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Der Torpfosten

Der Pfarrer zog die Zügel an, und das Pferd blieb stehen. Das Bauerngut Hånger lag im Abendglanz etwas tiefer in der Landschaft vor ihm.

Einen Augenblick fragte er sich zweifelnd, ob er am rechten Ort sei. Hånger war ihm jederzeit als ein großer Hof mit langen Gebäuden geschildert worden. Hier war allerdings das Wohnhaus sehr ansehnlich, alle anderen Gebäude jedoch waren klein.

Aber der Baumgarten war da. Auf dem Abhang zwischen den kleinen Nebengebäuden wuchsen himmelhohe hundertjährige Apfelbäume, die gerade jetzt in herrlichster Blüte standen und den Hofplatz mit einer frei schwebenden Decke in Weiß und Rot überspannten.

Und auch die alte Eiche war da, noch nicht völlig belaubt, aber im Begriff, ihre knorrigen Äste und Zweige wieder mit weichem Blattgrün zu bekleiden.

Und die Aussicht war da. Die Aussicht über eine ungewöhnlich zarte leicht und weich gezeichnete Landschaft, in der sich die zehn Bergrücken und die zehn Seen jetzt in der Stunde des Sonnenuntergangs mit allen nur erdenklichen Farben schmückten, wo die eine Höhe in hellem Glanze lag und die andere in tiefem Schatten, wo der eine See wie ein blanker Stahlschild dalag, während sich die Tannen dahinter mit Goldglanz bedeckten. Man konnte sich ganz unmöglich vorstellen, daß Menschen, die ein ganzes Leben lang ein solches Bild vor Augen gehabt hatten, harte und rohe Wilde bleiben konnten, deren Gedanken auf nichts anderes gerichtet waren, als Reichtum und Macht zu gewinnen. In der Schönheit dieser Umgebung meinte der Pfarrer die Erklärung zu finden für die freudige, prachtliebende, großzügige Art, die seine Vorfahren ausgezeichnet haben sollte.

Eine geraume Weile saß Pfarrer Rhånge in die Betrachtung der ganzen Umgebung versunken still da; aber schließlich sprang er doch aus dem Gefährt und führte es in den nahen Wald. Hier band er das Pferd an einen Baumstamm, legte ihm Futter vor und machte sich dann sachte und vorsichtig auf den Weg nach dem Hofe.

Als er so nahe herangekommen war, daß er zwischen den Gebäuden durchsehen konnte, entdeckte er, daß an dem linden, hellen Frühlingsabend ein Mann und eine Frau unter der alten Eiche an einem Gartentisch einander gegenübersaßen. Der Mann las vor, und die Frau war mit einer Handarbeit beschäftigt. Sie hatten ihn bis jetzt nicht bemerkt.

Der Pfarrer blieb stehen, ging dann um eines der kleinen Gebäude herum und näherte sich ihnen wieder von der anderen Seite. Gleich neben dem Platz, wo der Mann und die Frau saßen, wuchs eine hohe und dichte Fichtenhecke. Im Schutze dieser Hecke näherte er sich ungesehen und mit leisen Schritten den beiden. Als er so weit gekommen war, daß er die Stimme des Vorlesenden deutlich vernehmen konnte, kauerte er sich auf den Boden nieder und schob vorsichtig ein paar Zweige der Hecke auseinander; nun konnte er soviel sehen, als er wünschte.

Er machte sich keinen Augenblick Gewissensbisse darüber, daß er horchte. »Sigrun und meine ganze Zukunft stehen auf dem Spiel,« dachte er. »Ich muß die Wahrheit wissen, auf welche Weise ich sie auch immer erfahren mag.«

Zu Anfang gab es für ihn jedoch nichts anderes zu erlauschen, als ein kleines Gedicht von dem Dichter Snoilsky. Es war das Gedicht von dem Kriegsgefangenen, der sich, endlich aus der Gefangenschaft erlöst, nach mühsamer Wanderung an einem finstern Abend vor der armseligen Hütte befindet, in der er vor vielen Jahren seine Frau zurückgelassen hat. Aber als er durchs Fenster lugt, findet er, daß sie jetzt einen anderen Mann an ihrer Seite hat. Sie hatte natürlich gemeint, er sei tot, und da geht er fort, hinaus in die Nacht; er verschwindet lieber, als daß er ihr Kummer und Schmerz bereitet. Aber ehe er geht, hängt er ein Lederbeutelchen, in das er alle die kleinen Münzen, die er besitzt, getan hat, an die Türklinke als ein Geschenk für die einfache Heimstätte.

Sven Elversson las dieses Gedicht von der verzichtenden Liebe sehr schön vor, aber der Pfarrer hörte nur die Worte, ohne den Inhalt eigentlich recht zu fassen. Seine ganze Seele war von seiner Frau hingenommen.

Sigrun saß so, daß er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Aber jedenfalls war sie es selbst, die er da sitzen sah. Er erkannte ihr Haar, die schöne Biegung des Nackens; jede Bewegung von Hand oder Arm bei ihrer Arbeit war ihm wohlbekannt.

»Sie lebt!« flüsterte er ganz leise und faltete die Hände. »Es ist wirklich wahr, sie lebt!«

Sein Herz schmolz vor Rührung. Er sah Sigrun wieder; aber dieses Wiedersehen war nicht so, wie er erwartet hatte. Er fühlte keinen Zorn, er wollte sie nicht zur Rechenschaft ziehen für alles, was er um sie gelitten hatte, er wollte nicht mit ihr von der Schande sprechen, die sie auf sich selbst gehäuft hatte, nur mit Tränen wollte er Gott dafür danken, daß sie noch am Leben war und zu ihm zurückkehren wollte.

Er legte die Hand über die Augen und überlegte, was wohl aus ihm geworden sein würde, wenn sie wirklich tot gewesen wäre. Ein gehässiger alter Sonderling, der sich ohne Hoffnung durchs Leben schleppte, der sich nur immerfort ausschließlich mit seinen Erinnerungen beschäftigte, ein Mann, der die Gesellschaft anderer Frauen nur gesucht hätte, um sie zu verhöhnen, weil sie nicht waren wie sie, die Einzige. Bodenlos war der Abgrund, in dem er versunken wäre.

Während des Herwegs hatte er in seiner Verzweiflung gewünscht, Sigrun hätte sich ihm lieber nicht zu erkennen gegeben. Ein grausamer und törichter Wunsch! Wie hatte er ihm nur Raum geben können?

Dies alles ging ihm durch die Seele wie ein Sturmwind. In dessen Tosen erstarb die Stimme des Vorlesenden.

Im ersten Entzücken hätte er sich beinahe erhoben und wäre zu Sigrun hingeeilt. Aber er bezwang sich.

»Nein,« dachte er, »zwischen uns darf kein Zweifel oder Verdacht zurückbleiben. Um unseres Glückes willen muß ich bleiben, wo ich bin.«

»Wir wollen heut abend nicht weiterlesen,« sagte Sigrun, als Sven Elversson mit dem Gedicht zu Ende war »Ich habe was mit Ihnen zu reden.«

Ihre Stimme drang zu dem Lauscher hinter der Fichtenhecke mit dem vollen Klang des Lebens. Lieblich wie früher, leise und herzbewegend mit dem leichten Lispeln.

Sven Elversson hob den Kopf von seinem Buche und kehrte sich ihr zu. Auch er war im höchsten Grade verändert, das sah der Pfarrer sofort. Er trug den Kopf aufrecht und hatte die freie, unbefangene Haltung des gebildeten Mannes. Das Aussehen eines Laienpredigers, die übertriebene Demut, die ihn sonst gekennzeichnet hatten, waren verschwunden.

»Ja, eigentlich ist es schade, an solch einem Abend über ein Buch gebeugt zu sitzen,« sagte Sven Elversson. »Wir wollen uns lieber ein wenig unterhalten.«

Sigrun zögerte, mit der Zwiesprache zu beginnen. Sie faltete ihre Arbeit zusammen, und erst, nachdem dies geschehen war, sagte sie mit fester und bestimmter Stimme:

»Jetzt ist es geschehen, Herr Elversson.«

»Was?« fragte er vollkommen unbefangen. »Ist Ihre Arbeit schon fertig?«

»Nein, aber das, worum Sie mich jeden Tag gebeten haben, seit ich unter Ihrem Dach weile, ist jetzt geschehen.«

»Haben Sie – – –«

Er hatte sich ganz erregt erhoben und vollendete seinen Satz nicht.

Aber Sigruns Stimme gab ihm fest und klar und ohne Beben Antwort.

»Ich habe an Lotta Hedman geschrieben und sie gebeten, Eduard alles zu sagen. In diesem Augenblick weiß er schon, daß ich noch lebe. Morgen kommt er her und holt mich.«

»Kommt er hierher?« fragte Sven Elversson. Seine Stimme klang nicht fest und klar; sie war schwach und hinsterbend.

»Ja,« erwiderte sie, »ich habe ihn gebeten, hierher nach Hånger zu kommen, und ich werde Ihnen nachher sagen, warum. Jetzt möchte ich zuerst hören, ob Sie froh darüber sind.«

Dem Pfarrer kam es vor, als ob der Mann vor seinen Augen Gestalt und Aussehen wechsle. Er sank zusammen, und das geduldige Lächeln legte sich mit voller Deutlichkeit um seinen Mund. Die vorher so munter blickenden Augen waren zu Boden gesenkt. Die Arme hingen schlaff an den Seiten des Körpers herunter. Und als er nun Sigruns Frage beantwortete, geschah es mit der alten peinlichen Unterwürfigkeit.

»Gewiß bin ich froh darüber, Frau Rhånge,« sagte er. »Es ist zu gütig von Ihnen, es so hinzustellen, wie wenn dies mein Werk wäre. Ich weiß ja, oder richtiger gesagt, ich glaube es bemerkt zu haben, seit sich die erste Erregung bei Ihnen gelegt hat, ist kein Tag vergangen, an dem Sie nicht Reue gefühlt und sich nach Hause gesehnt haben. Aber Sie denken vielleicht an Ihre Angst vor Ihres Mannes Zorn und an das harte Gericht der Welt, und daß ich versucht habe, Ihnen Mut einzuflößen, dem allem zu trotzen. Das ist das einzige, dessen ich mich rühmen darf.«

Der lauschende Mann fing diese Worte nicht bloß mit den Ohren, sondern mit seiner ganzen Seele auf.

»Was ist wahr und was ist falsch daran?« fragte er sich. »Gott helfe mir, die Wahrheit zu erfahren!«

Sigruns Gesicht konnte er nicht sehen, aber es kam ihm vor, als zucke sie unmerklich die Schultern.

»Nein, natürlich nicht. Mir zu etwas anderem zu helfen, hatten Sie nicht nötig gehabt.«

»Es tut mir sehr wohl, daß ich das wirklich annehmen darf,« ließ sich Sven Elverssons milde Stimme vernehmen. »Sie haben beinahe sofort eingesehen, welch großes Unrecht Sie sich gegen Ihren Mann haben zuschulden kommen lassen. Es war undenkbar, daß Sie den Mann, der Sie liebte, zu lebenslanger Einsamkeit und Trauer sollten verurteilen wollen. Und Sie hätten diesen Schritt gewiß schon vor Monaten getan, wenn Sie nicht krank geworden wären; dies ist meine feste, meine innige Überzeugung. Bis jetzt haben Sie nicht Kraft genug gehabt, dem Aufsehen und den bösen Zungen die Stirn zu bieten. Ich bin der letzte, der Sie Ihres Zögerns wegen schelten möchte. Ich weiß, was es heißen will, unter seinesgleichen verworfen und ausgestoßen zu sein.«

Etwas in Sigruns Haltung deutete auf Ungeduld, und ein leichter Spott lag in dem Tone, mit dem sie antwortete:

»Ja, ja, Herr Elversson, ich wußte, Sie würden sich freuen. Aber da dies wohl unser letztes Zwiegespräch sein wird, so will ich Ihnen sagen, daß nicht Sie allein mich veranlaßt haben, wieder heimzukehren. Ich habe auch viele Hilfe von Ihrer Frau erfahren; vielleicht noch mehr Hilfe von ihr als von Ihnen. Ich glaube, sie hat über alle Grenzen geliebt,« fuhr Sigrun mit einem weichen Klang in der Stimme fort. »Von ihr hab' ich zu lernen gesucht, wie man lieben soll.«

Ein Schatten flog über Sven Elverssons Gesicht.

»Sie war eine gute Frau,« sagte er einfach, ohne seinen gewöhnlichen Wortreichtum. »Wir hielten sehr viel von ihr, solange sie unter uns lebte.«

»Mutter Thala hat mir viel von ihr erzählt,« sagte Sigrun. »Sie soll am Tage, nachdem das Schulhaus abgebrannt war, nach der Grimö gekommen sein. Sie wollte Ihnen sagen, sie und der Schullehrer hätten ihr bestes getan, damit es den Kindern darin gefalle. Und sie ermahnte Sie, dieses Unglück nicht allzu schwer zu nehmen, Sie hätten sich durch Ihre Arbeit längst Freunde erworben. Die Leute fingen an einzusehen, was Sie für ein Mann seien.«

Sven Elversson machte eine ergebene Bewegung, die andeuten sollte, daß er wünsche, mit weiterem über diesen Gegenstand verschont zu werden. Aber Sigrun fuhr fort:

»Ich habe Ihre Frau in Applum gesehen, sie war sehr häßlich, dessen entsinne ich mich wohl. Vielleicht war es das, vielleicht auch etwas anderes, was Sie reizte, denn Mutter Thala sagt, Sie hätten sie angeschnauzt wie vorher noch nie sonst irgend jemand. ›Wenn ich jetzt käme und Sie fragte, ob Sie meine Frau werden wollen‹, hätten Sie höhnisch zu ihr gesagt, ›so würde ich ja sehen, wie Sie mich abfertigten.‹ Sie sei darauf weder rot noch blaß geworden, sondern geradezu aschgrau im Gesicht und sofort aufgestanden. ›Sie sagen das im Scherz und ohne sich etwas dabei zu denken,‹ habe sie gesagt. ›Wenn Sie mich das einmal im Ernst fragen würden, so wäre das der glücklichste Tag meines Lebens.‹ – Nachdem sie das gesagt hatte, sollen Sie ganz rot geworden sein, und ein paar Jahre später haben Sie sie wirklich geheiratet, weil diese Antwort ihnen gezeigt hatte, welch ein gutes und hochgesinntes Mädchen sie war.«

»Ja, das ist wahr, sie war gut und hochherzig,« erwiderte Sven Elversson. »Ich lasse ihr alle Gerechtigkeit widerfahren. Es war ja wunderbar, daß sie sich überhaupt mit so einem, wie ich bin, verheiraten mochte.«

»Sie ist es gewesen, die Ihnen geraten hat, hierher nach Hånger überzusiedeln, das hat mir Mutter Thala gesagt,« fuhr Sigrun fort. »Sie kannte den Hof und wußte, daß er öde und verlassen dalag, und daß Sie ihn um einen Spottpreis erwerben könnten. Sie verschaffte Ihnen eine friedliche Häuslichkeit, besorgte Ihre Geschäfte, verkaufte, wenn ich mich recht entsinne, Waldstrecken, damit Sie genügend Geld in die Hand bekamen, und sie richtete Ihr Haus so ein, daß es den Gewohnheiten und Ansprüchen, die Sie durch Ihre Erziehung bekommen haben, einigermaßen entsprach. Auch nahm sie alle die Notleidenden, die Sie ausfindig machten, auf und sorgte für sie, bis es Ihnen gelang, ihnen sonst irgendwo ein Unterkommen zu verschaffen. Und diese Frau sollte Sie nicht geliebt haben? Das ist unmöglich.«

»Ach nein!« antwortete Sven Elversson. »Ich glaube, sie hat es versucht, mich zu lieben. Sie kämpfte mit dem, was bei mir zu überwinden war, aber zuletzt wurde es ihr zu übermächtig, und da ging sie mit Gustavson auf und davon.«

»So war es nicht! So war es durchaus nicht!« entgegnete Sigrun hastig. »Deshalb ist sie nicht mit ihm gegangen. Nein, aber sie wußte, daß Sie eine andere liebten, Sie hatten sich auf irgendeine Weise verraten. Sie haben eine Gedichtsammlung, die beständig auf Ihrem Tische liegt. In dieser lesen Sie sehr oft, das hat mir Mutter Thala gesagt. Aber Sie lesen immer nur ein einziges Gedicht, einzig und allein das eine, ein Liebeslied von dem Isländer Bjarni Thorarensen.«

Sven Elversson sprang auf. Er griff sich an die Brust. »Wohin zielen Sie?« stieß er hervor, und es lag beinahe etwas Drohendes in seinem Tone.

Sigrun hob die Hand.

»Ich will von Ihrer Frau mit Ihnen reden,« sagte sie. »Morgen werde ich fort sein,« fügte sie besänftigend hinzu.

Geduldig und unterwürfig nahm er wieder Platz. Aber seine Augen hatten den freundlichen Schimmer verloren und schauten Sigrun ernst und streng an.

Der horchende Mann beugte sich in höchster Spannung vor. Er erkannte ja wohl Sigruns Stimme wieder, allein es war manches in ihrem Wesen, was ihm fremd erschien. Sie hatte jetzt etwas von dem gelassenen Selbstbewußtsein der reifen Frau an sich, das ihr sonst fremd gewesen war.

»Sie hat viel durchgemacht, seit ich sie zuletzt gesehen habe,« dachte er. »Noch nie hat sie eine solche Macht gehabt, den im Bann zu halten, mit dem sie spricht. Jetzt kann ihr niemand mehr widerstehen.«

»Wir wollen annehmen,« fuhr Sigrun fort, »Ihre Frau habe letzten Herbst deutlicher als jemals gemerkt, daß Sie sie nicht liebten. Vielleicht haben Sie jenes Gedicht häufiger als sonst gelesen. Was weiß ich? Und sie ging von Ihnen fort, aber so, daß Sie nicht zu glauben brauchten, sie sei aus Liebe gegangen, um Ihnen das Leben leichter zu machen. Darum ging sie mit dem Scherenschleifer. Ich habe mit Ihrer Mutter darüber gesprochen, und sie ist vollständig meiner Meinung. Und der Scherenschleifer hat mir auch dasselbe gesagt. – ›Sie ist zu mir gekommen, weil Sven Elversson sie nicht liebte,‹ sagte er.«

Abwehrend erhob Sven Elversson die Hände.

»Warum soll ich das anhören?« fragte er. »Meinen Sie etwa, es tue mir wohl, das zu wissen?«

»Ja,« erwiderte sie. »Das Bewußtsein, von einem guten Menschen so innig geliebt worden zu sein, tut immer wohl. Es tut Ihnen wohl, daß Sie sie nicht im Verdacht der Verstellung und Veränderlichkeit haben müssen. Sie verstehen: Sie war von derselben Art wie der Krieger, von dem wir vorhin gelesen haben. Sie hat mich gelehrt, wie man lieben kann,« fuhr Sigrun fort. »Von ihr hab' ich gelernt, wie die Liebe über allen Verstand gehen, wie sie die Seele bis zu dem Grad erfüllen kann, daß diese den eigenen Körper für nichts achtet.«

Sie stand auf und stellte sich hinter Sven Elverssons Stuhl. In ihrer jetzigen Stellung konnte ihr ihr Gatte hinter der Hecke gerade ins Gesicht sehen, und er wich fast zurück vor der überirdischen Schönheit, die in diesem Augenblick auf den herrlichen Zügen lag.

Sie sprach nun sehr rasch und entwickelte ihre Gedanken, ohne auf Antwort zu warten.

»Das Lied in Ihrem Gedichtbuch, das Sie beständig zu lesen pflegen, Herr Elversson, ist der ›Sang an Sigrun‹. Ob es des Namens wegen ist oder aus einem anderen Grund, eines ist gewiß: Ihre Frau glaubte zu wissen, wen Sie lieben.«

Sven Elversson wollte reden, Beteuerungen und Versicherungen abgeben, aber Sigrun wehrte ab.

»Ich muß ausreden dürfen, damit Sie einsehen, wie Ihre Frau im Leben liebte. Machen Sie einmal den Versuch, sie sich als eine Seele vorzustellen, die nur Liebe ist, und daß diese Seele beschließt, sich für den zu opfern, den sie liebt! Daß sie Mittel und Wege sieht, die kein anderer sich hätte denken können, daß sie sich des Willens eines anderen Menschen bemächtigt, diesen lenkt, leitet, führt, ihm Gedanken zuflüstert, ihm sagt, was er reden soll, und schließlich alles zwingt, sich ihrem Wunsche zu fügen.«

Sven Elversson schüttelte den Kopf. Er sagte mit seiner sanftesten Stimme, aber vollkommen abweisend:

»Das heißt reden wie Lotta Hedmann.«

»Ja,« sagte Sigrun. »Ich weiß, ich rede wie Lotta Hedman. Und ich leugne auch nicht, daß es Lotta Hedman ist, die mich gelehrt hat, an die Macht der Verstorbenen zu glauben. Aber woher wissen Sie denn, daß sie nicht recht hat? – Was war das für ein Leitstern, der die Sterbende gerade zu mir führte? Und woher stammte der Gedanke, der Macht über mich bekam? Sie wissen, wie ängstlich und empfindsam ich bin. Es ist wahr, ich dachte daran, davonzulaufen, aber warum sollte ich es auf diese Weise tun? Ich hätte noch andere Auswege gehabt. Aber von dem Augenblick an, wo Ihre Frau tot in meinem Bette lag, sah ich keine andere Möglichkeit mehr vor mir, konnte nichts anderes mehr denken. Warum konnte mir auch Lotta Hedman keinen Widerstand leisten? Warum kam der Scherenschleifer erst, nachdem ich schon meines Weges gegangen war? Warum war er an jenem Tage so still und nachgiebig? Warum wurden wir nicht eingeholt? Warum wurde mein Geld gestohlen? Warum wurde nichts entdeckt? Ich hatte doch wahrhaftig keine tiefen Pläne gemacht. Warum all dies, Herr Elversson, wenn nicht darum, weil die Frau, die Sie mit so unendlicher, gewaltiger Liebe liebte, beschlossen hatte, die Frau, die Sie liebten, zu Ihnen zu führen?«

Sie hatte eifrig gesprochen, beseelt, ganz hingenommen von dem Wunder, das, wie sie meinte, hier hereinspielte. Aber in ihrer Stimme fand sich keine Spur von Leidenschaft. Der Lauscher hinter der Hecke bemerkte das wohl. Sigrun sprach zu dem Manne, der sie liebte, in der festen Überzeugung, daß dieser Mann sehr gut begriff, daß sie ihn nicht wiederliebte.

Sven Elversson fühlte dasselbe. Seine Stimme klang verschleiert vor Bewegung, aber sie nahm keinen leidenschaftlichen Ton an.

»Gut. Da Sie es so wünschen, reden wir wie Lotta Hedman! Aber wenn die Seele der Verstorbenen Sie hierhergesandt hat, könnte es nicht ebensogut zur Plage und Strafe gewesen sein? Sie wußte ja, daß meine Liebe dadurch nur zunehmen würde, wie sie auch wußte, daß Sie mich niemals lieben würden.«

»Ja,« sagte Sigrun mit demselben besonderen Tonfall höchster Begeisterung, beinahe als spräche sie zu einem Bewohner der anderen Welt. »Natürlich wußte sie das. Und noch etwas wußte sie: wenn nicht etwas in Ihnen gewesen wäre, das Sie vor jeder anderen Liebe als der ihrigen schützte, hätten Sie mir nicht erlaubt, hier auf Hånger zu bleiben. Aber sie meinte vielleicht, Ihr eigenes Leben werde schöner und glücklicher, wenn Sie mich lehren könnten, wie ein Leben gelebt werden müsse. Nicht wahr, auch das könnte ihre Absicht gewesen sein? Später, wenn Sie alt sind, wenn all das Brennende und Verzehrende verkühlt ist, da werden Sie an diesen Winter auf Hånger als an eine Zeit des Glückes zurückdenken.«

Er schüttelte verneinend den Kopf.

»Nicht jetzt schon,« sagte sie, »aber später, und dann bis zu Ihrer letzten Stunde. Sehen Sie, ich glaube, es ist, wie ich vorhin gesagt habe, Sie sollten mich lehren, wie ein Leben gelebt werden muß, das war ihre Absicht. Was war ich vor einigen Monaten, ehe ich hierher kam? Ich war nicht böse, ich wollte jedermann wohl, aber ich war ängstlich; ich versuchte wohl, recht zu tun, aber ich tat es nur so aufs Geratewohl. Ich hatte keinen festen Lebensplan. Ich wußte nicht, daß es möglich ist, unter allen Umständen gut zu bleiben, wahr, treu und barmherzig zu sein. Das ist's, was ich hier bei Ihnen lernen sollte! Abscheu vor allem, was die Seele beschmutzt. Das werde ich mit mir nehmen in meine Heimat und zu meinem Manne. Er soll sehen, daß ich eine andere geworden bin, und er soll größeres Vertrauen in mich setzen denn zuvor. Jetzt werden wir glücklich sein, und Sie sind es, dem wir unser Glück verdanken. Und Sie sollen oft an uns denken und sich freuen.«

Er ergriff eine von ihren Händen, neigte sein Gesicht darüber und weinte.

»Morgen, wenn Eduard hierher kommt,« sagte sie, »werde ich ihm das alles sagen, und er wird es verstehen und Ihnen danken.«

Da richtete er sich ganz entsetzt auf.

»Wie, soll auch er...«

»Jawohl,« sagte sie. »Ich werde ihm sagen, daß Sie mich lieben, und er soll erfahren, wie sehr die Tote Sie geliebt hat. Ich werde ihm alles sagen. Es dürfen keine Unklarheiten und Geheimnisse mehr zwischen uns sein, das werden Sie verstehen. Er soll erfahren, wie ich das Geheimnis der Liebe gelernt habe. Ich werde ihm sagen, daß die Liebe nicht nach Gelöbnissen und Vorschriften fragt, denn sie kennt nur ihr eigenes Gesetz. Sie kennt nur eine Rücksicht, die Rücksicht auf das geliebte Wesen. Sie geht, wenn sie sieht, daß sonst das Leben für das geliebte Wesen zu schwer ist. Und ich will hier auf Hånger mit Eduard davon reden, hier auf dem Hofe seiner Vorfahren, in dieser Natur, die großzügig und weich zu gleicher Zeit ist. So kann auch Eduard sein, großzügig und weich zugleich.«

Der Mann, der hinter der Hecke horchte, machte eine Bewegung. Er schämte sich, weil er die beiden ausspionierte. Er wollte hervortreten und offen und aufrichtig mit Sigrun und mit dem Manne reden, der Sigrun liebte und es versuchte, sie zu trösten und ihr Mut einzuflößen, jetzt, wo sie ihn verlassen mußte.

Aber als er nun den Weg überschaute, den er zurückzulegen hatte, wenn er zu ihnen gelangen wollte, da entdeckte er, daß sich aus einem Steinhaufen gerade vor ihm ein alter Torpfosten erhob.

Ein Tor war nicht mehr vorhanden und auch nicht der zweite dazugehörige Pfosten auf der anderen Seite. Einsam stand er da, morsch, dem Umfallen nahe und schon mit einer Menge Stützen, die ihn aufrecht hielten, ringsum gestützt.

Der Pfarrer stutzte. Er hatte den Pfosten bis jetzt noch nicht gesehen, aber er hatte seine Aufmerksamkeit auch noch nicht auf diese Seite gerichtet. Zuerst war er überzeugt, dies alles sei nur eine Augentäuschung, und es sei gar kein Pfosten vorhanden, dann dachte er, der Pfosten könne ja als eine Art Merkwürdigkeit erhalten worden sein.

Aber während er sich den Pfosten betrachtet hatte, war der günstige Augenblick zum Hervortreten verstrichen.

Die Zwiesprache zwischen den beiden war weitergegangen. Sigrun hatte sich jetzt einem neuen Gesprächsgegenstand zugewendet.

»Ist es möglich,« sagte sie, »daß Sie eigentlich gar nicht wissen, wie alles zugegangen ist? Mutter Thala hat mir gesagt, Sie hätten im Fieber gelegen und seien gar nicht bei Bewußtsein gewesen, und Sie könnten sich durchaus an nichts erinnern.«

Sven Elversson schwieg.

»Sie wollen mir nicht gestatten, daran zu rühren, und das begreife ich wohl,« sagte Sigrun. »Aber ich möchte doch gerne mit Ihnen darüber reden. Bedenken Sie, morgen werde ich nicht mehr hier sein.«

»Natürlich war ich mit dabei beteiligt,« sagte Sven Elversson. »Aber ich war so krank, daß ich mich an nichts mehr erinnere. Nachher hörte ich die anderen von dem reden, was geschehen war, und ich machte ihnen Vorwürfe. Da antwortete man mir, ich hätte gar nichts zu sagen, denn ich sei auch mit dabei gewesen. Und da erinnerte ich mich, daß sie mich gezwungen hatten, auch...«

Das hatte er mit unerhörter Anstrengung gesagt. Die Worte quälten sich gleichsam nur über seine Lippen. Den Schluß des Satzes brachte er nicht heraus.

»Sie haben sich nur eingebildet, Sie könnten sich erinnern,« sagte Sigrun. »Sie müssen doch einsehen, wie unmöglich es ist, daß Sie das getan haben. Sie wären lieber gestorben.«

»Ich hab' es getan. Denken Sie nichts anderes.«

»Doch!« erklärte Sigrun. »Das tu' ich, und Sie sollen das wissen. Die ganze Zeit über, die ich unter Ihrem Dach geweilt habe, war ich überzeugt davon, daß dies nicht wahr ist. Niemand, der Sie kennt, wird es glauben.«

Sven Elversson beugte sich vor und ergriff ihre Hand. Mit großer Einfachheit und mit großem Ernst sagte er: »Sie sind heute abend sehr gut gegen mich gewesen, das fühle ich deutlich. Ich kann Ihnen für diese Stunde nie genug danken.«

Sie erfaßte den Sinn seiner Worte und stand davon ab, diesen schwierigen Gesprächsgegenstand noch weiter zu verfolgen.

»Aber Sie werden mir doch wenigstens erlauben, Ihnen für die Monate, die ich hier auf Hånger zugebracht habe, zu danken? Ich werde an diesen Ort immer als an eine wahre Heimstätte der Menschenliebe zurückdenken. Mein eigenes Heim möchte ich nach Ihrem Vorbild einrichten.«

»Warten Sie damit bis morgen!« bat er.

Sie stand auf.

»Ach, gehen Sie noch nicht! Es ist der letzte Abend.«

»So lesen Sie mir noch ein wenig aus Snoilsky vor!«

Er schlug das Buch auf, machte es dann aber wieder zu.

»Es ist zu dunkel.«

»Dann sagen Sie mir etwas davon auswendig her! Zum Beispiel den ›Sang an Sigrun‹ von Bjarne Thorarensen! Darum hab' ich Sie schon oft bitten wollen, hab' es aber bisher nie gewagt.«

Sven Elversson machte eine abwehrende Bewegung.

»Morgen bin ich fort,« mahnte sie mit einem geradezu unwiderstehlichen Klang in der Stimme.

Und er begann wirklich das leidenschaftliche Gedicht des isländischen Dichters vorzutragen, in dem dieser die Geliebte anfleht, ihn nicht zu verlassen, selbst wenn sie stürbe und in die glanzumwobenen Wohnungen des Himmels käme. »Glaub' nicht, daß ich die tote Braut nicht küssen möchte!« klang das Lied. »Glaub' nicht, daß ich die Hand nicht wollte legen wohl um die Totenblasse dort im Leichenhemd!«

Er hatte sich, als er vorzutragen begann, von Sigrun abgewendet und saß jetzt vorgebeugt da, den Blick auf irgendeinen Punkt in weiter Ferne gerichtet.

Aber all das, was er während des vorhergehenden Gesprächs hatte zurückdrängen können, all das, was der Zauber dieses schönen Frühlingsabends, die Nähe der geliebten Frau nicht zu entfesseln vermocht hatte, das wurde jetzt durch die wilde, gewaltige Liebesglut, die das Gedicht durchströmte, ausgelöst. Seine Stimme verriet die ganze unterdrückte Leidenschaft.

»Küßt nicht die Sonne auch des Eisfelds Firnen mit gleicher Glut wie roter Rosen Pracht? Und ist die weiße Lilie nicht der Blumen schönste?« trug Sven Elversson weiter vor, und seine Stimme zitterte vor dem gewaltigen Brausen des Liebessturmes, der in ihm tobte.

Sigrun hörte ihm ein Paar Minuten gespannt zu. Dann wendete sie sich plötzlich von dem Vortragenden ab, damit er ihr Gesicht nicht sehe.

Statt dessen war es dem hinter der Hecke Horchenden zugewendet, und er sah jetzt in ein von Leidenschaft verzerrtes Antlitz, auch sie konnte die hervorbrechenden Gefühle nicht mehr zurückhalten. Ihre Augen schlossen sich in heißem Schmerz; sie schlang die Hände fest ineinander, und ihre Lippen bewegten sich in stummer Klage. Der Gatte hörte nicht, was sie sagte, aber von den Bewegungen ihrer Lippen glaubte er die Worte abzulesen.

»Oh, daß ich es ihm niemals, niemals sagen darf!«

»Komm her zu mir, wenn erst im Herbst der Sturm kohlschwarze Wogen an das Ufer wälzt!« sprach Sven Elversson mit leidenschaftlich lauter Stimme. »O komm zu mir, wenn um die Mitternacht in Sturmeswolken sich der Mond verhüllt!«

Den Mann, der sich hinter der Hecke verbarg, überlief es eiskalt vor Entsetzen. Er sah, wie Sigrun mit einer Bewegung unendlicher Sehnsucht beide Arme erhob. Er sah, wie die flüsternden Lippen wieder und wieder ihren Klageruf ausstießen:

»Daß ich es ihm niemals, niemals sagen darf!«

»Komm an mein Herz mit deiner kalten Brust, du Braut des Todes, und verweile da, bis von den Fesseln meiner Erdenhülle auch meine Seele du gelöst, befreit!« schloß Sven Elversson mit brechender Stimme.

Der Pfarrer wendete den Blick von seiner Frau ab und richtete ihn auf den Torpfosten. Ihm war, als sei dieser einzig und allein bis zu diesem Augenblick erhalten worden, um ihn jetzt daran zu erinnern, daß er einem Geschlecht angehöre, das kein Unrecht duldete und sich zu rächen verstand.

Nachdem Sven Elversson die letzten Worte des Gedichtes vorgetragen hatte, sprachen die beiden am Tisch keine Silbe mehr miteinander. Sigrun stand rasch auf und ging ins Haus. Sven Elversson aber wanderte nach der entgegengesetzten Seite, durch die Fichtenhecke, an dem Torpfosten vorbei, hinunter an einen kleinen, glitzernden Teich; dort blieb er stehen und schaute ins Wasser hinab. Er war in einer Entfernung von wenigen Schritten an dem Pfarrer vorübergegangen, hatte ihn aber nicht gesehen.

Und der Pfarrer hatte das Gefühl, als müsse er den Mann, den Sigrun liebte, töten.

Das wäre ein leichtes gewesen. Er brauchte sich nur von rückwärts zu ihm hinzuschleichen und ihn ins Wasser zu werfen. Dieser Mann würde nicht einmal einen Versuch machen, sich zu verteidigen, das fühlte der Pfarrer deutlich. Er würde den Tod als einen willkommenen Gast begrüßen.

So vergingen ein paar gefährliche Augenblicke. Dann kam dem Erregten ein Gedanke, der ihn rettete. Gewiß hatte dieser Gedanke schon lange in der Tiefe seiner Seele geschlummert, aber erst jetzt stieg er herauf in sein Bewußtsein.

»Du hast einst diesen Mann aus deiner Kirche verstoßen, weil er sich an einem Toten vergriffen hatte; und du, der das tat, du willst dich jetzt an einem Lebenden vergreifen?«

Das war es, was ihn in dieser schweren Stunde zurückhielt. War das Leben nicht tausendmal unantastbarer als der Tod? Wie konnte er, der Sven Elversson nicht in seiner Kirche hatte sehen wollen, noch ein derart ungezügelter Mensch sein, um sich versucht zu fühlen, dem Leben eines Menschen ein Ende zu bereiten, eine Seele von ihrem Körper zu trennen, etwas zu begehen, dessen Tragweite kein Mensch kennt, das von Ewigkeit zu Ewigkeit Folgen haben kann?

Als er wieder einen Blick nach dem Teiche warf, wo Sven Elversson gestanden hatte, war dieser verschwunden.

Und nicht nur er war verschwunden, sondern auch der Torpfosten. Der Pfarrer glaubte später, er sei, während er gegen die Versuchung angekämpft hatte, zu dem Pfosten hingegangen, habe ihn mit allen seinen Stützen zu Boden geworfen; und der Pfosten, der durch und durch morsch und verfault gewesen war, sei lautlos umgefallen und habe nur ein Häufchen Staub hinterlassen.

Aber er wußte nicht recht, ob es sich so verhielt. Er glaubte auch, der Torpfosten habe in seiner eigenen Seele gestanden, und er sei die gewalttätige, eigenmächtige Natur seines ungezügelten Ichs mit allen ihren Stützen von ererbten Sitten, eingepflanzten Vorurteilen und alteingewurzelten Rechten gewesen, die jetzt eingefallen sei.

Denn daß sie wirklich eingefallen war, das fühlte er mit Erstaunen und freudiger Rührung.

Er fühlte es an der Flut sanfter Gedanken, die sich jetzt in seine Seele ergoß. Er fühlte es durch die Kraft vergebender Liebe, die ihn nun erfüllte. Er fühlte es an der Freude, die er plötzlich an seinem Beruf als Pfarrer empfand.

Er dachte an sein Leben: ja, er war ein Mann, der gleichzeitig das Feld bebaute und an den Seelen arbeitete, ein Hausvater und Hirt seiner Gemeinde, ein Herr und Meister und ein allen helfender Diener, und er glaubte erst jetzt diesen edelsten, größten und beglückendsten aller Berufe in Wahrheit zu lieben.

Und er war glücklich in dieser hellen Frühlingsnacht, während er allein über die öde, kärgliche, unschöne Hochebene in sein ärmliches Heim zurückfuhr.

Mit Verwunderung dachte er an das, was ihn erlöst hatte, nämlich nicht seine Liebe, auch nicht sein Beruf, sondern der Gedanke an die Hoheit und Heiligkeit des Lebens: dieser Gedanke, der langsam aus Sven Elverssons schwerem Schicksal emporgewachsen war und jetzt fest und klar und völlig reif dastand.

* * *

Als Sigrun am nächsten Morgen auf den Hofplatz hinaustrat, sah sie, daß Snoilskys Gedichte auf dem Gartentisch liegen geblieben waren, und sie ging hin, das Buch mit hineinzunehmen.

Doch als sie es aufhob, entdeckte sie, daß etwas zwischen den Blättern lag, und als sie nachschaute, was es sei, fiel ihr Blick auf einen kleinen Beutel aus gelbem Leder.

Er war gerade bei dem Gedicht hineingelegt worden, das von der Heimkehr des Kriegsgefangenen handelt, und er enthielt drei Ringe, zwei glatte Eheringe sowie einen anderen Ring, den Sigrun auch von ihrem Mann bekommen hatte, nebst ein paar anderen kleinen Schmuckstücken.

Sigrun wunderte sich und überlegte – allmählich begriff sie alles. Und von tiefer Rührung übermannt, fing sie an zu weinen.

So fand sie Sven Elversson.

Sie zögerte, ihm auf seine besorgten Fragen zu antworten. Endlich stieß sie schluchzend hervor:

»Eduard ist heute nacht hier gewesen, er hat unser ganzes Gespräch gehört! Er hat verstanden, daß ich dich liebe, und hat das für mich hier gelassen.«

»Mich liebst?« rief Sven Elversson. »Mich liebst?«

»Ja,« sagte Sigrun, »Eduard hat es gesehen, aber er zürnt mir nicht. Geliebter, er kommt nicht hierher und holt mich. Er will, daß ich hier bleibe und dein eigen werde!«

Im Laufe des Nachmittags kam Lotta Hedman nach Hånger, um im Auftrag des Pfarrers zu fragen, wie Sigrun nun alles geordnet haben wolle.

Und Lotta hatte sehr viel zu erzählen, unter anderem auch, daß sie in der vorhergehenden Nacht zum letztenmal den Hof Hånger in seiner ganzen altmodischen Schönheit vor sich habe auftauchen sehen. Sie habe die alte Hausmutter an ihrem Fenster erblickt und den Torpfosten und alles andere.

Aber plötzlich habe die Alte ihre Hände zum Himmel emporgehoben, und ihr Gesicht habe vor Freude gestrahlt.

Und eine Stimme habe laut verkündigt:

»Die Riesen von Hånger sind von ihrem Fluch erlöst!«

Und im selben Augenblick sei die alte Wächterin tot zu Boden gesunken, der Torpfosten sei umgefallen, ein Haus nach dem anderen sei eingestürzt, und da habe sie, Lotta Hedman, es gemerkt: jetzt war die endgültige Befreiung da, und nun werde ihr der Hof nie mehr erscheinen.


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