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Das Kartenspiel

An Weihnachten, wenn Daniel und Johan und Onkel Wachenfeldt auf Mårbacka sind, spielen sie abends mit Tante Lovisa Karten. Sie spielen ein Spiel, das Préférence heißt, obgleich sie es »Priffe« nennen, und das ihnen sehr viel Spaß macht. Ich habe es nur vom Zusehen gelernt, wenn die andern spielen. Sonst sind es eigentlich nur ganz erwachsene Leute, die »Priffe« spielen können. Weder Anna noch Emma Laurell können es. Sie können nur »Narr« und »Komet« und »Kille« und »Schwarzer Peter« und dergleichen mehr, aber nicht »Priffe«.

An diesem Abend ist Vater auswärts, und er hat Johan mitgenommen. Und Daniel und Onkel Wachenfeldt reden eben davon, daß sie nicht wissen, wie sie eine Partie zusammenbringen können, weil ihnen der vierte Mann fehlt. Sie fragen Mutter, ob sie nicht mitspielen will, denn Mutter kann alles; aber sie spielt nicht gern Karten und schlägt es ihnen ab. Da sagt Tante Lovisa: »Wir könnten vielleicht Selma als vierten Mann nehmen.«

»Aber es ist doch unmöglich, daß die Kleine ›Priffe‹ spielen kann,« versetzt Onkel Wachenfeldt. »Sie ist ja erst zwölf Jahr alt.«

»Du kannst es ja mit ihr probieren, Wachenfeldt,« entgegnet Tante Lovisa; »sie ist gar nicht so dumm. Sie hat schon öfters mitspielen dürfen, wenn Aline und Frau Lindegren von Halla und ich eine Partie spielen wollten.«

Ich darf also der vierte Mann sein, und nun sitze ich am Tisch und spiele, und ich bin furchtbar vergnügt, besonders wenn ich Daniel als Partner habe. Denn Daniel spielt sehr gut und ist immer zufrieden, einerlei ob er gewinnt oder verliert. Er ist auch so lustig. Meist sagt er irgend etwas, worüber man lachen muß; zum Beispiel: »Eckstein heraus! sagte der Maurer«, oder »Schippen! Oh, niemand schippt!« oder dergleichen mehr. Tante Lovisa fingert erst eine gute Weile an ihren Karten herum, und sobald sie eine Karte ausgespielt hat, tut es ihr wieder leid, und sie will sie zurücknehmen. Onkel Wachenfeldt weiß sehr wohl, wie er spielen muß, denn er ist ja früher ein richtiger Meisterspieler gewesen, aber er hat den Star auf dem einen Auge und sieht mit dem andern auch nicht sehr gut, und so wirft er ab und zu eine verkehrte Karte auf den Tisch. Aber wenn die andern schlecht spielen, so ficht das Daniel nicht im geringsten an; er wird niemals ungeduldig darüber. Im Anfang geht es mir ziemlich gut, aber später bekomme ich furchtbar schlechte Karten und verliere fort und fort. Wir spielen ja natürlich um gar nichts, aber es ist doch recht ärgerlich für mich, denn Daniel und Onkel Wachenfeldt könnten ja denken, ich hätte nur darum so großes Pech, weil ich erst zwölf Jahr alt bin und mich nicht auf das Spiel verstehe.

Aber siehe, ganz zuletzt, gerade ehe wir zu Mittag essen sollen und mit spielen aufhören müssen, bekomme ich gute Karten. Ich habe As, König, Dame, Bube, Zehn in Schippen und dazu fünf kleine Karten, und das sind ja zehn sichere Stiche, wenn ich nur zum Ausspielen komme. Außerdem habe ich ein Ecksteinas und eine Dame und eine kleine Karte in Herz, aber nicht eine einzige in Kreuz.

Nachdem ich den ganzen Abend habe passen müssen, will ich jetzt einen ordentlichen Schlag führen und zeigen, was ich leisten kann. Ich sage also »Priffe« auf eigene Faust, denn mit solchen Karten werde ich doch wohl sieben Stiche erlangen können.

Mir gegenüber sitzt Daniel als mein Partner. Zu meiner Rechten habe ich Tante Lovisa und zu meiner Linken Onkel Wachenfeldt. Diese beiden spielen gegen Daniel und mich.

Und da ich jetzt »Priffe« gesagt habe, muß Tante Lovisa ausspielen, und sie fingert und fingert an ihren Karten herum. Aber schließlich spielt sie natürlich Kreuz aus, und in dieser Farbe bin ich renonce. Dann zeigt sich's, daß auch Onkel Wachenfeldt in Kreuz gut versehen ist, und so heimsen Tante Lovisa und er fünf Stiche in Kreuz ein, während ich mit meinen prächtigen Schippen herausrücken muß. Ich werde ganz ungeduldig und ängstlich, ja, ich muß die Hand, in der ich die Karten halte, unter dem Tischrand verstecken, damit niemand sieht, wie sie zittert.

Als sie endlich mit ihren Treffkarten fertig sind, spielt Onkel Wachenfeldt Herz aus, und Tante Lovisa sticht mit dem As, und ich werfe meine kleine Herzkarte hin. Während Tante Lovisa die Karten zusammenlegt, lacht sie und sagt:

»Das geht gut für uns, Wachenfeldt!«

Aber Daniel, der sonst so geduldig ist, kann es nun nicht lassen, mich zu fragen, warum ich denn »Priffe« gesagt hätte.

Dann spielt Tante Lovisa Herzbube aus, und ich lege meine Dame darauf, und Onkel Wachenfeldt legt nicht höher als die Dame, sondern wirft eine Fehlkarte hin. Jetzt sieht es doch aus, als wende sich das Spiel zu meinen Gunsten.

Im letzten Augenblick sehe ich nun vor mir, daß ich gerettet bin. Jetzt kann ich meine Schippen ausspielen und auch mein Ecksteinas und kann meine sieben Stiche einheimsen.

Aber ehe Daniel seine Karte auflegt, wendet er sich an Onkel Wachenfeldt.

»Warum hast du denn Selmas Dame nicht gestochen?« fragt er. »Du hast ja den König in der Hand.«

»Ja, das hätte ich allerdings können, obgleich ich es nicht recht sehe,« sagt er. »Aber die aufgelegte Karte muß nun liegenbleiben.«

»Gewiß nicht,« erwidert Daniel. »Wenn du den König nicht gesehen hast, darfst du natürlich die Karte zurücknehmen.«

Ich begreife sehr gut, daß Daniel im Recht ist, wenn er Onkel Wachenfeldt auffordert, die Karte zurückzunehmen. Aber ach, ich möchte eben so schrecklich gerne gewinnen, und so kann ich es nicht mit Daniel halten.

»Hast du nicht gehört, was der Onkel sagte, Daniel? Eine ausgespielte Karte muß liegenbleiben,« wende ich ein.

Aber darum kümmert sich Daniel nicht. »Heraus mit dem König, Onkel!« ruft er und reicht ihm zugleich die Karte, die er zuerst ausgespielt hat.

Darauf wirft Onkel Wachenfeldt seinen König heraus, Daniel legt eine kleine Herzkarte darauf, und auf diese Weise geht das Spiel auf die Gegenpartei über. Jetzt haben sie sieben Stiche, und für mich ist jede Möglichkeit, meine Stiche einzuheimsen, aus.

Tante Lovisa streckt schon die Hand aus, um die vier Herzkarten, die auf dem Tisch liegen, wegzunehmen, aber da ist es aus mit meiner Langmut. Ich werfe alle die Karten, die ich noch in der Hand habe, miteinander auf den Tisch.

»So will ich nicht mehr mitspielen,« rufe ich und stehe auf; »denn hier geht es nicht richtig zu!«

Ach, ich bin sehr aufgebracht, ich bin so zornig, daß mir das Blut in den Adern kocht, und ich halte Onkel Wachenfeldt für einen ganz gemeinen Kerl und Falschspieler, ja, es tut mir geradezu wohl, die Karten auf den Tisch zu werfen und ihm das zu sagen. Und Daniel ist nicht ein bißchen besser. Nein, ein anständiger Mensch kann nicht Karten mit ihnen spielen!

Aber daß jemand die Karten auf den Tisch wirft und schreit und die andern des Falschspielens bezichtigt, das ist man auf Mårbacka nicht gewohnt, und es entsteht ein furchtbarer Aufstand. Mutter, die mit Anna und Gerda an einem andern Tisch sitzt und ein Buchstabenrätsel vor sich hat, steht auch gleich auf und kommt zu mir her. Ich aber laufe auf sie zu, schlinge meine Arme um sie, weine zum Herzbrechen und schluchze: »Mutter, sie spielen falsch!«

Mutter sagt nichts, sie verteidigt mich weder, noch schilt sie mich. Sie faßt nur hart nach meinem Handgelenk und führt mich zum Wohnzimmer hinaus. Wir gehen durch den Flur, die Bodentreppe hinauf und in die Kinderstube hinein. Ich weine in einem fort und schreie wie vorher: »Sie haben falsch gespielt! Mutter, sie haben falsch gespielt!« Aber Mutter schweigt nur.

Als wir in der Kinderstube sind, zündet sie Licht an, und dann macht sie mein Bett zurecht.

»Zieh dich nun aus, damit du zu Bett gehen kannst,« sagt sie.

Aber das tu' ich nicht gleich, sondern ich setze mich auf einen Stuhl und schluchze und schreie wie vorher: »Onkel Wachenfeldt hat falsch gespielt!«

Als ich das dann noch einmal sage, geschieht etwas Merkwürdiges. Mein Blick wendet sich. Anstatt nun in die Kinderstube hinauszusehen, wie er es vorhin getan hatte, sieht er jetzt in mich hinein. Er sieht in mich selbst hinein.

Und was er da sieht, ist eine große, leere, halbdunkle Felsenhöhle mit triefendnassen Wänden und einem Boden, der einem Sumpf gleicht. Nichts als Schlamm und Schmutz. Und diese Felsenhöhle, sie ist in mir selbst.

Aber während ich nun in sie hinein starre, sehe ich, wie sich ganz drunten in dem schmutzigen Schlamm etwas bewegt. Es ist etwas, das sich herauf arbeiten will. Ich sehe, wie ein großer fürchterlicher Kopf mit offenem Rachen und Hörnern auf der Stirne aus der Tiefe auftaucht, und dahinter erkenne ich einen haarigen Körper mit einem hohen Rücken und kurzen groben Vorderfüßen. Er sieht wie der Drache aus, mit dem der Heilige Georg in der Hauptkirche kämpft, nur ist dieser hier noch viel größer und furchtbarer.

Noch niemals habe ich etwas so Schreckliches wie dieses Scheusal gesehen, und Todesangst erfaßt mich, weil es seine Wohnstatt in mir selbst hat. Bis jetzt, das verstehe ich nun, ist es in dem Schlamm verdeckt gewesen, aber jetzt, da ich den Zorn habe überhandnehmen lassen, wagt es sich hervor.

Ich sehe, wie sich das Untier heraufarbeitet. Es kommt höher und höher, und immer mehr von dem langen haarigen Körper wird sichtbar. Es ist wohl auch äußerst befriedigt, daß es losgekommen ist und nicht mehr da drunten in dem Schlamm gefangen zu liegen braucht.

Oh, ich muß mich beeilen, damit das Ungeheuer nicht seinen ganzen langen Körper herausbringt! Sonst kann ich es vielleicht nie wieder in sein Gefängnis hinunter zwingen.

Rasch springe ich von dem Stuhl auf und beginne mich auszukleiden. Ich weine nicht mehr, sondern bin ganz still und habe nur so schrecklich Angst vor dem, was ich gesehen habe.

Ich krieche in mein Bett hinein, sobald Mutter es zurecht gemacht hat, und als sie mich in die Decke hüllt, ergreife ich ihre Hand und küsse sie.

Dann setzt sich Mutter zu mir aufs Bett. Sie sieht, daß mein Zorn verraucht ist; vielleicht weiß sie auch, daß ich jetzt Angst vor mir selbst habe. Mutter weiß alles.

»Morgen wirst du Onkel Wachenfeldt um Verzeihung bitten,« sagt sie.

»Ja,« antworte ich sofort.

Mutter bleibt noch ein Weilchen schweigend bei mir sitzen. Ich denke an das große Ungeheuer, das in mir wohnt, und ich sage zu mir selbst: »Ich will nie wieder zornig werden. Solange ich lebe, soll es da drunten in dem Schlamm liegenbleiben. Nie wieder soll es losgelassen werden.«

Ich weiß nicht, was Mutter denkt. Sie müßte mich eigentlich ermahnen, aber sie tut es nicht. Sie weiß alles, und deshalb weiß sie vielleicht auch, daß es nicht mehr nötig ist.

Nach einer Weile fragt sie, ob ich etwas zu essen haben möchte, aber ich antworte: »Nein, ich kann nichts essen.«

»Sprich nun deine Abendgebete, dann bleibe ich hier sitzen, bis du einschläfst,« sagt Mutter.


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