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Dritter Teil

In Trauer

Da war Sigruns Mutter, die alte Pröpstin von Stenbroträsk. Anfangs Mai 1916 machte sie einen Besuch bei Verwandten in Bohuslän, und weil sie nun doch einmal in der Nähe war, wollte sie auch ihren Schwiegersohn in Algeröd aufsuchen und sehen, wie es ihm gehe.

Als sie in dem kleinen, ärmlichen Pfarrhaus ankam, fand es sich, daß der Pfarrer seine Mutter zu sich genommen hatte, damit sie ihm den Haushalt führe. Die Mutter war ein einfaches, gerades Menschenkind, die Witwe eines armen Lotsen, die gehungert und entbehrt hatte, damit ihr Sohn Pfarrer werden konnte. Die Pröpstin sah, wie stolz und glücklich sie war, bei ihrem Sohne wohnen und seinem Hause vorstehen zu dürfen, und das begriff sie sehr wohl. Es erweckte durchaus keine unangenehmen Gefühle in ihr.

Aber die Einkünfte dieser armen Pfarrei waren eben über alle Maßen gering, und so war die alte Frau ebenfalls auf den Gedanken gekommen, es mit Kostgängern zu versuchen. Sie hatte zwei junge Mädchen mit schwacher Brust ins Haus genommen, deren Gesundheit sich in der frischen Bergluft von Algeröd bessern sollte.

Diese beiden hatten sich im Anfang vor dem düstern, finstern Hausherrn, der um seine Frau trauerte, etwas gefürchtet; jedoch zu der Zeit, wo die alte Pröpstin nach Algeröd kam, war ihre Furcht längst überwunden. Und das war eine große Überraschung für Sigruns Mutter. Statt in ein Haus voll Betrübnis und Trauer zu kommen, kam sie in eines voll Lachen und Scherz und Lustigkeit.

Das wurde ein langer Nachmittag für sie. Fast hätte sie die Geduld verloren, ehe er zu Ende war. Auf Schritt und Tritt stand ihr die abgeschiedene Tochter vor Augen, und sie konnte sich nicht genug über deren Mann wundern, wie er es mit den zwei ausgelassenen Mädchen aushielt, die sich auf eine so deutliche Weise um ihn bemühten; wenn er noch gewesen wäre wie früher, hätte er sicher großes Ärgernis daran genommen.

Aber er war nicht mehr wie früher, das merkte sie an allen Ecken und Enden. Er war ein ganz anderer Mann geworden.

Im Sprechen und Lachen hatte seine Stimme einen lauten, schrillen Ton angenommen, und mit Vorliebe suchte er vor seiner Schwiegermutter seine eigene Vortrefflichkeit herauszustreichen.

Früher hatte er immer Ernst und Würde in seinem Auftreten gewahrt. Man hatte nicht zwei Minuten in seiner Gesellschaft sein können, ohne zu merken, daß er Pfarrer war; jetzt war die gute Haltung weg. Früher hatte er es den Leuten selbst überlassen, zu merken, daß er ein hervorragender und begabter Mann war: jetzt hielt er es für nötig, selbst davon zu reden.

Er erzählte, wie vortrefflich er schon in der Schule gewesen sei, wie rasch er sein Examen gemacht und was für Wunderwerke er in seiner Gemeinde gewirkt habe; er erzählte und erzählte und konnte nicht zum Schluß kommen.

Und die beiden Mädchen schlugen die Hände zusammen und zeigten deutlich, wie sehr sie ihn bewunderten.

Es war gerade, als lege er es darauf an, der Schwiegermutter zum Bewußtsein zu bringen, wie sie ihm zu Füßen lagen, und daß er sie behandeln konnte wie er wollte. Er war wie jemand, dem eine große Sache mißlungen ist, und der nun auf alle Art und Weise sucht, sich die frühere Achtung wieder zu verschaffen.

Er war keineswegs artig und entgegenkommend gegen die beiden jungen Mädchen, und es klang Verachtung aus jedem Wort, das er an sie richtete. Aber er wollte nicht fern von ihnen sein. Er sagte zwar, er habe zu arbeiten, ging aber nicht weg aus der Gesellschaft. Zuerst war die Pröpstin betrübt darüber, weil es aussah, als habe der Schwiegersohn Sigrun bereits vergessen. Aber im Verlauf des Nachmittags kam sie auf eine ganz andere Vermutung. Sie fing an zu glauben, er betrauere seine Frau so tief, daß er daran zugrunde gehe.

Als sie endlich am späten Abend »Gute Nacht« sagen und zu Bett gehen konnte, denn sie mußte über Nacht bleiben, fühlte sie sich gedrungen, mit dem Schwiegersohne ein paar Worte darüber zu sprechen. Sie sagte, sie begreife sehr wohl, daß er sich bald wieder verheiraten müsse, aber sie ermahnte ihn auch, sich wohl vorzusehen und sich nicht mit der ersten besten zu begnügen.

Da sagte er, sie möchte, aber nur sie allein, mit ihm in sein Zimmer kommen.

Und nun zeigte er ihr, wie da drinnen alles, was Sigrun gehört hatte, zusammengetragen war, alles, sowohl das, was sie von Hause mitgebracht hatte, so wie auch alles, was nachher noch dazugekommen war.

Bilder von ihr in allen Größen waren überall im Zimmer zu sehen, und ihre Bücher standen in der vordersten Reihe auf dem Bücherständer.

Ein Buch war dabei, das die Pröpstin sofort erkannte: ein kleines Andachtsbuch. Ihre Tochter hatte es erhalten, als sie in den Konfirmationsunterricht ging; das lag auf dem Tischchen an seinem Bett.

»Darin lese ich jeden Abend,« sagte der Pfarrer. »In keinem anderen Buche als in diesem.«

Er öffnete das mittlere Schränkchen einer großen Schreibkommode.

Darin hatte er ein paar Schächtelchen aus Elfenbein aufgestellt, die Sigrun als kleines Mädchen zum Geschenk erhalten hatte. Er nahm sie heraus und legte sie liebkosend an seine Wange.

»Die sind ihr sehr lieb gewesen,« sagte er. »Und keine andere Hand als die meine soll sie je berühren. Das alles bekommen die anderen gar nie zu sehen.«

Er zeigte der Pröpstin auch das Bildchen von Stenbroträsk, dessen Anblick Sigrun immer so großen Trost gebracht hatte. Das Bild war in mehrere Bogen Seidenpapier eingewickelt und in ein Tuch eingerollt und lag, wie wenn es ein köstlicher Schatz wäre, im innersten Fach verborgen.

»Andere Augen als die meinen bekommen das nicht zu sehen, liebe Schwiegermutter, das glaube ja nicht.«

Er zeigte ihr auch ein kleines Tuch, das seine Frau ihm gestickt hatte.

»Das muß hier auf dem Tisch liegen, weil Sigrun selbst es hierher gelegt hat,« sagte er. »Aber ich habe noch ein anderes Tuch, das ich darüber breite, wenn die Sonne scheint. Du siehst, es ist gar nicht verschossen.«

Sigrun hatte ihm auch ein Kissen für den Schaukelstuhl genäht; es war mit einer Franse verziert, die aber jetzt an einigen Stellen losgetrennt war. Der Pfarrer hatte versucht, das selbst auszubessern, und die Franse mit grobem Faden und langen Stichen angenäht. Er zeigte der Pröpstin, wie häßlich das sei, aber er habe diese Arbeit eben niemand anders anvertrauen können.

Nun bot sich die Pröpstin an, das Kissen mit auf ihr Zimmer zu nehmen und den kleinen Schaden ordentlich zu flicken. Das erlaubte er auch, aber er drehte und wendete das Kissen verschiedene Male hin und her, ehe er es aus der Hand gab.

Aber das, was ihm das teuerste von allem war: Sigruns zwei glatte Eheringe In Schweden hat die verheiratete Frau zwei Eheringe; einen erhält sie bei der Verlobung, den anderen bei der Hochzeit. und noch einen anderen Ring, sowie einige kleine Schmuckstücke, die hatte er in ein kleines gelbes Lederbeutelchen gesteckt.

»Das trage ich bei Tag in der Westentasche,« sagte er, »und in der Nacht liegt es unter meinem Kissen. Davon trenne ich mich nicht, weder bei Tag noch bei Nacht.«

Da wurde die Pröpstin von großem Mitleid erfaßt. Ja, der Kummer nagte an ihm und drohte ihn zu verzehren. Und sie begriff, daß er dagegen ankämpfte, wenn er sich unter Fremden befand, daß er sich Mühe gab, zu sein wie zuvor, es aber eben nicht vermochte; ach, deshalb drangen nun so falsche Töne aus dem Instrument!

Sie ließ sich auf dem Sofa nieder und winkte ihn zu sich.

»Komm her und setze dich neben mich,« sagte sie mit mütterlich sanfter Stimme. »Und dann sage mir, wie es mit dir steht.«

Da brach er in heftiges Weinen aus.

»Ach, ich weiß nicht, ich weiß nicht, was das mit mir werden soll,« sagte er. »Seit Sigrun mich verlassen hat, kann ich mich nicht mehr im Leben zurechtfinden.«

»Sie ist aus meinen Augen verschwunden,« fuhr er fort. »Aber ich habe nicht das Gefühl, daß sie tot ist. Mir ist zumute, als ob sie von mir gegangen wäre, weil sie sich vor mir fürchtete.

Ich habe sie nicht glücklich machen können, aber der Fehler war der, daß ich sie über alles Maß und alle Grenzen liebte. Ich wollte sie für mich allein haben. Aber ich machte es zu enge um sie und schloß sie ein. Ach, ich habe sie gequält, und dieser Gedanke peinigt mich jetzt über die Maßen. Ach, wenn ich gewußt hätte, daß sie so bald von mir gehen würde, hätte ich mir wohl Zügel angelegt! Was hätte es geschadet, ob ich selbst zugrunde gegangen wäre, wenn nur sie während ihrer kurzen irdischen Laufbahn hätte glücklich sein können!

Man sagt, sie sei an den schwarzen Blattern gestorben. Aber ich kann es nicht glauben, wage jedoch nicht zu fragen, wie es war, als sie von hinnen ging. Ich fürchte, ich werde zu hören bekommen, daß sie es nicht mehr bei mir aushalten konnte und deshalb gestorben sei.«

Die Pröpstin saß schweigend da und ließ ihn klagen. Nichts von allem, was er sagte, verwunderte sie, denn sie, die alt war, hatte noch niemals einen Menschen am Grabe eines geliebten Wesens stehen sehen, ohne daß ihm das Herz von Reue und Gewissensqual zerrissen gewesen wäre.


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