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Der lange Tag

Der Tag, der mit Sigruns Flucht begonnen hatte, wurde für viele ein schwerer und ernster Tag, ein Tag, so lang, daß man meinte, er wolle nie ein Ende nehmen.

Lang wurde dieser Tag für Lotta Hedman, die, als sie morgens um drei Uhr ins Brauhaus zurückkam, dort alles unverändert vorfand und sich nun, so gut sie es verstand, auf das vorzubereiten suchte, was kommen mußte. Sie suchte alle Kleider der Toten zusammen, stopfte sie in den Backofen, warf einen Arm voll Holz darauf, zündete an und ließ alles zusammen zu Asche verbrennen. Dann wusch sie den Ofen rein und zog die Vorhänge vor, so daß alles genau wieder so aussah wie am vergangenen Abend.

Sie schaute auch schaudernd und bebend in die Brauhauskammer zu der Toten hinein. Sonst fürchtete sie sich zwar nicht vor den Abgeschiedenen, aber sie meinte, sie und Sigrun hätten sich an dieser hier schwer vergangen, und sie zitterte, wenn sie sich ihr nahte. Dennoch führte sie aus, was sie sich vorgenommen hatte: sie nahm ein Bettuch und breitete es über die Leiche, so daß diese vollständig verhüllt war, und sprach dann mit Andacht und Rührung ein Gebet.

In diesem Gebet fand sie großen Trost. Die Gewißheit, daß diese Tote keine Feindin von ihr und ihrer Herrin war, durchströmte wie eine Woge ihr ganzes Wesen, nein, keine Feindin, sondern ihre getreueste Helferin und Verbündete, vor der sie durchaus keine Furcht zu haben brauchte.

Lotta suchte sich auch auf das vorzubereiten, was sie dem Pfarrer und den Dienstboten sagen wollte. Sie dachte daran, daß am verflossenen Tag niemand Sigrun gesehen hatte, sie konnte ihnen also sagen, die Krankheit habe schon in der vorletzten Nacht ihren Anfang genommen. Sigrun habe ihretwegen nicht nach dem Arzt schicken lassen, sie habe den Ausschlag für ganz ungefährlich gehalten. Und weiter, ja, was sollte sie weiter sagen?

Lotta ging eine Weile sinnend auf und ab. Bald aber fühlte sie sich allzu matt und mutlos, um noch weiter hin und her zu wandern, und sie setzte sich auf einen Stuhl. Aber auch ruhig sitzen zu bleiben vermochte sie nicht mehr; sie stand auf und lehnte sich an die Wand. Schließlich sank sie dicht neben dem Bett der Toten auf den Fußboden nieder und blieb da sitzen.

»Eigentlich sollte ich zum Herrn Pfarrer gehen,« dachte sie. »Ich sollte die Dienstboten wecken.« Aber sie tat weder das eine noch das andere. Sie blieb ruhig sitzen, wiederholte sich immer wieder ihre Erklärungen und drehte sie in Gedanken hin und her.

»Auf die eine oder die andere Weise kommt doch alles an den Tag,« dachte sie. »Wir kommen in Unglück und Schande, Sigrun und ich. Es ist entsetzlich, hier darauf warten zu müssen.«

Eine Weile wurde ihr doch eine große Linderung zuteil, die sie ihren Sorgen und Kümmernissen entrückte.

Während sie so angstgequält neben der Toten auf dem Fußboden saß, trennte sich ihre Seele von dem Körper, erhob sich und schwebte im Flug durch den Weltraum.

Bald war sie so hoch gestiegen, daß Lotta Hedman die irdischen Dinge in ihrem Zusammenhang überschauen konnte. Sie sah jetzt nicht wie sonst nur ein kleines Stück davon, sondern erschaute sie in ihrer ganzen Ausdehnung. Sie sah nicht nur ein kleines Stück von Flüssen und Bächen, sondern konnte dem Wasserlauf von der Quelle bis zur Mündung folgen. Sie sah nicht nur ein kleines Stück eines Waldes, sondern erblickte die gewaltigen Baummassen in ihrer ganzen Ausdehnung. Und die Bergrücken konnte sie in ihrer ganzen Länge verfolgen. Die Ebenen breiteten sich unter ihr aus, und die Gestalt der Länder zeichnete sich von der blanken Meeresfläche ab.

Lotta deuchte dies ein schönes und erhebendes Schauspiel zu sein, aber ihre Seele blieb nicht dabei stehen, sondern erhob sich noch höher.

In wenigen Augenblicken war sie in einem Raum angelangt, von wo aus sie die Schicksale der Menschen in ihrem Zusammenhang überschauen konnte. Lotta konnte die Wanderschaft der Menschen durch das Tal des Lebens verfolgen. In einer Spanne Zeit, die ihr kürzer als Sekunden deuchte, ging das vor sich. Sie sah die Menschen ins Leben treten, sah sie ihren kurzen Weg zurücklegen und wieder hinaustreten ins Unbekannte. Sie sah ihre Freundin Sigrun auf ihrer Wanderung, sah den Weg, der abgesteckt vor ihr lag, und andere Pfade, die ihn kreuzten.

Sie sah auch den Weg, den die Frau, die jetzt tot neben ihr lag, hatte gehen müssen. Es war ein finsterer, armer und schwerer Weg, und er war schon am Verschwinden, aber er verschwand nicht so, daß er sich mit Finsternis bedeckt hätte, nein, er verschwand im Licht.

Am Ende ihres Weges stand noch die Tote und schaute auf ihre Laufbahn zurück, die sich in ein lichtes Band verwandelte, und Lotta erkannte, daß die Seele der armen Wandrerin sich freute.

Die Tote deutete hinüber auf Sigruns Pfad und auf einen der Wege, die ihn kreuzten.

»Sieh her!« sagte sie zu Lotta. »Was ich am innigsten gewünscht habe, das geht durch meinen Tod in Erfüllung.«

Damit verschwand die Tote in einer leuchtenden Helle, deren Glanz so groß war, daß Lotta Hedmans Seele ihr nicht zu folgen vermochte, sondern zurückbleiben mußte

In demselben Augenblick kehrte Lotta Hedmans Seele in ihren Körper zurück; Lotta fühlte sich nun für eine Weile aller Furcht ledig, und sie meinte, was sie geschaut habe, werde und müsse also geschehen.

Diese Seelenruhe verblieb ihr auch, bis sich die Tür des Brauhauses öffnete und jemand fragte, ob sie wisse, daß es schon halb acht Uhr sei.

Da wollte Lotta Hedman sich erheben, aber jetzt war ihre Ruhe verschwunden. Sie dachte an all das Schwere, dem sie jetzt entgegenging, und sie vermochte nicht auf die Beine zu kommen, sondern mußte sitzen bleiben.

Die Tür wurde wieder zugemacht, niemand kam herein, ein paar Minuten vergingen noch in Ruhe.

»Jetzt wird bald alles entdeckt,« dachte Lotta. »Anders ist es ja gar nicht möglich.«

Und alle Schande, die über sie und Sigrun kommen mußte, legte sich wie eine schwere Last auf sie.

Gleich darauf trat das Hausmädchen ins Brauhaus herein. Sie brachte ein Brett mit dem Frühstückskaffee für die Hausfrau.

Sie sah die Lampe mit schwelendem Docht nahe am Erlöschen auf dem Tisch stehen, das Brauhaus voller Rauch und beinahe finster. Sie rief, erhielt aber keine Antwort. Da begriff sie, daß etwas nicht in Ordnung sein mußte. Sie stellte das Kaffeebrett ab, strich ein Zündholz an und sah nun, daß Lotta zusammengesunken neben dem Bett auf der Erde saß und daß über der, die im Bette lag, ein Laken gebreitet war, wie wenn sie tot wäre. Sachte trat sie näher, hob einen Zipfel des Lakens auf und sah ein paar dick verschwollene Hände.

Doch da erwachte Lotta zum Leben.

»Nimm dich in acht, es sind die Pocken!«

Das Mädchen ließ das Tuch fallen und wich ein paar Schritte zurück.

Und nun war sie es, die die Nachricht verbreitere, die den Pfarrer und alle anderen von dem Geschehenen in Kenntnis setzte.

Lotta Hedman, die unter dem Schutze der gefährlichen Krankheit stand, wurde kaum nach dem gefragt, was geschehen war.

Der Küster wurde geholt, der ein entschlossener und kräftiger Mann war, und er beschloß und ordnete an, wie er es für richtig hielt.

Der Ansteckungsgefahr wegen befahl er, Lotta Hedman müsse im Brauhaus bleiben, und niemand dürfe zu ihr. Und sie dürfe, wenn der Pfarrer sie rufen lassen sollte, dem Rufe auch nicht Folge leisten.

Er war es auch, der mit Lotta zusammen die Tote in den Sarg legte; dann wurde sie in ein hastig aufgeworfenes Grab gesenkt.

Nachforschungen wurden keine angestellt, kaum einige Fragen getan. Der ganze Pfarrhof war eine Zeitlang von der übrigen Umgegend abgesperrt. Daß die Pfarrerin sich für tot ausgeben lassen könnte, obgleich sie noch am Leben war, das war etwas zu Widersinniges, um es auch nur auszudenken.

»Der Scherenschleifer, der in den letzten Wochen in der Umgegend herumgezogen ist, hat die Ansteckung aus Norwegen mitgebracht,« wurde gesagt. »Auch seine Frau ist krank, sie ist ihm im Fieberwahn davongelaufen.«

Nun erinnerte man sich auch wieder an die Worte des Arztes. »Und die Krankheit hat schon lange in der Frau Pfarrer gesteckt,« hieß es.

Der längste und qualvollste Tag, den Lotta Hedman je erlebt hatte, ging schließlich zu Ende, ohne daß jemand entdeckt hätte, was geschehen war.

* * *

Von Zeit zu Zeit warf Sigrun einen Blick auf ihren Fuhrmann, der neben ihr auf dem Schlitten saß. Es war Nacht und sehr finster, und sie konnte nur undeutlich den äußeren Umriß der Gestalt unterscheiden: den großen Schlapphut, die hinaufgezogene Schulter, die Stumpfnase und den mürrisch zusammengebissenen Mund.

»Das ist gar kein Mensch, den ich da neben mir habe,« dachte sie. »Es ist der Tod. Ich erkenne den Stiel seiner Sense unter seinem Rock.«

»Ja, so ist es,« sagte sie zu sich selbst. »Als er zuerst kam, erkannte ich ihn nicht, aber jetzt erkenne ich ihn. Und wer sollte es auch anders sein? Ich habe mich in seine Macht gegeben. Er ist gekommen, mich zu holen und mich in sein Reich zu führen.«

Sie fuhren über große, öde, mit weißem Schnee bedeckte Hochebenen. Einzelne verkümmerte Bäume und Büsche machten die Armut der Gegend noch auffallender.

»Das ist das Reich des Todes,« dachte Sigrun.

Sie, die erst kürzlich noch so eifrig, so streitbar so befehlshaberisch gewesen war, fühlte nun eine stille Ruhe über sich kommen. Aus war es mit allem beschwerlichen Wollen, alle Wünsche und Hoffnungen waren dahin.

Vielleicht ist es gefährlich für einen Lebenden, den Tod als Bundesgenossen anzunehmen. Er nimmt einen vielleicht im Ernst mit.

Sie glaubte zu fühlen, daß wirklich eine Verwandlung mit ihr vorging. Alle Bande, die sie mit ihrem früheren Leben verknüpften, lösten sich, eines nach dem anderen.

Die Liebe zu ihrem Manne, die Sorgen und Plagen ihres Ehestandes, die vordem alle ihre Gedanken in Anspruch genommen hatten, das alles versank und verschwand. Nur ein großer leerer Raum blieb davon zurück, aber kein Vermissen, keine Bitterkeit.

»Ja, so fühlen die Toten,« dachte sie. »In dieser Weise werden sie vom Irdischen freigemacht. Ihre Liebe und ihr Leid verlassen sie.«

Es gab kleine, dumme Sachen, die sie als Kind gesagt hatte und wofür sie seither immer ausgelacht worden war, und kleine Kränkungen, die sie lang gequält hatten, und kleine Demütigungen, die sie niemals vergessen hatte; aber das alles war nun mit einem Male verschwunden, Von nun an konnte sie daran denken, als an etwas, das sie gar nichts anging.

Wenn sie an ihre Eltern und an die Stütze dachte, die sie stets an ihnen gehabt hatte, so fand sie, daß sie nun keiner Hilfe mehr von ihnen bedurfte. Alles um sie war neu, sie befand sich in einer anderen Welt.

»Hier können sie mich nicht mehr erreichen,« dachte sie. »Bisher sind sie mir beigestanden, so weit es in ihrer Macht stand. Jetzt bin ich von ihnen getrennt. Ich fahre hinein in das Reich des Todes.«

Sie war wie eine Ranke, die sich mit vielen Fäserchen an einem Gitter festgehalten hatte. Nun riß ein Fäserchen ums andere, und bald lag die Ranke an der Erde.

»Geradeso muß es sein, wenn man stirbt,« dachte Sigrun. »Es ist weder schwer noch hart; es ist nur ein großes Ausruhen.«

Allmählich graute der Tag. Der Mann, der mit ihr auf dem Schlitten saß, wurde wieder zu einem gewöhnlichen Landstreicher mit einem sauertöpfischen, unfreundlichen Gesicht. Die Gegend wurde zu einer wohl steinigen, mageren, armseligen, aber doch ganz irdischen Landschaft, und Sigrun selbst erwachte wieder zum Leben mit seinen strengen Anforderungen an Mut und Kraft ...

Das Pferd hatte die ganze Nacht über nicht ausruhen dürfen, und die Fahrt ging sehr langsam von statten. Im Schuppen einer Kätnerhütte mußten sie es mehrere Stunden stehen lassen und ihm Futter und Ruhe gönnen, damit es wieder zu Kräften kam. Endlich aber lag doch ein Dorf vor ihnen, in dem sich ein Wirtshaus befand.

Da sie sich nun also dem Ende ihrer Fahrt näherten, fing der Scherenschleifer an mit Sigrun zu reden.

»Ein Scherenschleifer wie ich, der Land auf und ab zieht, sieht und erfährt allerhand Sonderbares,« sagte er. »Aber was ich heute nacht mit erlebt habe, ist doch das größte Abenteuer, das mir je vorgekommen ist.«

»So, meinen Sie das?« Sigrun drehte den Kopf nach dem kleinen dunkelhäutigen Mann um und lächelte ihn freundlich an.

»Ich schwöre jeden Eid, daß ich etwas so Sonderbares noch niemals erlebt habe, und ich begreife selbst nicht, wie ich so weichherzig habe sein können, Ihnen zu helfen. Ich weiß nicht, was mir da angekommen ist.«

»Nein, ich weiß auch nicht, wie das zugegangen ist,« sagte Sigrun. »Aber eines ist gewiß, daß Sie Ihre Freundlichkeit niemals bereuen sollen.«

»Ach, das kann man so genau nicht wissen,« meinte der Mann. »Jetzt aber kann ich Sie jedenfalls nicht fortgehen lassen, ohne vorher zu fragen, was Sie tun und wohin Sie sich wenden wollen.«

»Ich will nach Amerika,« sagte Sigrun.

»Aber das kostet viel Geld, so eine Reise nach Amerika,« meinte der Fuhrmann.

»Sie können sich wohl denken, daß ich mich nicht ohne Geld auf eine solche Fahrt begebe,« erwiderte sie.

Nachdem der Scherenschleifer diese Antwort erhalten hatte, zog er die Zügel an, trat zu dem Pferd und fing an das Pferdegeschirr zu betasten und zu untersuchen.

»Ich bin eigentlich ganz frei und ledig,« sagte er nach einer Weile. »Vielleicht wäre es besser, wenn wir an diesem Wirtshaus vorbeiführen, und wenn ich Sie noch ein paar Meilen weiter brächte. Vielleicht sind hier doch Leute, die Sie kennen.«

Gerade der Gedanke, sie könnte in diesem Wirtshaus vielleicht erkannt werden, hatte Sigrun in der letzten halben Stunde beunruhigt. Das Anerbieten des Mannes war ihr darum eine sehr willkommene Überraschung.

»So bin ich, was ich einmal tue, das tu' ich auch richtig,« sagte der Mann, als er sich wieder auf den Schlitten setzte.

Diese neuen paar Meilen zogen sich indes sehr in die Länge. Wieder mußte das Pferd ausruhen und gefüttert werden. Bald zeigte sich auch, daß in dieser Gegend ungenügend Schnee gefallen war, die Schlittenbahn war überaus schlecht, und die beiden mußten große Strecken zu Fuß gehen.

Und die Zeit verstrich. Es wurde beinahe zwölf Uhr, bis das neue Wirtshaus in Sicht kam.

Aber gerade, als sie endlich die Wirtschaftsgebäude sahen, kam ihnen ein Mann mit einem Milchwagen entgegengefahren.

»Nimm dich in acht, Gustavson!« rief er dem Scherenschleifer zu. »Eben ist dem Wirt telefoniert worden, daß er euch aufhalten soll. Ihr sollt ansteckungsverdächtig sein. Die Pfarrfrau in Algeröd ist heute nacht an den schwarzen Blattern gestorben, und nun behauptet man, du und deine Frau, ihr hättet die Ansteckung aus Norwegen mitgebracht.«

Das gab einen neuen Aufenthalt und neue Überlegungen. Man beschloß, umzukehren. Keines von beiden hatte Lust, an diesem gefährlichen Wirtshaus vorzufahren.

Nun schlug der Scherenschleifer vor, sie wollten den Weg gen Osten nach Dalsland einschlagen.

»Auch von dort geht eine Eisenbahn nach Göteborg, und dort kennt Sie niemand,« sagte er.

Sie schlugen also einen Weg ein, der nach Osten führte, und der sie wieder hinauf auf die nackte, öde Hochebene brachte.

Hier war die Schlittenbahn besser, aber das arme Pferd war beinahe völlig erschöpft. Nachdem es zum drittenmal ausgeruht und gefressen hatte, war es auch auf dem Boden des Habersackes angelangt.

Der Scherenschleifer zog Brot und Butter hervor und fing an zu essen. Sigrun hatte nichts, aber sie war auch nicht hungrig.

Wenn sie später an diesen Tag zurückdachte, wunderte sie sich über sich selbst.

»Es war sehr sonderbar. Ich war ganz ohne Gefühl, ganz ruhig und empfand keine Unruhe, keine Müdigkeit, keinen Hunger. Ich wußte die ganze Zeit über, daß alles gehen würde, wie es gehen mußte. Ich war wie vollständig stumpf, aber dabei doch sehr kräftig und leistungsfähig. Sicherlich war jemand in meiner Nähe, der mir beistand.«

Während der langen Rast auf der Hochebene stellte sie eine Frage an ihren Reisegenossen.

»Haben Sie nicht gestern gesagt, die Tote sei gar nicht Ihre Frau gewesen?«

»Gewiß hab' ich das gesagt, und das ist auch die Wahrheit. Sie hatte einen braven Mann und ein schönes Heim, aber sie wollte lieber mit mir herumziehen.«

Sigrun fragte weiter, nicht, weil ihr diese Sache sehr wichtig gewesen wäre, nichts auf dieser Welt war ihr an jenem Tage wichtig, aber die Zeit verging während eines Gesprächs rascher.

»Sie hatte Sie also lieber als ihren Mann?«

»Ich weiß nicht recht, was ich über diese Sache sagen soll. Sie war mit einem verheiratet, der Sven Elversson heißt. Ich weiß nicht, ob Sie von ihm gehört haben?«

Sigrun nickte.

»Ich meinte erst, er sei ihr leid geworden wegen dem da, Sie wissen schon, was ich meine,« sagte der Mann. »Allmählich aber fand ich heraus, daß sie ihn verlassen hatte, weil sie meinte, er liebe sie nicht.«

»Sie war ja sehr häßlich,« sagte Sigrun. »Er hat sie aus Barmherzigkeit geheiratet.«

»Ja, sie war häßlich, aber sie war ein guter Mensch,« erwiderte der Scherenschleifer. »Sie gehörte zu denen, die für die, so sie lieben, alles tun können.«

Trotz der Stumpfheit, die über ihr lag, fand Sigrun in diesen Worten etwas, das sie unangenehm berührte. Sie hörte auf, nach der Frau zu fragen.

»Wissen Sie, wo sich Sven Elversson jetzt aufhält?« fragte sie.

»Er wohnt auf einem Hof in Dalsland, der Hånger heißt. Das war einmal ein großes Gut, allein es hat dort in verflossenen Zeiten so viel Unglück gegeben, daß niemand mehr dort wohnen mochte und der verödet dalag. Sven Elversson bekam ihn fast umsonst. Dort wohnt er, seit seine Frau fort ist, ganz allein mit seinen alten Eltern, und dort nimmt er so viele Arme wie nur immer möglich, Kinder und Erwachsene, bei sich auf und hilft ihnen, so gut er kann.«

Mit dem Scherenschleifer verhielt es sich indes an jenem Tage genau so wie mit Sigrun; er mußte unter irgendeinem fremden Einfluß stehen. Er, der sonst als eine richtige Landplage schreiend und lärmend umherzog, war still und bescheiden und berichtete von allen Leuten nur Gutes.

Als sie endlich weiterfuhren, Sigrun drinnen im Schlitten und der Mann vorne auf dem Sitzbrett, die Beine wie gewöhnlich nach außen hängen lassend, da geschah es, daß er ins Gleiten kam und auf die Straße hinunterfiel.

Sofort blieb das Pferd stehen. Der Mann stand wieder auf und setzte sich wie vorher zurecht, aber nach kurzer Zeit glitt er wieder hinunter.

»Ich weiß nicht, was mit mir los ist,« sagte er. »Es dreht sich mir alles im Kopf.«

Sigrun forderte ihn auf, sich neben sie in den Schlitten zu setzen. Das tat er auch, und sie fuhren weiter. Aber schon nach einer kleinen Weile fielen ihm die Zügel aus den Händen.

»Ich bin gewiß krank,« sagte er und sah ganz verdutzt drein. »Es geht mir wohl, wie es Rut gegangen ist.«

Allein Sigrun suchte ihn eilends zu beruhigen.

»Sie haben heute nacht nicht geschlafen,« sagte sie. »Setzen Sie sich in die Ecke und schlafen Sie. Ich will kutschieren, während Sie sich ausruhen.«

Wieder war da etwas, das ihren Mut aufrecht erhielt.

»Er ist nicht angesteckt, er ist nur müde und erschöpft. Da, jetzt schläft er schon!« schien ihr eine Stimme ins Ohr zu flüstern.

Nachdem sie ein Stück weit gefahren waren, blieb das Pferd stehen und weigerte sich, noch einen Schritt zu machen.

Sigrun faßte den schlafenden Reisegenossen am Arm und schüttelte ihn.

»Kennen Sie hier in der Nähe einen Ort, wohin Sie mich bringen können? Das Pferd kann nicht weiter, und es wird allmählich dunkel.«

»Glauben Sie, daß ich die schwarzen Blattern habe?« fragte er.

»Nein, Sie sind nur schläfrig, sonst fehlt Ihnen nichts,« sagte Sigrun.

Gleich darauf suchte er auch wirklich seine Lebensgeister zusammenzuraffen.

»Es bleibt uns nichts anderes übrig,« sagte er. »Eine halbe Meile von hier ist ein Haus, das ist, wie man sagt, ein ›Landstreicherhotel‹. Wir müssen versuchen, dorthin zu fahren.«

»Ja, wir müssen durchaus unter Dach kommen,« sagte Sigrun.

»Es bleibt uns nichts anderes übrig,« wiederholte der Mann. »Ich hätte mich allerdings dort lieber nicht noch einmal sehen lassen. – Wir sind jetzt über die Grenze und damit in Dalsland,« fuhr er fort. »Wenn wir die nächste Anhöhe erreicht haben, dann geht's abwärts. Fahren Sie beim nächsten Kreuzweg links und dann geradeaus bis zum ersten Hof, den Sie sehen.«

Als Sigrun schließlich das Pferd die Anhöhe hinaufgebracht hatte, erblickte sie im schwindenden Tageslicht eine weite Landschaft unter sich ausgebreitet, sanft abfallend, schön, reich an Seen und waldigen Hügeln, die sich fein und scharf von der schneeschweren Luft abzeichneten. Dieses herrliche Bild belebte sie, sie trieb das Pferd kräftiger an, erreichte den Kreuzweg und bog nach links ab.

Die schöne Aussicht zeigte sich noch mehrere Male, aber die nächste Umgebung war immer noch gleich einsam. Zuletzt aber erblickte sie doch gerade unter sich einen Hof. Das Wohnhaus war ziemlich groß, von beinahe herrschaftlichem Aussehen, aber alle Nebengebäude waren klein und unansehnlich, beinahe nur wie Häuser auf einem größeren Kätneranwesen.

Wieder weckte sie den Kranken.

»Sind wir jetzt da?« fragte sie.

»Ja,« sagte er und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Jetzt sind wir auf Hånger. Das hätte ich nie gedacht, daß ich noch einmal hier Unterkunft suchen müßte.«

»Aber ...« rief Sigrun, und sie hatte plötzlich ein Gefühl wie ein Schiffbrüchiger, über dem die Wogen zusammenschlagen. »Wohnt denn nicht Sven Elversson auf Hånger?«

»Doch,« erwiderte der Scherenschleifer. »Ich wäre lieber auch nicht hierher gegangen, aber es blieb ja nichts anderes übrig.«

»Aber wenn er Sie fragt, wo Sie seine Frau haben?«

»Dann wird mir schon irgend etwas einfallen.«

»Daß er auch gerade hier wohnen muß!« rief Sigrun in Verzweiflung.

»Nun, er hat sich ja gerade diesen Ort ausgewählt, weil er so einsam liegt und keine Nachbarschaft hat. Gewöhnliche Leute kommen nie hierher, aber alle Landstreicher und armen Wandersleute kehren bei ihm ein.«

Sigrun fuhr den Hügel hinunter dem Hofe zu. Ihre Verzweiflung legte sich beinahe sofort wieder, die frühere Stumpfheit kehrte zurück, und eine Stimme flüsterte ihr ins Ohr, sie solle sich keine Sorgen machen, es werde alles gut gehen.

Dicht bei der Einfahrt zum Hofe stand ein kleines rot angestrichenes Häuschen.

»Hier ist es, hier müssen Sie hineingehen,« sagte der Scherenschleifer, indem er sich ein wenig aus seiner Schlaftrunkenheit aufraffte.

»Ich will auf den Hof fahren und das Pferd einstellen,« sagte er. »Sie können so lange hier hineingehen. Die Landstreicherhütte ist ganz leer. Der Schlüssel liegt unter der Schwelle.«

Sigrun trat in ein kleines Haus, das durch einen Mittelgang in zwei Hälften geteilt war. Zu beiden Seiten des Ganges war je ein Zimmer, und beide waren ganz gleich eingerichtet. Sie hatten nackte Wände, an den Wänden festgemachte Betten mit Strohmatratzen, eine Feuerstelle, einen großen, schweren Tisch und einige schwere Stühle. Ein Eimer mit Wasser und ein Armvoll Holz waren auch vorhanden, aber keine Kissen, keine Bettücher, kein Kochtopf, keine Teller, keine Handtücher, kein Waschgeschirr, eigentlich nichts, was mitgenommen werden konnte. In dem einen Zimmer stand ein riesiger Schrank, der Schlüssel war jedoch abgezogen.

Die Zimmer waren nicht vollständig kalt; es mußte wohl am Vormittag Feuer darin gebrannt haben, auch war es sauber darin und gut gelüftet.

»Ich muß versuchen, Feuer anzumachen,« dachte Sigrun.

Während sie damit beschäftigt war, kam der Scherenschleifer herein. Er konnte sich jetzt kaum mehr aufrecht halten. Ohne ein Wort zu sprechen, warf er sich in eines der Betten und schlief sofort ein.

»Ich glaube nicht, daß er krank ist,« dachte Sigrun. »Er wird wieder ganz wohl sein, wenn er die Nacht durchgeschlafen hat. Ich brauche keine Hilfe zu holen.«

Sie machte auch im anderen Zimmer ein Feuer an, setzte sich davor nieder und versuchte, sich Pläne auszudenken. Plötzlich fühlte sie, wie müde sie war, sie wäre beinahe vom Stuhl gefallen, und außerdem war sie auch hungrig.

»Ich hätte daran denken und mir ein paar belegte Brote mitnehmen sollen,« murmelte sie vor sich hin, und damit wurden ihre Gedanken auf ihre Reisetasche gelenkt. Wo war diese? Sie war nicht im Zimmer, mußte also im Schlitten liegengeblieben sein.

Sofort eilte sie hinaus. Der Schlitten stand vor dem Hause, und die Tasche lag darin. Sie ergriff sie und wollte eben zurückgehen, als eine Stimme sie anrief.

»Bist du es, Rut?«

Es war rasch dunkel geworden. Sigrun vermochte kaum noch, einen alten, gebückten Mann zu unterscheiden, der langsam auf sie zukam.

»Kommen Sie nicht hierher!« rief sie. »Wir bringen die Pocken mit!«

»Ja, das weiß ich schon,« erwiderte der Mann. »Es ist uns deswegen telephoniert worden, und wir hätten nicht erwartet, daß ihr gerade hierher kommen würdet. Ja, ja, das ist nun so, Not kennt kein Gebot.«

»Das ist wohl Joel Elversson, Sven Elverssons Vater,« dachte Sigrun. »Er ist alt und stumpf geworden. – Er hält mich für seine Schwiegertochter.«

»Sven ist heute nicht zu Hause,« sagte Joel auf seine feierliche Art und Weise. »Aber wir, ich und Thala, wollen so gegen dich handeln, Rut, wie er handeln würde, wenn er wüßte, daß du in Not und Lebensgefahr hier wärest. Da hast du den Schlüssel zum Schrank. Du weißt, daß du darin alles findest, was du brauchst. Und wir wollen euch Essen herunterbringen und es vor die Tür stellen.«

Damit reichte er ihr einen kleinen Schlüssel, den sie entgegennahm, ohne ein Wort zu sagen. Er schien auch gar keine Antwort zu erwarten.

»Hier trägt dir niemand etwas nach, Rut,« sagte er. »Wir begreifen ja wohl, was dich fortgetrieben hat. Mach es euch nun so behaglich, wie du kannst, und schlaf in Ruh'.«

Er ging seines Weges, und Sigrun eilte ins Haus zurück. In dem Schrank fand sie Laken und Kissen, alles, was man in einem Gastzimmer braucht. Gleich darauf wurde auch das Essen gebracht.

Einen Teil davon stellte Sigrun dem Scherenschleifer in sein Zimmer, darauf schloß sie ihre Tür fest zu und legte sich zu Bett.

»Ich muß ein Paar Stunden schlafen,« dachte sie. »Dann gehe ich meines Weges. Ich muß von hier fort, ehe mich jemand erkannt hat.«

Und sie schlief auch schon, noch ehe sie diesen Gedanken zu Ende gebracht hatte.


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