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Der Morgen

Als Sigrun erwachte, schien eine kleine rote Wintersonne zu ihr in die ärmliche Kammer herein, in der sie lag. Sie hatte nicht nur ein paar Stunden geschlafen, sondern die ganze Nacht hindurch, und nun hatte sie es sehr eilig, aufzustehen und das Zimmer in Ordnung zu bringen, damit sie ihres Weges gehen könnte.

Sie war vom Schlafe gestärkt, fühlte sich kräftig und entschlußfähig und war nicht unzufrieden mit dem Schritte, den sie getan hatte. Das einzige, was sie ängstigte, war die Furcht, entdeckt zu werden. Aber wenn sie nur von Hånger fortkommen konnte, ohne erkannt zu werden, dann, meinte sie, sei die Gefahr überstanden.

Wieder fand sie ein Brett mit Essen vor ihrer Tür, und dabei ein Papier mit ein paar Zeilen darauf:

»Wir nehmen an, daß du jetzt wieder bei uns bleiben willst, da der Scherenschleifer allein weggegangen ist. Du bist willkommen, zweifle nicht daran.«

Sigrun ging in das gegenüberliegende Zimmer und sah, daß der Scherenschleifer wirklich fort war. Das war schon eine Sorge weniger. Sie war jetzt ausgeruht und wollte viel lieber zu Fuß gehen, als mit ihm in seinem Schlitten fahren. Nun wollte sie sich bis zum nächsten Dorf, wo sie ein ordentliches Fuhrwerk bekommen konnte, durchfragen. Die nächste Eisenbahnstation konnte nicht sehr weit entfernt sein, und vor dem Abend war sie wohl schon in Göteborg.

Sigrun band sich das schwarze Tuch über den Kopf zog Lotta Hedmans Mantel an, ergriff ihre Tasche und wollte gehen.

Ehe sie jedoch das Zimmer verließ, machte sie die Tasche auf, um nachzusehen, ob das Geld und alles andere darin sei. Gleich darauf stieß sie einen Schreckensruf aus. Ihre siebenhundert Kronen waren verschwunden.

Sie griff in die Manteltasche und in die Kleidertasche. Das Geld war nirgends.

Ach, das Geld war gestohlen, das wurde ihr sofort klar. Der Scherenschleifer hatte es aus der Tasche genommen, als diese im Schlitten lag.

Sie mußte sich niedersetzen, um nicht umzufallen. Das war ein fürchterlicher Schlag für sie. Jetzt konnte sie nicht nach Amerika reisen. Alle Wege waren ihr verschlossen. Ach, du lieber Gott!

Sie legte den Kopf auf den Tisch und versuchte nachzudenken. Ja, sie hatte mit ihrem Reisegefährten gestern von dem Gelde gesprochen. Vielleicht hatte er gestern den ganzen Tag über nichts anderes nachgedacht, als wie er es ihr stehlen könnte. Mitten in seiner Müdigkeit und Erschöpfung hatte er doch an diesem Vorsatz festgehalten.

Und damit hatte er ihr auch das Weiterleben unmöglich gemacht.

»Es ist eine harte Welt für den, der sich arm und einsam in sie hinausbegibt,« sagte sie. »Eine harte Welt.«

Was über sie kam, war nicht eigentlich Reue; es war die Einsicht, wie vollkommen unmöglich es für sie war, ihren Vorsatz auszuführen.

»Ich könnte ja als Bettlerin auf die Landstraße gehen,« dachte sie. »Doch wozu würde das dienen? Ich habe mein Heim nicht verlassen, um eine Abenteurerin zu werden.«

Aber ebenso unmöglich erschien ihr eine Rückkehr. Sollte sie ihrem Mann bekennen, daß sie sich für tot ausgegeben hatte, um von ihm loszukommen? Das war unmöglich, war gar nicht auszudenken.

Sie wußte, daß sie sich für den Augenblick bei guten Menschen befand. Sollte sie diese um Hilfe bitten? Aber es war immer dieselbe Geschichte; es bedeutete soviel, als ihre Betrügerei und ihre Schande zu bekennen. Und diese redlichen Menschen würden sich genötigt sehen, ihren Mann sofort wissen zu lassen, daß sie noch lebe.

»Das gestern war keine Augentäuschung,« dachte sie. »Es war wirklich der Tod, der neben mir auf dem Schlitten saß. Er gibt niemand mehr frei, der sich einmal in seine Macht gegeben hat.«

»Aber er ist kein harter Herr,« fuhr sie in ihrem unruhigen Gedankengang fort. »Er hat die Bande, die mich ans Irdische fesselten, auf sehr milde Weise gelöst. Warum sollte ich mich ihm nicht anvertrauen?«

Mindestens eine Stunde lang saß sie so am Tisch und suchte sich mit dem Todesgedanken vertraut zu machen.

»Gott wird mir gnädig sein,« dachte sie. »Er weiß alles. Er weiß, daß ich niemand ein Leid antun wollte. Er weiß auch, daß dies der einzige Ausweg ist, der mir offen steht.«

In diesem Augenblick trat jemand ins Zimmer herein; aber Sigrun blieb sitzen, ohne sich zu rühren. Jetzt war es ihr vollkommen gleichgültig, wer sie sah. Ihr Entschluß war gefaßt, und sie wußte, welchen Weg sie gehen wollte.

Immer noch lag sie über den Tisch gebeugt, mit dem Gesicht in den Händen da und konnte darum den Eintretenden nicht sehen. Am Schritt erkannte sie indes, daß es ein Mann, und zwar nicht ein alter, sondern ein junger Mann war.

»Es ist Sven Elversson selbst,« dachte sie.

Sie hörte, wie er auf sie zukam, dann aber plötzlich wieder zurücktrat. Er ging an den Herd, machte Feuer an und trat dann wieder an den Tisch, an dem sie saß.

»Fällt es dir denn gar so schwer, Rut?« sagte er. »Soll ich dir nicht ein paar von den Kindern schicken? Gibt es denn hier gar nichts, zu dem du gerne zurückkehrst?« Als er das sagte, hob sie ihr Gesicht vom Tisch auf und schaute ihm mit einem starren, verzweifelten Blick in die Augen.

»Ich bin nicht die, für die Sie mich halten,« sagte sie. »Ich bin Sigrun Rhånge, die mit dem Pfarrer in Algeröd verheiratet ist.«

Sven Elversson wich ein paar Schritte zurück. Aber er hatte sich so sehr daran gewöhnt, Gelassenheit zu zeigen, was für Nachrichten er auch erfahren mochte, daß er nicht einmal einen Ausruf des Erstaunens hören ließ. Er wurde nur totenblaß. Aber seine Verwirrung war doch sehr groß, und das zeigte sich in der Art, wie er laut zu denken anhub.

»Sigrun Rhånge ist tot,« sagte er. »Sie ist gestern nacht gestorben. Als ich hörte, daß sie tot sei, fuhr ich nach Algeröd, um sie noch einmal zu sehen, allein es war zu spät. Sie war schon eingesargt und ins Grab gelegt.«

Sigrun saß still da und starrte Sven Elversson an. Es lag eine feierliche Trauer in seinen Worten, die sie beinahe rührte. Sicherlich hatte er nicht einmal eine Ahnung davon, daß er laut gesprochen hatte.

»Ach ja, wenn es nur so wäre!« sagte sie als Antwort auf seine Gedanken. »Wenn Sigrun Rhånge nur wirklich tot und begraben wäre!«

»Sigrun Rhånge ist tot,« wiederholte er leise und eintönig, außerstande, sich zurechtzufinden. »Auf dieser Erde werde ich sie nie mehr sehen.«

»Ja, Sigrun Rhånge ist tot. Das kann man wohl sagen,« stimmte sie bei. »Aber ich, ich Unglückliche, ich lebe noch.«

Etwas in ihm, das die wahre Sachlage schneller erfaßt hatte, als sein Verstand, hatte indessen sein Herz in stürmische Bewegung versetzt. Seine Wangen bekamen Farbe, und seine Augen fingen an zu leuchten.

Jetzt trat er zu ihr, ergriff ihre Hand und behielt sie in der seinen. Die andere Hand strich ihr mit einer hastigen, unwillkürlichen Liebkosung über die Wange. Man möchte sagen, er suchte sich zu überzeugen, ob es wirklich ein lebendes Wesen sei, mit dem er es zu tun hatte.«

»Sie leben!« sagte er, und seine Stimme erhob sich wie zu einem Jubelruf, um gleich darauf wieder zu sinken und gedämpft und mild zu werden. »Sie sitzen in meinem Hause? Wie soll ich das fassen und begreifen können?«

In seiner ganzen Art, sich zu geben, war vieles, was Sigrun verwunderte, aber zugleich flößte es ihr auch etwas Mut ein. Sie war wenigstens nicht zu jemand gekommen, der ihr Unglück mit kalter Gleichgültigkeit betrachtete.

»Das war schön, was Sie heute morgen Ihrer Frau geschrieben haben,« sagte sie mit bebender Stimme. »Und ich habe immer sehr viel Gutes von Ihnen gehört. Wollen Sie mir beistehen? Ich bin in der größten Not, in die ein Mensch nur geraten kann.«

Die Tränen stürzten ihr aus den Augen. Sie war so verzweifelt, hatte Hilfe so außerordentlich nötig, daß sie sich vor ihm auf die Kniee warf.

Er half ihr nicht sofort wieder auf. Dafür legte er ihr auf jede Schulter eine Hand und beugte sich tief über sie, bis sein Gesicht ganz dicht an dem ihren war.

»Sie haben mir einmal geholfen, als ich mich in höchster Not befand. Meinen Sie, ich wäre nicht froh, Ihnen das tausendmal tausendfach vergelten zu können, wenn es in meiner Macht stünde?«

Aber nach diesem Gefühlsausbruch wurde er plötzlich ganz ruhig; er verließ sie, faßte nach einem Stuhl und zog ihn an den Tisch heran.

»Wollen Sie mir nicht erzählen, wie das alles so gekommen ist?«

Sie stand aufrecht neben ihm und fing zögernd an:

»Ach, da ist sehr viel zu sagen. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.« Sie war nahe daran, in Tränen auszubrechen, aber sie bekämpfte ihre Erregung. – »Wir sind nicht gerade sehr glücklich gewesen in unserer Ehe, mein Mann und ich,« fügte sie hinzu.

Er schien gar nicht zu merken, daß sie stand, während er saß, dagegen begriff er, wie sehr ihr Hilfe not tat, wenn sie ihre Erzählung fortsetzen sollte.

»Meine Frau war auch nicht glücklich,« sagte er.

Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und beugte sich vor, bis er mit der Hand seine Augen beschatten konnte.

Sigrun verstand, daß er sie ermuntern wollte, fortzufahren.

»Die Leute haben wohl über uns geredet,« sagte sie. »Wenn Sie gestern in Algeröd gewesen sind, haben Sie vielleicht die Geschichte von unserem Kostgänger gehört ...«

»O ja,« sagte er, »die hab' ich gehört und noch mehr dazu. Aber es war kein böser Wille in der Erzählung. Nur Kummer, nur Kummer.«

Das sagte er beinahe schluchzend. Von neuem fühlte er den heftigen Schmerz. Es verursachte ihm eine unbeschreibliche Pein, auf diese Weise mit ihr zu reden, da es sein einziger Wunsch war, seinen Kopf auf ihr Knie zu legen und ihr von dem Leid erzählen zu können, das ihm gestern den ganzen Tag über das Herz zerrissen hatte, sowie auch von dem Schmerz, den er heute morgen empfunden, als die Eltern ihm mitteilten, seine Frau sei zurückgekehrt, gerade jetzt, wo sein Herz nichts weiter verlangte, als um eine andere trauern zu dürfen.

»Und es war niemand da, der an meinem Tod gezweifelt hätte?« fragte Sigrun.

»Nein,« antwortete er. »Kein Mensch zweifelte daran, daß Sie es sind, die an den schwarzen Blattern gestorben war.«

Jetzt ergriff Sigrun hastig Sven Elversson am Arm.

»Und Sie wissen nicht, wer gestorben ist? Das muß ...«

Er blieb mit offenem Mund vor ihr stehen, und sie wagte nicht, ihren Satz zu vollenden.

»Ist es meine Frau?« fragte er endlich.

»Ja,« sagte sie. »Ich glaube ... es muß Ihre Frau sein.«

Er sagte kein Wort, aber er stand auf und wanderte einmal im Zimmer hin und her.

Jetzt sank Sigrun ihrerseits auf einen Stuhl nieder. »Der Tod will mich nicht fahren lassen,« dachte sie. »Als ich Sven Elversson bat, mir zu helfen, hatte ich vergessen, daß die Tote seine Frau gewesen ist.«

Sie weinte still in ihr Taschentuch hinein. Die eigentümliche Todesstimmung senkte sich von neuem über sie.

Aber nach wenigen Sekunden saß Sven Elversson wieder in derselben Stellung am Tische wie vorher.

»Nun müssen Sie mir alles erzählen,« sagte er.

Sie tat, wie er gebot, und erzählte ihm alles, was geschehen war, von dem Augenblick an, wo die Verstorbene ins Brauhaus getreten war, bis zu dem jetzigen Augenblick, wo Sigrun im Landstreicherhaus auf Hånger saß.

Mit ganzer Seele hörte er ihr zu und war voll Kummer über die verzweiflungsvolle Tat, die sie getan, und über alles Elend, das sie über sich gebracht hatte. Er sah besser ein als sie selbst, daß sie sich, so wie sie nun einmal war, alle Pfade des Lebens verschlossen, und sich, sofern sie in dieser Welt bleiben wollte, selbst zu beständiger Unruhe, beständiger Angst, beständiger Reue, beständiger Selbstverachtung verdammt hatte.

Aber mitten in seinem Kummer und in seinem tiefen Mitleid konnte er doch eines nicht ändern: etwas in ihm jubelte und wiederholte immer wieder:

»Sie lebt noch, und sie ist zu dir gekommen. Sie sitzt neben dir und spricht. Was hat alles andere zu bedeuten neben dem einen, daß sie noch lebt?«

Sigrun hatte schon lange zu reden aufgehört, Sven Elversson saß schweigend da und sann nach, was er sagen und was er tun sollte. Und während seines Schweigens fühlte er eins deutlich: ein Mann wie er konnte nichts anderes tun, als sie wieder ihrem Manne zuschicken. »Dieser Mann läßt sich nicht zu einer tadelnswerten Handlung hinreißen,« dachte er.

»Das alles ist ganz unnötig gewesen,« sagte Sigrun zu sich selbst. »Es hilft gar nichts; der Tod gibt mich nicht frei.«

Mutig schaute sie ihrem Schicksal in die Augen. Und sie versuchte nicht, dadurch auf Sven Elversson einzuwirken, indem sie ihm mitteilte, welchen Entschluß sie gefaßt hatte.

»Ja, das war sehr viel,« sagte er und wunderte sich selbst darüber, daß er jetzt zu Sigrun in demselben Ton sprach, wie zu seinen anderen Schützlingen. »Aber eins ist mir sofort klar geworden, Sie dürfen nicht in der Welt umherziehen und Ansteckung verbreiten. Vorerst müssen Sie hier auf Hånger bleiben.«

Sie sah ihn an. Das war so einfach. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Es war ein Aufschub von einigen Tagen. Der Todesgedanke wich zurück.

»Ich habe nur meinen Vater und meine Mutter bei mir,« sagte er, »und sie fürchten sich wohl nicht sehr vor der Ansteckung. Allerdings, wir haben auch einige fremde Kinder bei uns. Die muß ich hinunter ins Dorf bringen. Und die Herberge hier müssen wir für einige Zeit schließen. Sie müssen ins Wohnhaus übersiedeln und eines unserer Gastzimmer bewohnen.«

»Und dann?« fragte sie mit beinahe rauhem Ton.

Er neigte den Kopf und versuchte nachzudenken, denn da er sie liebte, las er in ihren Gedanken und wußte, daß für sie von seiner Antwort Leben und Tod abhing.

Er hatte nicht die Kraft, etwas anderes zu sagen, als:

»Das steht in Gottes Hand.«

»Ich kann sie nicht zur Verzweiflung treiben,« dachte er. »Aber ihr eigener Sinn kann sich ändern. – Die Liebe zu ihrem Mann kann neu erwachen. Es wird noch alles recht werden, dessen bin ich sicher.«

Sigrun hatte nur einen Aufschub erhalten, das verstand sie wohl, aber jedenfalls atmete sie erleichtert auf.

»Sehen Sie, ich denke so,« sagte er. »Es ist nicht recht, zu lügen und etwas zu verhehlen. Das ist es gewiß nicht. Aber es geht auch nicht an, einen Menschen zu Tode zu quälen. Nein, das geht auch nicht an. Indes, das Herz kann sich ändern, oder besser gesagt, es kann wieder werden wie vorher. Dann geht das, was jetzt schwer ist, von selbst. Wollen Sie mir das glauben?«

Sie schüttelte heftig den Kopf, sagte aber kein Wort.

»Ach doch, wir nehmen es einmal an, wir nehmen es einmal an,« fuhr er fort. »Aber nun müssen Sie mir erlauben, dies alles meinem Vater und meiner Mutter mitzuteilen. Sie gehören nicht zu denen, die mehr reden, als sie sollten. Und nun wollen wir das alles nicht zu traurig und zu schwer nehmen. Wir wollen denken, es wird alles wieder zurecht kommen.«

Ihr kam es vor, als ob er nur Scherz mit ihr treibe. Seine Art hätte sie an einem anderen Tage gereizt, jetzt aber war sie unbeschreiblich beruhigend und wohltuend. Ihr war, als habe dieser Mann alle ihre Kümmernisse und ihr Unglück auf sich genommen und trage sie nun an ihrer Statt.


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