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Hånger

Ach, wie glücklich war Lotta Hedman, daß sie das alles erzählen durfte! Wie herrlich war es, über Sigrun reden zu können! Wie bemühte sie sich, hochschwedisch zu sprechen! Wie trachtete sie danach, es in feierlichen Worten einem Erbauungsbuch gleichzutun! Wie dankbar war sie diesem Zuhörer, der immer noch still dasaß und lauschte, für seine unerschöpfliche Geduld!

»Jetzt hab' ich Ihnen nur noch ein Erlebnis zu berichten, damit Sie mir den Rat geben können, den ich brauche,« sagte sie.

»Beunruhigen Sie sich ja nicht,« erwiderte er. »Sprechen Sie, wie es Ihnen am besten paßt. Wir haben noch genügend Zeit vor uns.«

Lotta Hedman fiel sofort in den Erzählerton.

»Ja, es war im Herbst desselben Jahres,« begann sie, »und es hatte eben sehr heftig zu regnen angefangen. Wir alle drei, mein Vater und meine Mutter und ich, hatten ins Haus eilen müssen, damit wir nicht durch und durch naß wurden.

Doch kaum waren wir drinnen, da wurde die Tür nochmals aufgerissen, und ein paar große, gewaltige Männer kamen hereingestürmt. Sie baten höflich, wir möchten ihnen doch erlauben, bei uns unterzustehen, bis der Regenschauer vorüber sei. Mein Vater hieß sie willkommen, und die Mutter und ich stellten jedem einen Stuhl neben die Tür.

Und der eine von ihnen war gesprächig und fragte den Vater, ob sie wohl Arbeit bei dem neuen Sägewerk, das gerade in Stenbroträsk gebaut wurde, bekommen könnten. Aber der andere sprach kein Wort, sondern starrte nur zu dem nach Osten liegenden Fenster hinaus.

Und gerade gegen dieses Fenster schlug der Regen mit voller Kraft. An den Scheiben strömte unaufhörlich Wasser herunter, und man konnte kaum durch sie hindurchsehen.

Ich fragte mich, was es wohl sein könne, auf das der Fremde so hinstarre. Denn etwas anderes als Regentropfen und Hagelkörner konnte er nicht sehen, das war mir sehr klar.

Dann setzte ich mich auf meinen gewohnten Platz am Fenster und schaute hinaus.

Aber es war nichts anderes zu erblicken, als die kleinen grauen Wirtschaftsgebäude und das Wasser, das von allen Dächern herunterströmte. Und es war so trüb und dunkel, daß man kaum bis zum Flußufer hinsehen konnte. Dort waren die grauen Regenwolken so dicht wie ein Vorhang.

Ich dachte daran, wie ich an diesem Fenster an dunkeln Abenden gesessen hatte, ohne daß mich die Dunkelheit daran gehindert hätte, etwas zu sehen, und wie ich auch bei dichtem Schneesturm von diesem Platz aus trotz der Schneeflocken gar vieles hatte sehen können. Schiffe, die vorüberfuhren, und Eisenbahnzüge, die dahinbrausten, und Könige, die in herrliche Städte einzogen, und Hochzeitszüge, die an mir vorbeiwanderten, und Engel, die vor meinen Augen gespielt und sich im Reigen gedreht hatten.

Was aber nützte es mir jetzt, wenn ich mich an dieses nach Osten liegende Fenster setzte? Mein hellsehendes Auge war seiner Kraft beraubt worden, und ich sah jetzt nichts anderes mehr als den Schuppen, den Hof und den herabströmenden Regen. Mir wurden keine Botschaft, keine Warnungen und keine Offenbarung mehr zuteil.

Und doch, etwas, das einem roten Haus und hohen Wäldern glich, sah ich jetzt von der grauen Wolkenwand sich abheben, aber es blieb dunkel und undeutlich.

Ich versuchte mich darüber zu freuen, weil ich nun wie alle anderen war; aber die Armut des Lebens bedrückte mich schwer, seitdem ich nichts Übernatürliches mehr sah oder hörte.

Ich hatte keine Freude mehr am Leben. Ich glich einem Menschen, der lange Zeit an einem reichbesetzten Hochzeitstisch gesessen hatte, jetzt aber kein Stückchen Brot mehr besaß, um seinen Hunger zu stillen.

Und ich hatte niemand mehr, der mich trösten konnte, denn Sigrun sollte in diesen Tagen heiraten und mit ihrem Manne nach der Pfarrei Applum in Bohuslän übersiedeln; sie hatte mich gefragt, ob ich sie in ihr neues Heim begleiten und ihr dort helfen wolle, denn so hatten wir es einmal vor langer Zeit miteinander ausgemacht. Aber ich hatte geantwortet, ich wolle lieber in Stenbroträsk bei meinen Eltern bleiben. Denn ich wollte nicht mit Sigrun fortziehen. Sie war nie wieder wie früher zu mir gewesen, seit ich über ihren Bräutigam etwas Schlechtes gesagt hatte; und ich konnte auch nicht mehr einen verirrten Vogel in ihr sehen, denn sie schien jetzt völlig in allem Menschlichen daheim zu sein.

Da, mitten in meinen trübsten Gedanken vernahm ich Schritte; der Schweigsame von den beiden Wanderern trat neben mich und beugte sich gegen die vollgeregneten Scheiben vor.

›Das ist ein ganz merkwürdiges Fenster,‹ sagte er, während er meinen Arm berührte, damit ich hinausschaue. ›Ich möchte wissen, ob Sie dasselbe sehen wie ich?‹

›Ich sehe gar nichts,‹ antwortete ich. ›Aber warum sagen Sie, dieses Fenster sei merkwürdig?‹

›Nun, es ist doch gewiß merkwürdig, wenn ich durch das Fenster eines Hauses in Stenbroträsk den Hof Hånger in Dalsland sehe,‹ entgegnete er.

›Ist das ein Hof, der hoch auf einem Hügel liegt, aus dessen Abhang Apfelbäume stehen?‹ fragte ich. ›Gibt es dort ein Kellergebäude mit einem Dachstübchen und ein Gattertor mit einem alten, verfaulten Torpfosten, und sitzt dort eine alte Frau an dem Fenster der Kellerstube?‹

›Ja, sagte er, indem er sich vorbeugte, um besser zu sehen. ›So ist es. An dem Fenster der Stube sitzt eine alte Frau, es ist alles richtig.‹

›Und starrt sie nicht unausgesetzt auf den Torpfosten hin? Sieht es nicht aus, als könne sie den Blick nicht von ihm abwenden!«

›Gewiß,‹ antwortete der Mann und holte tief Atem, ›gewiß sitzt sie da und gibt acht, daß der Torpfosten nicht umfällt. Das muß sie bis ans Ende der Welt tun.‹

Und ich sah, wie ihn das quälte, was er schaute. Große Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, er war totenbleich, und es fiel ihm schwer, ein Wort herauszubringen.

Doch jetzt wendete er den Blick vom Fenster ab und drehte sich schnell nach mir um. – ›Aber Sie sagen doch, Sie sähen nichts!‹ rief er.

›Heute sehe ich nichts,‹ erwiderte ich. ›Aber im letzten Frühjahr habe ich diesen Hof einmal gesehen.‹

Jetzt sah ich auch, daß sowohl meine Eltern als auch der andere fremde Mann zu uns hergekommen waren und uns zuhörten.

›In unserer Familie sind viele, denen es ebenso ergeht,‹ sagte jetzt der zweite Fremde mit leiser Stimme zu meinem Vater, ›aber ich habe bis heute nicht gewußt, daß mein Bruder hellseherisch ist.‹

Der jedoch, der mit mir gesprochen hatte, richtete den Blick wieder auf das Fenster, und gleich darauf wich er erschrocken zurück.

›Jetzt hat sie mich angesehen!‹ rief er. ›Und jetzt ist es gewiß aus und vorbei mit mir.‹

Es machte einen sonderbaren Eindruck, daß er, ein außerordentlich großer starker Mann, sich so fürchtete. Aber nicht einmal meine Mutter, die sonst leicht lachte, verzog den Mund auch nur zu einem Lächeln.

›Wir wollen ein Gesangbuchlied singen, flüsterte ich ihr zu. Und wir stimmten den ersten besten Liedervers an, der uns in den Sinn kam.

Während wir sangen, hörte der Regen auf. Die graue Wolke stand nicht mehr wie eine Mauer über dem Flusse, und in die Kammer fiel ein Sonnenstrahl herein.

Der Mann, der eben das Gesicht gehabt, war auf einen Stuhl gesunken und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Er wagte weder aufzublicken, noch sich zu rühren.

Aber als es jetzt wieder heller und freundlicher wurde, begann der Bruder ihm vernünftig zuzureden.

›Komm, komm, Jon!‹ sagte er. ›Das Wetter ist wieder schön, und wir können weitergehen. Wenn du jetzt den Kopf in die Höhe hebst, wirst du sehen, daß alles verschwunden ist.‹

Aber Jon saß noch immer mit den Händen vor dem Gesicht zusammengesunken da und hob nur den Ellbogen, um den Bruder abzuwehren.

›Nein, Anders, nein, laß mich in Ruh'!‹ sagte er. ›Ich wag' es nicht.‹

Da schaute Anders uns an und schüttelte den Kopf.

›Es ist ja kein Wunder, wenn er sich fürchtet,‹ erklärte er. ›Denn das, was er gesehen hat, ist tatsächlich in früheren Zeiten einmal gewesen; auf dem Hof, von dem er sprach, ist unser Urgroßvater geboren.‹

›Er sagte doch, dieser Hof heiße Hånger?‹ warf ich ein, da keines von den anderen ihm etwas erwiderte.

›Ja,‹ sagte er, ›er heißt Hånger, und er liegt in Dalsland, und wir, die wir von dort abstammen, heißen die Hångerer Riesen. Wir sind von größerem Körperbau als andere Menschen, und die Leute sagen, man könne nur schwer mit uns auskommen. Ich selbst aber kann nichts Außergewöhnliches an uns finden, ausgenommen, daß wir alle, einer wie der andere, durch Selbstmord endigen. So war es bei meinem Vater und bei meinem Großvater und auch schon bei dessen Vater.‹

Nachdem er also gesprochen hatte, wurde es wieder ganz still im Zimmer. Ein Schauder überlief uns, und wir konnten weder etwas fragen, noch etwas sagen. Der Fremde jedoch meinte wohl, nachdem er soviel gesagt habe, müsse er fortfahren.

›Nun, es soll auf einer alten Geschichte beruhen,‹ begann er wieder. ›Die Männer, die damals auf Hånger wohnten, waren reiche, eigensinnige Menschen, die vor niemand den Nacken beugten und fast immer mit den Pfarrern in Streit gerieten. Ja, einer von ihnen soll gar einen Pfarrer aus Eifersucht erschlagen haben. Aber es kam nie heraus, wer an dem Morde schuldig war. Die Untat ist nie gesühnt worden, und deshalb mußten von jenem Tage an alle Männer von Hånger durch eigene Hand oder durch die anderer eines gewaltsamen Todes sterben.‹

›Aber so kann es doch unmöglich sein!‹ rief meine Mutter. ›Die Unschuldigen müssen doch nicht für die Schuldigen leiden.‹

›Ach, man weiß nie, wie es sich damit verhält,‹ erwiderte der Mann. ›Auf Hånger aber lebte damals noch eine Frau, die Mutter dessen, der den Pfarrer erschlagen hatte. Von ihr heißt es, sie habe alles gewußt, sie habe auch ihrem Sohne geholfen, die Leiche unter dem einen Torpfosten zu vergraben, und noch lange nach dem Tode des Sohnes habe sie diesen Pfosten eifrig bewacht, damit er nicht umgehauen und nicht beschädigt oder mit einem anderen vertauscht würde. Sie zog in eine Kammer hinunter, die dicht bei dem Hoftor lag, und dort saß sie und hielt Tag und Nacht Wache, ja, es gibt Leute, die behaupten, sie bewache ihn heute noch. Jetzt gehört Hånger einer anderen Familie, und die Riesen sind nach allen Himmelsrichtungen zerstreut; aber alle, die mit der alten Frau zusammenhängen, scheinen sie sehen zu können. »Sie bleibt bei uns,« sagen die Leute, »und paßt wohl auf, damit sich keiner der Sühne des großen Verbrechens entziehe«.‹

Aber meine Mutter war ganz empört.

›Das kann doch unmöglich so fortgehen sollen,‹ sagte sie. ›Ihr müßt entschieden etwas tun, um dieser Sache ein Ende zu machen.‹

›Ja, das ist sehr richtig,‹ meinte der Mann, ›und es gibt auch solche, die es versucht haben. Zwei davon haben sich ausgedacht, es könne gut sein, wenn sie selbst Pfarrer würden. Aber ich weiß nicht, ob das der alten Frau recht war. Der eine von ihnen ist in jungen Jahren gestorben, der andere lebt noch.‹

Ich erschrak immer mehr, und als ich mir alles zusammenreimte, was geschehen war, da wußte ich schon, was für eine Antwort ich auf die Frage bekommen würde, die ich jetzt an den Mann richtete, nämlich die Frage:

›Heißt er vielleicht Rhånge?‹

›Aber Kind, was denkst du?‹ rief die Mutter.

Der Mann antwortete mir sofort:

›Gewiß, ganz richtig. Er nennt sich Rhånge; das ist nur eine Abänderung von Hånger. Er ist Pfarrer in Applum in Bohuslän und soll sich, wie ich gehört habe, in diesen Tagen mit einer Tochter des Propstes von Stenbroträsk verheiraten.‹«

Der Mann, der auf dem Eckplatz saß, machte eine heftige Bewegung.

»Nun, ich will nicht behaupten, daß man zuviel auf solche alte Geschichten geben soll,« sagte Lotta Hedman. »Aber etwas ist vielleicht doch daran, und wer weiß, nachdem ich dies gehört, ist es am Ende unrecht von mir gewesen, daß ich Sigrun nicht nach Bohuslän begleitet habe. Und vielleicht mißglückt mir gerade deshalb alles. Wohl hab' ich die Fähigkeit, zu sehen und zu hören, wieder erlangt, aber niemand will auf mich merken, und das ist vielleicht die Strafe, weil ich Sigrun gegenüber meine Pflicht nicht erfüllt habe. Und falls ich jetzt recht daran tue, wenn – – –.«

Sie brach plötzlich ab. Ihre eben noch so beweglichen Züge wurden starr und steif.

»Ich sehe etwas,« sagte sie. »Ich sehe große Schneeflächen. Es ist sehr hell. Und ein Zelt ist da, ein schwarzes Zelt, und ein großer Schlitten...«

Gerade in diesem Augenblick fuhr der Zug an einem Bahnhof vor. Lotta Hedmans Reisegefährte sprang rasch von seinem Platz auf und hob den Arm, um seine Sachen herunterzunehmen.

Lotta Hedman merkte es nicht. Sie war ganz von dem hingenommen, was sich ihr offenbarte.

Als der Mann aus dem Zug gestiegen war und auf das Bahnhofsgebäude zuging, hörte er, wie Lottas Stimme ihn zurückrief; er schritt jedoch weiter, ohne sich umzudrehen.

»Mir ist befohlen,« rief Lotta, während sie mit aller Kraft an dem Ledergurt zerrte, um das Fenster herunterzulassen, »mir ist befohlen, Ihnen zu sagen, daß Sie an dem, was Sie glauben, getan zu haben, unschuldig sind!«

Endlich glückte es ihr, das Fenster herabzulassen, und sie rief dieselben Worte noch einmal. Aber jetzt war der Mann verschwunden.


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