutsche und Anna neben ihr, weil sie Konfirmandin ist. Gerda und ich sitzen wie gewöhnlich auf dem Rücksitz. An diesem Tag aber bin ich gar nicht mißvergnügt, weil ich rückwärts fahre, denn auf diese Weise kann ich Anna die ganze Zeit ansehen.

Aber es ist nicht allein das weiße Gewand, das ich betrachte, und auch nicht die kleine Filigranbrosche, die sie von Mutter als Konfirmationsgeschenk erhalten hat, sondern ich betrachte immerfort ihre Augen.

Diese sind groß und tief und von graubrauner und vielleicht auch ein wenig grüner Farbe, es ist fast unmöglich, festzustellen, welche Farbe sie eigentlich haben. Aber ich sehe auch nicht so sehr auf die Farbe, sondern wie ruhig und groß und erwartungsvoll der Blick ist. Ich möchte so sehr gerne wissen, worauf Anna wartet. Mir kommt es fast so vor, als stehe sie vor dem Gittertor eines großen, herrlichen Schlosses und sehne sich, hineinzukommen, um alle die großartigen Zimmer und die breiten Treppenaufgänge und die gewölbten Decken zu sehen.

Und ich bin überzeugt, daß ihr der Wunsch erfüllt wird. Nein, es dauert gewiß nicht lange, dann öffnet sich das Tor, und ein schöner, in Seide und Samt gekleideter junger Kavalier tritt heraus. Er verbeugt sich vor Anna und sagt, er sei Graf Bernhard Bertelsköld und heiße sie auf dem Schlosse Magniesi willkommen.

Aber seht, Anna würde ihn gar nicht ansehen und seine ausgestreckte Hand nicht ergreifen. Sie würde nicht durch das Tor hineingehen. Denn Anna steht nicht vor dem Schlosse Magniesi. Sie steht vor der Pforte des Himmelreichs und wartet auf den Anblick Gottes und seiner Engel.

Als wir die Kirche erreichen, steht Adolf Noreen auf dem Kirchplatz; er eilt herbei und öffnet den Wagenschlag, um uns beim Aussteigen behilflich zu sein. Und man kann ihm wohl anmerken, wie hübsch er Anna in dem weißen Kleide findet. Aber sie schenkt ihm kaum einen Blick. Sie sieht nur etwas weit, weit in der Ferne.

Als Anna und Hilda und Emilie in ihren weißen Kleidern in den Chor treten, geht es wie ein leises Rauschen durch die Kirche. Die Leute strecken und recken sich vor, um sie sehen zu können, und ein junger Mensch steht sogar auf, um sie noch besser zu sehen; aber er wird natürlich von seinen Nachbarn sofort zum Niedersitzen ermahnt.

An diesem Tag höre ich nun auch Pastor Lindegrens Predigt, denn Mutter und Tante Lovisa und Gerda und ich sitzen unten in der Kirche dicht hinter den Konfirmanden, und so können wir jedes Wort verstehen. Und wie er predigt, ist es wohl verständlich, daß alle Konfirmanden sich danach sehnen, sehen zu dürfen, wie sich die Pforten des Himmelreichs vor ihnen öffnen.

Und jetzt, ein paar Tage später, hat mir das Kindermädchen Maja – obgleich ich eigentlich nicht mehr Kindermädchen sagen sollte, denn sie ist zum Zimmermädchen aufgestiegen –, ja, da hat mir Maja noch etwas Besonderes erzählt. Als Anna in dem weißen Kleid und mit der Konfirmationsbrosche in die Kirche hereintrat, war sie so schön, daß einer von den Konfirmanden, der auf der andern Seite des Ganges saß, sich sofort in sie verliebte. »Aber er kann sie ja nicht bekommen, daß weiß er wohl,« sagt Maja, »und deshalb will er nun nicht länger in Ost-Ämtervik bleiben, sondern im Herbst nach Amerika auswandern.«

Und Maja erzählt weiter, er habe ein Gedicht gemacht, worin er sagt, er müsse Annas wegen fort von hier. »Dieses Gedicht ist wunderschön,« sagt Maja, »alle Konfirmanden haben es abgeschrieben, um es als Andenken aufzubewahren.« Maja hat es auch, und sie sagt, ich dürfe es schon sehen, wenn ich nur verspreche, es Vater und Mutter und auch Anna nicht zu zeigen, denn sonst würde der junge Bursche so bitterböse auf Maja, daß er sie totschlagen könnte.

Und all das, was Maja mir berichtet, kommt mir ganz großartig vor, und ich flehe sie an, mir doch das Liebesgedicht zu zeigen, das der arme Mitkonfirmand über Anna verfaßt hat. Aber als ich es gelesen habe, fühle ich mich etwas enttäuscht, denn es hat nur fünf Zeilen, und es steht nichts weiter darin als:

»Ich heiße Erik Persson und wohn in Karlstadts Kreis,
Doch wenn die Blume welket, muß fort ich auf die Reis',
Du, Vater, und du, Mutter, lebt wohl!
Du, Schwester, und du, Bruder, lebt wohl!
Du, weiße Maid, leb wohl!«

»Aber, Maja,« sage ich, »hier steht ja gar nichts davon, daß er Anna lieb hat!«

»Doch, er sagt ja, leb wohl, du weiße Maid! Mehr braucht es doch wohl nicht.«

Und es ist ja möglich, daß das genügt. Jedenfalls kann Maja beruhigt sein. Diese Verse zeige ich Anna sicher nicht, denn der Tag, wo sie zum Heiligen Abendmahl ging, steht hoch und heilig vor ihr; es ginge gar nicht an, in diesem Zusammenhang mit ihr von irdischer Liebe zu sprechen.


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