Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Riesen von Hånger

Ach, man darf gewiß nicht denken, es sei ein übernatürlicher Einfluß gewesen, der sich geltend gemacht hatte! Aber für den, der einmal die leise flüsternden Stimmen geliebter Toten in seinen Ohren gehört oder gefühlt hat, wie während eines schweren Kummers, über dem das Herz beinahe brechen wollte, eine Woge sanfter Gedanken durch die Seele strömte, oder wer im Nebel der Müdigkeit versunken gefühlt hat, wie die weichste der Hände die versagende Schreibfeder doch weiter ihrem Ziel zuführte, dem wird es schwer zu bestreiten, daß an diesem Tage Scharen von Unsichtbaren den Unglücklichen umgaben, der über die weite, kahle Hochebene hinfuhr.

Denn so verraten und verletzt, so betrogen und gedemütigt er sich auch fühlte, so gerne sich auch seine Gedanken um Rache und Strafe drehen wollten, so wurden sie doch immer wieder auf ein anderes Gebiet gelenkt, das sie anscheinend mit größerer Macht lockte.

Und was seine Gedanken so gefangen nahm, das war Hånger, der nie gesehene Hof seiner Vorfahren, der mit seinen roten Häusern hoch oben im Grenzwald lag, mit der Aussicht über eine Landschaft, die zehn lange Bergrücken, zehn hohe Berggipfel, zehn glitzernde Seen, zehn Kirchspiele umfaßte, aber kaum zehn Bauernhöfe aufwies.

Ihm war noch niemals der alte Hängerhof mit dem Torpfosten, dem Abhang mit den Apfelbäumen und der Stube in dem Keller erschienen, so wie er sich zuweilen anderen seines Geschlechtes zeigte. Aber eine Zaubermacht hatte er doch auf ihn ausgeübt. Und in Gedanken wurde er nun zurückgeführt in seine Kinderzeit, wo er davon geträumt hatte, derjenige zu sein, der den auf dem Hångergeschlechte lastenden Fluch lösen würde.

Er erinnerte sich genau, wie er es sich gedacht hatte: Da sich die Familie den Fluch durch den Mord eines Geistlichen zugezogen hatte, so würde er auch wieder von ihr genommen werden, wenn einer von den Hångerleuten Geistlicher und ein heiliger Mann Gottes würde.

Später als Jüngling und als Mann hatte er allerdings diese Gedanken fallen lassen, aber sie hatten dennoch seinem Leben die Richtung gegeben.

Als er zu studieren angefangen hatte und ihm alles wohl gelang, hatte er aufgehört zu glauben, daß ein besonderes unglückseliges Geschick der Männer seines Geschlechtes warte. Das kam alles nur von einer schweren und unlenksamen Gemütsart und einer schwermütigen Angst, sie dürften ihr Eigentum nicht behalten. Vor einem, der klug war und sich beherrschte, würden die Selbstmordgedanken schon weichen. »Ich werde der sein, der beweist, daß ein Rhånge von Hånger sterben kann wie andere Leute,« hatte er zuweilen gedacht. »Und dadurch werde ich jedenfalls dem alten Aberglauben ein Ende machen.«

Es war ihm auch wirklich gelungen, allen Jugendverführungen zu widerstehen, sich selbst zu beherrschen und ein tadelloses Leben zu führen, ausgenommen in dem Verhältnis zu seiner Frau.

Plötzlich fuhr er auf, wie aus einem Traum erwacht. Einige Augenblicke war er weit weg gewesen von seinem Unglück, jetzt aber, wo er an seine Frau dachte, überfiel es ihn wieder in seiner ganzen Gräßlichkeit. Gerade darum, weil er Geistlicher war und ein tadelloses Leben führen wollte, empfand er die kommende Schande, das Gerede und die Lächerlichkeit wie Knutenhiebe.

»Es wäre besser gewesen, wenn sie niemals zurückgekommen wäre,« dachte er in seinem Grimm. »Sie hat mich daheim unmöglich gemacht. Wir werden auswandern müssen, das sehe ich wohl ein.«

Aber merkwürdig, seine Gedanken wendeten sich bald wieder von seiner Frau ab und beschäftigten sich wieder mit dem alten merkwürdigen Hofe.

Sein Vater war es gewesen, der ihm von Hånger erzählt hatte, und er hatte ihm noch von vielem anderen, als nur von Mord und Strafurteilen zu erzählen gehabt.

Daß niemand wisse, woher die Hångerleute stammten, hatte der Vater seinem Sohne berichtet. In dem Kirchspiel, auf dessen Markung der Hof lag, waren einstens plötzlich fünf Brüder aufgetaucht, alle große, starke, schöne Männer, aber von unbekanntem Geschlecht und aus unbekanntem Lande, die auch eine unbekannte Sprache redeten.

Man hatte geglaubt, es seien die Abkömmlinge eines Riesen und eines in den Berg entführten Mädchens; und wahrlich, ihre Wildheit und Streitlust, ihr Mut und ihre Schlauheit, ihre Sonderbarkeiten und ihre unbeugsame Sinnesart, und vor allem das Glück, das sie beim Erwerb von Geld und Gut hatten, ließen diese Annahme gar nicht unglaublich erscheinen.

Diese Männer, die als arme Dienstknechte in die Gegend gekommen waren, hatten sich in wenigen Jahren zu Herrenleuten aufgeschwungen, zuerst auf Hånger, wo der älteste von ihnen saß, und später noch auf vier anderen Bauerngütern.

Es tat dem Pfarrer wohl, an seine Vorfahren zu denken. Sie waren nie gewesen wie andere Bauern. Sie hatten sich prächtig gekleidet und eine stolze Haltung gehabt. Sie hätten Herren sein können, allein danach hatten sie nie gestrebt. An diesem Nachmittag hatte der Pfarrer etwas nötig, was ihm das Selbstgefühl stärkte, und er richtete sich ein wenig an dem Gedanken auf, daß er einem reichbegabten und berühmten Geschlecht angehörte.

Genau betrachtet war er diesen Vorfahren vielleicht gar nicht so unähnlich. Lotta Hedman hatte ihn mit einem Riesen verglichen und ihn daran erinnert, daß er von einem Geschlecht wilder Männer abstamme.

Wie, wenn er nicht Geistlicher gewesen wäre, und wenn sich der Kraftmensch in ihm nicht jederzeit selbst in Zucht gehalten hätte!

Er dachte an jenen Abend, wo er den fliehenden Amtsrichter gejagt hatte, damals war es wohl das alte Riesenblut gewesen, das sich in ihm regte.

Wieder waren seine Gedanken zurückgekehrt zu seinem Heim und zu seiner Frau. Wieder empfand er einen qualvollen Seelenschmerz. Er dachte daran, wie ihm das ganze Frühjahr hindurch Kummer und Gewissensbisse das Herz zerrissen hatten. Aber wie peinvoll diese Qual auch gewesen war, so war es doch noch viel bitterer, zu wissen, daß Sigrun ihn kaltblütig und ohne zwingenden Grund zu dieser Qual verurteilt hatte. Und doch, das Bitterste und das Schlimmste war noch etwas anderes: daß sie sich bis zum Betrug erniedrigt, sich auf eine so unheimliche Art von ihm freigemacht, sich einem elenden Landstreicher anvertraut hatte und zuletzt in die Hände eines solchen Menschen, wie Sven Elversson, gefallen war, eines Menschen, den er selbst aus seiner Kirche verbannt hatte, das machte die Schande vollkommen.

»Da ist sie gerade an den Rechten gekommen,« dachte er. »Sie eine Verstorbene, und er ein Verfemter, der sich nicht unter den Menschen sehen lassen darf.«

Aber von diesem rasenden Schmerz hinweg wurden seine Gedanken zu dem Bauerngut seiner Vorfahren zurückgeführt.

Über die baumlose Hochebene hin, durch die er fuhr, sauste scharf und schneidend der Westwind, der starke Meereswind.

»Hier oben ist es sehr kalt,« dachte er, »aber sicherlich ist es jenseits des Berges besser. Auf Hånger, das geschützt am östlichen Bergabhang liegt, ist es an so einem Abend gewiß warm und frühlingsmäßig.«

Jetzt waren seine Gedanken wieder bei den Vorfahren.

Allen war ein gewisser besonderer Zug eigen gewesen, durch den sie sich von ihrer Umgebung unterschieden.

Einer von ihnen hatte ein Pferd gehabt, das er über alles liebte, und man sah ihn selten anders als hoch zu Pferd. Er tat seine Arbeit und genoß sein Vergnügen zu Pferd, und zuletzt war er eines schönen Sonntags in die Kirche hineingeritten und hatte begehrt, das Abendmahl auf dem Pferde zu empfangen.

Beim Gedanken an diesen sonderbaren Auftritt zuckte ein schwaches Lächeln über das Gesicht des Pfarrers. Es hatte ihm früher öfters Vergnügen gemacht, sich jenen Auftritt vorzustellen, doch hatte er diese Überlieferung nie im Ernst geglaubt, sondern sie für eine Erfindung und Dichtung gehalten.

Dieser Pferdemensch hatte einmal einen Zwist mit seiner Frau gehabt. – »Man sollte hie und da auch einmal seinen Verstand zu Wort kommen lassen und nicht nur auf seine Kraft pochen,« hatte die Frau gesagt. Aber der Mann war böse geworden, hatte sie ergriffen und sie rittlings auf den Firstbalken gesetzt. – »Jetzt hat dich meine Kraft da hinaufgesetzt,« sagte der Mann. »Versuch nun, ob dir dein Verstand wieder herunterhilft!«

Es war vielleicht nicht immer ganz leicht gewesen, mit einem der alten Hångerriesen verheiratet zu sein. Sie waren Gewaltmenschen gewesen, eifersüchtig und eigensinnig. Ungewöhnlich tüchtig und kraftvoll, gastfrei und großzügig waren sie gewesen, dazu noch mit einer Art von grober Scherzhaftigkeit behaftet, die angreifender werden konnte als vieles andere.

Einer von ihnen hatte den Vogel gehabt, er müsse alles paarweise besitzen. Es durfte nicht nur eine Uhr im Zimmer stehen, sondern gleich zwei. Kein Zimmer durfte nur ein Fenster haben, es mußten zwei oder vier oder sechs sein. Zwei Schornsteine, zwei Tore, zwei Scheunen, zwei Tennen. Niemals nur ein Knecht oder eine Magd, sondern stets zwei oder vier. Man hätte es ja für eine unschuldige Marotte erklären können, aber er war nahe daran gewesen, ganz Hånger mit Umbauten und Veränderungen zugrunde zu richten.

Im Stall wollte er ebenso viele Stiere wie Kühe haben, und von seiner Frau hatte er verlangt, sie solle ihm immer abwechselnd einen Jungen und ein Mädchen gebären, und so weiter in schöner Ordnung. Und wenn sie nicht tat, was er wollte, war mit ihm nicht zu spaßen.

Wieder lächelte der Pfarrer. Nein, es war nicht immer angenehm, auf Hånger Hausfrau zu sein.

Da war einer unter ihnen gewesen, der unaufhörlich sang. Er kam singend zur Kirche, fuhr singend wieder davon, sang seine Antworten, wenn er angeredet wurde, sang, wenn er sich zu Bett legte und wenn er aufstand.

Aber trotz seines Singens war er ein ungerechter und harter Mann gewesen, und bei ihm war auch jenes Unglück geschehen. Er hatte versucht, die Witwe seines Bruders bei einer Erbschaft zu verkürzen, aber seine eigene Frau hatte den Betrug entdeckt und den Pfarrer gebeten, nach Hånger zu kommen und mit ihrem Manne darüber zu reden. Ihr Mann jedoch hatte gemeint, es handle sich um etwas anderes, wilde Eifersucht loderte in ihm auf; auf dem Heimweg war er über den Pfarrer hergefallen und hatte ihn erschlagen.

Jawohl, was Pfarrer Rhånge vorhin gesagt hatte, war doch richtig: Es war nicht immer sehr angenehm gewesen, mit einem der Männer auf Hånger verheiratet zu sein.

Aber trotz alledem hatte sich niemals eine von ihren Frauen für tot ausgegeben, um von ihrem Unglück freizukommen!

Er lachte kurz und hart auf. Man könnte wirklich meinen, er sei der Schlimmste von allen. Sonst hätte seine Frau doch nicht zu einem so verzweifelten Mittel greifen müssen.

Und was hatte sie ihm denn vorzuwerfen? Nichts als ein Übermaß von Liebe. Er hatte nichts anderes von ihr begehrt, als daß sie ihm angehören solle, ihm ausschließlich, ihm ganz allein.

Aber wie, wenn nun das eine allzu schwere Forderung gewesen wäre? Wenn das schwerer zu erfüllen gewesen wäre, als eine von den verrückten Forderungen der Alten? Kann ein Mensch verlangen, einen anderen ganz vollständig zu eigen zu haben? Nicht nur seine Liebe, sondern auch alles andere?

Dem Pfarrer fiel ein, daß ihm Sigrun wie ein Wesen von anderer Art als andere Menschen vorgekommen war, daß sie ihm eine Natur für sich zu haben schien, der sie indes niemals Ausdruck zu geben vermocht hatte.

Und Sigruns innerste Natur, das wußte er, war Barmherzigkeit. Gutes tun dürfen, sich für andere aufopfern, Kranke pflegen, das war das Verlangen ihrer Natur gewesen; aber er hatte sich dem widersetzt. Er hatte dieses Bedürfnis nicht ertragen. Er wollte sie allein besitzen, konnte nicht teilen.

Und das, was geschehen, was ihm kürzlich erst so abscheulich vorgekommen war, vielleicht war das nichts anderes gewesen, als was notwendig geschehen mußte. Es war die zusammengedrückte Stahlfeder, die im selben Augenblick aufgesprungen war, wo der Druck nachgelassen hatte.

»Sigrun ist die Barmherzigkeit,« dachte er. »Das ist die ihr gestellte Aufgabe. Das hätte ich verstehen müssen.«

Diese plötzliche Einsicht in seinen eigenen Fehler tat ihm wohl. Sigrun kam ihm nicht mehr so tief gesunken vor, so unfaßlich hart und lieblos.

Er wälzte diesen Gedanken hin und her.

»Ja gewiß, darum sind wir niemals glücklich gewesen. Ich habe sie gehindert, das zu werden, was in ihrer Natur beschlossen war.«

Aber plötzlich war die alte Qual wieder da.

»Dieser Sven Elversson paßt besser zu ihr als ich,« dachte er. »Auch er eignet sich für die Werke der Barmherzigkeit. Darum ist sie auch bei ihm.«

Bisher hatte er nicht mit Eifersucht an Sven Elversson gedacht.

»Sigrun weiß, was er getan hat,« hatte er sich gesagt. »Sie kann ihn unmöglich lieben.«

Aber nun kam ihm alles zusammen mehr als verdächtig vor. Warum hatte Sven Elversson ihm nicht sofort Mitteilung davon gemacht, daß Sigrun nach Hånger gekommen war? Liebte er sie und hatte er gehofft, sie für sich zu behalten?

Mitten in seinem Zorn überkam ihn jedoch einer von den Gedanken, die hier in der Einöde in der Luft zu schweben schienen, ein Gedanke, der die Seele des Unglücklichen wie ein milder Sommerregen erquickte.

»Hast du denn eigentlich ein Recht, Beistand und Hilfe von Sven Elversson zu erwarten?« fragte der Gedanke.

Und der Pfarrer gedachte daran, wie er sich an Sven Elversson vergangen, ihm das Leben zerstört und ihn zu namenlosem Elend verurteilt hatte.

Da fiel sein eigenes Schuldgefühl auf eine eigene Art lindernd und kühlend auf seinen Zorn über das, was der andere an ihm verbrochen hatte. Es war wie ein heilender Trank in einem schweren Fieber.

Er erweckte Demut und Besinnung in seinem Gemüt.

Er fühlte sich nicht mehr als der Rächer, der alle Gerechtigkeit auf seiner Seite hat.

Er war bereit, nicht zu vergeben, aber doch genau zu untersuchen und zu prüfen, ehe er sein Urteil fällte.


 << zurück weiter >>