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Vierzig Grad Kälte

Es ist Samstag, und gleich nach dem Mittagessen sagte Mutter, da nun der Unterricht zu Ende sei – denn wir haben am Samstagnachmittag immer frei – und das Wetter so schön und die Schlittenbahn so gut, meine sie, Tante Lovisa und Aline Laurell würde ein Ausflug recht gut tun. Tante Augusta auf Gårdsjö habe ihr nämlich ein paar Muster für Baumwollstoff versprochen, und es wäre gut, wenn Tante Lovisa und Aline hinführen und diese Muster für sie holten. Sie sollten aber nicht so lange auf Gårdsjö bleiben, sagte Mutter, daß Tante Augusta sie zum Abendessen einladen müßte, sondern sie sollten gleich nach dem Kaffee den Heimweg antreten.

Tante Lovisa und Aline machten sich fertig, und um halb vier Uhr fuhren sie ab. Dann ließ Vater mir und Anna sagen, wir sollten in die Amtsstube kommen und Feuerversicherungspolicen kollationieren. Unser Vater hat ja alle Brandversicherungen in Ost-Ämtervik unter sich, und für jeden Hof müssen drei Brandversicherungspolicen angefertigt werden, und natürlich müssen alle drei ganz genau gleich sein, es darf sich nicht ein einziger Fehler darin finden.

Wir sitzen an dem großen Schreibtisch im Amtszimmer, und jedes hat seinen Teil von den großen Brandversicherungspolicen vor sich ausgebreitet. Und wir sind ganz feierlich gestimmt, weil wir Vater beim Kollationieren helfen dürfen.

Und Vater liest: »Neu 1. Zustand 1. Alt 1/2. Dach: Birkenrinde und Rasen.« Dasselbe kommt in einer Police nach der andern; es ist gerade nicht abwechslungsreich, aber wir sind jedenfalls sehr vergnügt. Vater sagt, Anna sei Inspektor Nymann, und ich sei Erik von Korterud, denn das sind die beiden, die sonst mit ihm kollationieren. Wenn ich einen Fehler finde, sagt er: »Es ist recht, Erik von Korterud, daß Er aufpaßt,« und das klingt unwiderstehlich komisch, wir müssen uns auf unseren Stühlen zurücklehnen und hell hinaus lachen.

Aber während wir noch mittendrin sind, geht die Amtszimmertür auf, und herein tritt ein Herr in einem langen, schwarzen Pelzmantel, einem gehäkelten Reiseschal und einer Mütze aus Seehundfell. Sein Bart und seine Augenbrauen sind dick bereift, und wir können deshalb zuerst gar nicht erkennen, wer es ist; aber dann kommen wir doch rasch dahinter. Es ist der Ingenieur Frykberg von Gräsmark, der an jedem siebzehnten August zu uns kommt, um mit zu tanzen und sich das Liebhabertheater bei uns anzusehen.

Sobald Ingenieur Frykberg Vater und Anna und mich begrüßt hat, sagt er, er habe gehört, daß Vater in diesem Jahr ungewöhnlich schönen Hafer geerntet habe. Und er fragt, ob er vielleicht etwas davon als Saatkorn kaufen könnte, denn auf Gräsmark sei im letzten Herbst aller Hafer erfroren.

Vater legt sogleich die Brandversicherungspolicen weg und schickt uns Kinder zu Mutter hinauf mit dem Bescheid, daß Ingenieur Frykberg zum Kaffee kommen werde. Wir laufen natürlich mit der Nachricht gleich hinüber in das große Wohngebäude, und da Tante Lovisa nicht daheim ist, helfen wir der Haushälterin beim Zuckerhacken und Kaffeegebäck auflegen.

Der Kaffeetisch sieht unserer Ansicht nach höchst einladend aus; aber als Ingenieur Frykberg ins Eßzimmer tritt und einen Blick darauf wirft, macht er ein etwas enttäuschtes Gesicht.

»Trinken nicht alle deine Damen Kaffee?« fragt er Vater. »Hier sind ja nur drei Tassen bereitgestellt.«

»O doch,« antwortet Vater, »diese Kunst können sie alle miteinander. Aber meine Schwester und die Erzieherin sind nach Gårdsjö gefahren. Du mußt heute mit uns vorliebnehmen.«

Aber ist es nicht recht seltsam! Ingenieur Frykberg, ein so großer, kräftiger Mann mit einem langen, schwarzen, überdies schon etwas graugesprenkeltem Vollbart sieht überaus niedergeschlagen aus, weil Tante Lovisa und Aline Laurell nach Gårdsjö gefahren sind.

Zuerst blinzelt er mehrere Male ganz rasch hintereinander, und dann fährt er sich mit einem großen rotseidenen Taschentuch wiederholt über die Stirn und das Gesicht. Und als er Mutter seine Tasse reicht, damit sie ihm Kaffee einschenke, hören wir den Löffel auf der Untertasse klirren.

»Sie werden nicht den ganzen Abend auf Gårdsjö bleiben,« sagt sie. »Ich denke, um sechs Uhr werden wir sie wohl wieder hier haben.«

Als Mutter das sagt, sieht es aus, als ob Ingenieur Frykberg neues Leben erhielte. Er steckt sein Taschentuch wieder ein, und der Löffel klirrt nicht mehr auf der Untertasse.

Während sie Kaffee trinken, spricht Mutter mit Ingenieur Frykberg über Aline Laurell. Sie sagt, sie preise sich glücklich, solange sie eine so ausgezeichnete Lehrerin für ihre Kinder habe, eine Lehrerin, die so zuverlässig, so anspruchslos und angenehm im Hause zu haben sei. Und überdies so sehr geschickt mit den Händen! Es sei wunderbar, welche schöne Sachen sie rein aus nichts herstellen könne.

Mutter zeigt Ingenieur Frykberg zwei Eckbretter mit Behang aus Kaliko, die im Eßzimmer angebracht sind, und die Aline letztes Jahr zu Weihnachten verfertigt hat.

»Sehen Sie, Herr Ingenieur, wie schön sie gestickt sind?« sagt Mutter. »Können Sie begreifen, daß diese Rosen und Fuchsien und Maiblumen nur aus aufgenähten Fischschuppen bestehen, und daß diese schöne Borte aus den Schuppen von Fichtenzapfen verfertigt und nachher mit Opallack überzogen ist? Ja, ich muß sagen, dieses Mädchen besitzt ein Vermögen in ihren Händen.«

Nachher sagt Mutter zu mir, ich solle Vaters Ständer für Federhalter holen und Ingenieur Frykberg zeigen. Aline hat diesen Ständer aus einigen dünnen Holzbrettchen gesägt und mit Tischlerleim zusammengeleimt, und Vater gefällt er so gut, daß er keinen andern Federständer auf seinem Schreibtisch haben will.

»Sehen Sie, Herr Ingenieur, auch das kostet nicht viel,« sagt Mutter.

Danach darf er das schöne Bücherbord in der guten Stube sehen, das aus drei gefirnißten Holzbrettchen besteht, die an braunen, wollenen Schnüren hängen. An den Brettern sind Kanten von schwarzem Samt, und auf diese Streifen hat Aline Blumen und Blätter aus Fischschuppen und weißer Seide und Strohperlen gestickt.

»Dies hab' ich im vorigen Jahr zu Weihnachten von ihr bekommen,« sagt Mutter; »finden Sie es nicht sehr schön, Herr Ingenieur?«

O ja, Ingenieur Frykberg lobt alles, was Mutter ihm zeigt. Aber er ist nicht so erfreut darüber, wie Mutter erwartet hatte; er sagt, es sei recht traurig, daß so ein Mädchen wie Aline Arbeiten aus Fischschuppen und Tannenzapfen herstellen müsse.

Sobald er mit dem Kaffeetrinken fertig ist, ergreift ihn die Unruhe aufs neue. Nun zieht er ein Mal ums andere aus seiner Westentasche eine große silberne Zwiebel, schaut darauf, steckt sie ein und zieht sie aufs neue heraus, wie wenn er sofort wieder vergessen hätte, was die Uhr zeigte.

Nachdem Mutter sich über Aline Laurell ausgesprochen hat, ergreift Vater das Wort, und er fragt Ingenieur Frykberg nach dem schönen Berg, der droben in Gräsmark liegt und Gettjärnkletten heißt. Er fragt, ob es wahr sei, daß ein finnischer Junge, der dort im Sommer Hirte war, einen großen Goldklumpen gefunden und ihn dann beim Goldschmied Brockman in Karlstadt gegen drei große silberne Becher eingetauscht habe. Ingenieur Frykberg hat indes nicht ein Wort von dem Goldklumpen gehört, und ich glaube Vater auch nicht. Er will Ingenieur Frykberg nur ein wenig necken, weil er weiß, wie stolz alle Gräsmarker auf ihren Berg sind.

Aber wenn Vater meint, er könne Ingenieur Frykberg munter und froh machen, dann täuscht er sich. Ingenieur Frykberg sieht die ganze Zeit auf seine silberne Zwiebel – er sieht ganz und gar nicht, daß wir im Eßzimmer eine große Uhr an der Wand hängen haben –, und setzt wendet er sich an Mutter und fragt sie, ob sie Mamsell Laurell ganz bestimmt bis sechs Uhr zurückerwarte.

»Nein, so ganz sicher ist es nicht,« antwortet Mutter, »sie könnten ja möglicherweise auf Gårdsjö zum Abendessen eingeladen worden sein.«

Da steht Ingenieur Frykberg auf und wandert einmal um den Eßtisch herum.

»Ja, dann darf ich mich wohl jetzt verabschieden,« sagt er, »denn, wie Sie wissen, hab' ich drei volle Meilen bis nach Hause, und es fängt schon an zu dämmern.«

Er hat wieder sein Taschentuch herausgezogen und spricht in einem ganz kläglichen Ton. Ich glaube, er tut Mutter leid, denn sie sagt:

»Könnten Sie nicht über Nacht hierbleiben, Herr Ingenieur? Im Amtszimmer ist immer geheizt, und es stehen dort Bettstellen mit warmen Bettstücken; es würde uns also gar keine Mühe machen.«

Als Mutter das vorschlägt, lebt Ingenieur Frykberg abermals auf. Er steckt sein Taschentuch wieder ein und sieht erfreut aus.

Dann erkundigt sich Mutter nach seiner Mutter. Sie fragt, ob diese noch bei ihm wohne und ihm den Haushalt führe.

»Ja, das tut sie,« antwortet Ingenieur Frykberg, »aber es ist allmählich kein Verlaß mehr auf sie.«

»Dann wäre es wohl an der Zeit, daß Sie sich eine Frau anschafften, Herr Ingenieur,« sagt Mutter, »damit die alte Dame nicht mehr so viel zu tun hätte.«

Darauf gibt Ingenieur Frykberg keine Antwort; aber er errötet und zieht sein Taschentuch abermals heraus. Vater und Mutter sehen einander an und schütteln den Kopf ein wenig. Sie sind gewiß ganz ratlos, was sie mit ihm anstellen sollen.

»Weißt du was, Frykberg!« sagt Vater plötzlich. »In der Dämmerung fahren die Kinder meist mit ihren Rodelschlitten. Geh du mit ihnen und hilf ihnen steuern! Möglicherweise kommen Lovisa und Aline im Schlitten angefahren, während ihr beim Rodeln draußen seid.«

Und siehe, über diesen Vorschlag wird Ingenieur Frykberg ganz vergnügt. Anna und Emma Laurell und ich nehmen ihn in die Mitte, und wir gehen hinaus. Wir fragen ihn, ob er nicht seinen Pelzmantel anziehen wolle; aber er meint, das sei nicht nötig, sein Anzug sei aus eigengewobenem Tuch angefertigt, und so brauche er keinen Überzieher.

Als er aber unsern Schlitten sieht, meint er, der sei doch viel zu klein.

»Mit dem kann man nicht rodeln,« sagt er, und er wählt dafür eine Rutsche, so eine, wie sie die Stallknechte gebrauchen, wenn sie Holz aus dem Walde heimfahren. Diesen Schlitten schiebt Ingenieur Frykberg zuerst durch die Allee und dann sogar den Ruhsteinhügel hinan. Und heisa! es geht in vollem Galopp, wenn wir uns dann auf den Schlitten setzen und den Hügel hinabfahren! Ingenieur Frykberg steuert, und der Schlitten fliegt nur so. Keine Rede davon, daß er gegen einen Schneewall fährt und umstürzt, was wohl vorkommen kann, wenn wir selbst steuern. Eine so prachtvolle Rodelfahrt haben wir noch nie mitgemacht.

Wir fahren viele Male den Hügel hinunter, und immer wieder schiebt Ingenieur Frykberg die schwere Rutsche zum Ruhstein hinauf, damit wir noch länger so lustig heruntersausen können; das ist doch furchtbar nett von ihm, darüber sind wir uns alle einig. Wir erzählen ihm alles mögliche, und er gibt uns Antwort darauf, und wir werden recht gut Freund mit ihm. Schon nach kurzem ist uns, als seien wir mit Ingenieur Frykberg ebenso gut bekannt wie mit Daniel und Johan.

An diesem Abend sieht es hier im Freien ganz merkwürdig aus, denn alles ringsum ist mit Rauhreif bedeckt. Auf den Fichten und Birken liegt er so hoch und dicht, daß sie sich auf den Weg herunterneigen. Es ist, als hätten wir ein weißes Dach über uns, und Emma Laurell sagt: »Es ist gerade wie in der Domkirche in Karlstadt.«

Als Ingenieur Frykberg das hört, fragt er, ob sie in Karlstadt gewesen sei. Emma antwortet, ja, dort sei sie geboren, und auf diese Weise kommt es heraus, daß Emma nicht unsere Schwester, sondern die von Aline ist. Das hatte Ingenieur Frykberg vorher nicht gewußt. Und Emma fragt Ingenieur Frykberg, ob er nicht Landesvermesser sei, denn sie meine, sie habe ihn einmal auf einer Gesellschaft bei ihren Eltern gesehen, zu der Zeit, wo ihr Vater noch lebte und der oberste Landesvermesser war. Ingenieur Frykberg ist sehr erfreut darüber, daß Emma Alines Schwester ist und sie sich noch an ihn erinnern kann.

Aber mitten im schönsten Vergnügen sagt Anna plötzlich, nun sei es ganz dunkel, und wir müßten heimgehen. Und darin müssen wir ihr recht geben, obgleich wir gerne die ganze Nacht den Ruhsteinhügel hinuntergerodelt wären. Und auf dem Heimweg zieht Ingenieur Frykberg Gerda und mich auf dem Schlitten ganz bis nach Hause, weil er sieht, wie müde wir sind. Jawohl, Ingenieur Frykberg ist, Vater natürlich ausgenommen, zweifellos der netteste alte Herr, den wir je kennengelernt haben, darin stimmen wir alle überein.

Oh, wir sind ja nicht so dumm, wir begreifen recht gut, daß Ingenieur Frykberg in Aline Laurell verliebt ist und er deshalb nicht eher fortgehen will, als bis Aline zurückgekommen ist. Aber Aline wird Ingenieur Frykberg nicht haben wollen, weil er so sehr häßlich und so sehr alt ist; darüber sind wir uns ganz klar. Und er tut uns aufrichtig leid, weil er nicht jung und schön ist.

Aber ist es möglich! Wir haben mehrere Stunden lang da draußen gerodelt! Als wir zu Hause ankommen, ist schon der Tisch zum Abendbrot gedeckt, wir dürfen uns nur hinsetzen und essen.

Als wir dann von Tisch aufgestanden sind, sagt Vater, an den Samstagabenden spiele er meist noch eine Partie Kille mit uns Kindern, und ob Ingenieur Frykberg uns die Freude machen und mitspielen wolle.

Jawohl, Ingenieur Frykberg ist sofort bereit dazu, und wir holen eiligst Spielmarken und die Killekarten. Dann setzen wir uns alle miteinander um den Eßtisch, ausgenommen Mutter, denn sie spielt nicht gern Karten.

Und Vater und Ingenieur Frykberg sind zu lustig! Sie suchen immer zu mogeln, so wie es die richtigen Kartenspieler machen müssen, und Anna und Emma Laurell und Gerda und ich, wir lachen sie aus, oh, wir sind seelenvergnügt!

Wir lachen und schwatzen durcheinander, und so hören wir es nicht einmal, als der Schlitten von Gårdsjö vorfährt. Nein, wir hören nichts, bis die Stubentür aufgeht und Tante und Aline hereintreten.

Beide sind ganz weiß vor Rauhreif, und sie haben große Herrenpelzmäntel an. Sie sagen, es sei furchtbar kalt draußen, volle fünfunddreißig Grad. Onkel Kalle habe ihnen Pelzmäntel geliehen, sonst wären sie erfroren.

Sie erzählen auch, wie willkommen sie auf Gårdsjö waren. Die Tante und der Onkel hätten sie aufs herzlichste zum Abendbrot eingeladen, und so hätten sie nicht nein sagen können.

Als Aline hereinkam, stand Ingenieur Frykberg vom Tisch auf und zog sich ganz in die Ofenecke zurück, und so sah Aline ihn erst, als sie den Pelzmantel abgelegt hatte.

»Ei sieh! Sind Sie hier, Herr Ingenieur?« sagt sie und streckt ihm die Hand zum Gruß hin.

Sie ist durchaus nicht unfreundlich, aber sie richtet sich plötzlich stramm auf und wirft den Kopf zurück. Dabei sieht sie ein wenig aus wie Frau Hwasser im Schauspielhaus in Stockholm, wenn sie eine Königin spielt und mit einem Lakaien redet.

Und wie schön ist Aline Laurell, wie sie so vor ihm steht! Sie hat so frische Farben, in den Stirnhaaren glänzt der Rauhreif, und die großen grauen Augen leuchten und strahlen wie immer, wenn sie angeregt ist. Und Aline Laurell kommt mir plötzlich viel vornehmer vor als wir andern. Sie ist ein feines Stadtfräulein, gewohnt, mit dem Landeshauptmann und dem Bischof zu verkehren, wir aber sind nur einfache Landpomeranzen.

Und vor allem ist sie vornehmer als Ingenieur Frykberg. Mir ist, als sinke er in sich zusammen und werde kleiner und kleiner, während er sie ansieht.

Er sieht aber auch wirklich furchtbar struppig aus mit dem großen Bart und in dem eigengewobenen Anzug. Er begrüßt Aline, sagt aber kein Wort, und so kommt Mutter ihm zu Hilfe.

»Ingenieur Frykberg kam, um Hafer zu kaufen,« erklärt sie. »Er hat mit den Kindern mehrere Stunden lang gerodelt. Das war sehr liebenswürdig von ihm, und wir haben ihn gebeten, über Nacht hierzubleiben, denn er hat einen weiten Weg nach Hause.«

Wir Kinder wollen auf Aline zustürzen, um ihr zu erzählen, wie herrlich es beim Rodeln war, aber wir unterlassen es, denn Aline ist sehr steif und abweisend. Sie ist wie ein gespannter Flitzbogen, man hat geradezu Angst, von einem Pfeil durchbohrt zu werden, wenn man ihr zu nahe käme.

»Ja, es wäre nicht gut für den Herrn Ingenieur, wenn er in dieser Kälte heimfahren müßte,« sagt Aline, und sie ist abermals so vornehm wie Frau Hwasser, wenn nicht noch vornehmer.

Aline meint in diesem Augenblick gewiß, ihr Vater sei noch am Leben, und sie stehe in der schönen Wohnung in Karlstadt und empfange alle die einfachen Landesvermesser aus den Landstädten, die zu dem obersten Landesvermesser eingeladen worden sind.

Ingenieur Frykberg sagt immer noch nichts, aber er hat das rote Taschentuch wieder herausgezogen und wischt sich damit über die Stirne. Dann greift er nach seiner Uhr.

»Ja, du hast recht, Frykberg, es geht auf elf Uhr,« sagt Vater. »Und da unsere Ausflügler jetzt daheim sind, ist es Zeit, daß wir zu Bett gehen.«

 

Als das Kindermädchen Maja am nächsten Morgen zu uns hereinkommt, um einzuheizen, sagt sie, es habe vierzig Grad Kälte.

»Da bleibt ihr Kinder am besten in euren Betten liegen,« sagt sie. »Man kann die Zimmer unmöglich warm bekommen.«

Aber natürlich stehen wir auf. So eine große Kälte haben wir ja noch nie erlebt. Es kommt uns so merkwürdig vor, wie wenn wir nach dem Nordpol verzogen wären.

Als wir in das Wohnzimmer hinunter kommen, sind da alle Fenster mit einer dicken Schicht Rauhreif bedeckt, und es dringt nur ganz wenig Tageslicht herein; überall ist es nur halbhell, und es ist furchtbar kalt.

Von dem Thermometer, das vor einem der Wohnzimmerfenster hängt, können wir nicht viel sehen. Aber gerade vor der Quecksilberkugel ist ein sonderbarer heller Fleck auf der Scheibe. Ei, das Quecksilber ist wahrhaftig eingefroren, es steigt in dem Glasröhrchen nicht mehr in die Höhe.

Und die Haushälterin sagt, wir könnten kein weiches Brot zum Frühstück bekommen, denn alles Brot sei Stein und Bein gefroren, wenn man versuchte, es durchzuschneiden, zerbröckle es vollständig.

Auch Butter können wir nicht bekommen, denn auch sie ist fest gefroren. In der Buttertonne liegen da und dort große Eisstücke.

Wir möchten gern hinausgehen und fühlen, wie es bei vierzig Grad Kälte ist, aber das dürfen wir nicht. Wir dürfen nicht einmal das Schloß an der Haustür mit bloßen Händen anfassen. Denn wenn man bei vierzig Grad Kälte Eisen anfaßt, dann brennt es einen, wie wenn es glühend heiß wäre, und die Haut wird ganz versengt.

Aber jedenfalls finden wir es höchst feierlich, daß wir eine so große Kälte erlebt haben. Weder Vater noch Mutter, ja, nicht einmal die alte Haushälterin, können sich an vierzig Grad Kälte auf Mårbacka erinnern.

Wir sind so hingenommen von dieser Kälte, daß wir Ingenieur Frykberg, der am gestrigen Abend so nett mit uns war, vollständig vergessen. Als wir uns dann aber an den Frühstückstisch setzen, fragt Anna, ob wir nicht auf den Ingenieur warten sollten.

»Nein,« antwortet Mutter, »Ingenieur Frykberg ist nicht mehr da. Als er hörte, daß das Thermometer vierzig Grad Kälte zeigte, stand er sofort auf und fuhr heim. Als er ging, sagte er, er müsse rasch nach Hause und nachsehen, ob seine Schafe und Schweine nicht erfroren seien. Er habe nicht einmal Zeit, sich zu verabschieden.«

»Aber ist es nicht gefährlich, bei so einer Kälte viele Meilen weit zu fahren?« fragt Aline.

Doch Vater lacht nur und erwidert:

»Ei, ei, Aline, findest du es jetzt an der Zeit, warmherzig zu werden! Ich möchte wohl wissen, wer daran schuld ist, daß er auf und davon fuhr.«

»Aber, lieber Onkel,« erwidert Aline, »ich bin doch ganz freundlich gegen ihn gewesen. Du wirst doch nicht das Gegenteil behaupten wollen?«

»Oho,« sagt Vater, »in deiner Freundlichkeit waren wenigstens vierzig Grad Kälte.«

Und ich glaube, Vater und Mutter auch sind ein wenig unzufrieden mit Aline. Und Anna und Emma Laurell und ich, wir sagen allerdings hinterher, Aline habe sich unmöglich in einen so häßlichen alten Mann verlieben können; aber Ingenieur Frykberg tut uns trotzdem leid.

Ich grüble lange darüber nach, ob er nicht am Ende gehofft hatte, er werde unterwegs erfrieren, als er sich bei vierzig Grad Kälte auf den Heimweg machte. Ich warte darauf, zu hören, daß er nicht lebend daheim ankam. Dann wäre alles miteinander wie in einem Roman gewesen.


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