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Die Flucht

Am nächsten Tag lag Sigrun zu Bett und klagte über Halsschmerzen. Kein Mensch außer Lotta durfte zu ihr hereinkommen. Auch bat sie Lotta, ihren Mann darauf vorzubereiten, daß sie lange krank sein werde.

Sie blieb dann den ganzen Tag liegen. Erst nach dem Abendessen, als die Hausbewohner zur Ruhe gegangen waren, stand sie auf, kleidete sich an und kam zu Lotta ins Brauhaus heraus.

»Fühlst du dich jetzt wohler?« fragte diese.

Sigrun lächelte. –»Ja, Lotta, viel wohler,« antwortete sie.

Lotta hatte einen schweren Tag hinter sich. Es war ihr allmählich ein Licht aufgegangen, daß Sigrun ihr Heim verlassen wollte. Und sie hatte sich seitdem unausgesetzt besonnen, wie sie dieses Unglück verhindern könnte.

»Ich habe mir heute etwas ausgedacht,« sagte sie jetzt. »Ich meine, du solltest über Weihnachten heim nach Stenbroträsk fahren. Das wäre viel besser und richtiger, als hier im Brauhaus zu bleiben.«

Sigrun schien nicht ganz abgeneigt zu sein. Zuerst sagte sie nein, aber als Lotta von dem herrlichen Weihnachtsfest in der Propstei zu sprechen begann, war ihr, als sei dieser Vorschlag doch des Überlegens wert.

Auch an diesem Abend wurde es spät. Sigrun saß still da und grübelte über etwas nach, über das sie sich anscheinend nicht recht klar werden konnte, und Lotta wagte nicht, sie zu stören.

Als es einige Minuten nach elf Uhr war, wurde plötzlich die Tür aufgerissen, eine Frau stürzte herein, machte noch ein paar Schritte und sank dann auf den Fußboden, wo sie mit ausgestreckten Händen auf den Knieen liegen blieb.

»Wenn hier Menschen wohnen, dann helft mir!« rief sie. »Ich bin so krank, so krank! Ich habe Feuer im Körper.«

Jetzt war es mit Sigruns Müdigkeit und Kraftlosigkeit vorbei. Im nächsten Augenblick stand sie neben der Frau, half ihr wieder auf die Beine, legte den Arm um sie und stützte sie:

»Kommt mit mir!« sagte sie mit sanfter Stimme. »Kommt um alles in der Welt mit mir zur Lampe hin, damit ich sehe, was Euch fehlt.«

Zitternd vor Kälte und von heftigem Fieber geschüttelt stand die Fremde da. Sie konnte die Füße nicht heben und schleppte sich nur mühsam vorwärts. Und sie wäre wohl ein Mal ums andere umgefallen, wenn Sigrun sie nicht gehalten hätte.

Als Sigrun die Kranke bis zur Lampe hingeführt hatte, sah sie, daß deren Gesicht ganz verschwollen und im höchsten Grad entstellt war. Ganz, ganz dicht bedeckt mit dunkeln, offenen Eiterbeulen! Und an den Händen war es ebenso.

»Lotta!« rief Sigrun mit leiser, zitternder Stimme. »Lotta, was ist das?«

Aber Lotta brauchte ihr nicht zu antworten. Denn Sigrun sah ebensogut wie sie, was für eine Krankheit das war.

Sie wußte wohl auch, daß sie sich in Todesgefahr begab, wenn sie die arme Frau anrührte, aber sie riß ihr doch entschlossen die Kleider herunter, und während Lotta Hedman das Bett zurechtmachte und reine, kühle Bettücher ausbreitete, die dem heißen, schmerzenden Körper wohltun sollten, zog Sigrun der Kranken frische Wäsche an, und bald hatten sie die wimmernde und vor Frost zitternde Frau zu Bett gebracht.

Dann saßen sie bei ihr und bemitleideten sie, während sie sich vor Schmerzen hin und her warf. Sigrun versuchte, ihr Wasser zu geben, aber sie schien nicht schlucken zu können. Dann kehrte die Pfarrfrau zu Lotta zurück, und nun blieben die beiden, angesichts der Macht dieser fürchterlichen Krankheit, Hand in Hand stumm und entsetzt nebeneinander sitzen.

Nach einer Weile atmeten sie etwas auf. Die Kranke wurde zusehends ruhiger, sie schien weniger zu leiden.

Und wieder nach einer Weile, kaum eine Stunde, nachdem sie zu ihnen hereingekommen war, wurde sie ganz still und rührte sich nicht mehr. Die keuchenden Atemzüge waren verstummt.

Die beiden Freundinnen standen auf, legten die Tote im Bett zurecht und drückten sich alsdann, von dem Anblick dieser furchtbar entstellten Toten wie versteinert, von neuem dicht aneinander.

»In einigen Tagen werde ich ebenso aussehen,« dachten sowohl Sigrun als auch Lotta. »Genau so wie diese Frau. Niemand wird mich kennen, niemand wird wissen, daß ich das bin.«

»Wer mag sie sein?« fragte Lotta flüsternd, und Sigrun antwortete ebenso leise, es sei wohl eine arme Obdachlose.

»Ihre Kleider sind nicht gerade schlecht,« sagte sie, »aber sehr abgetragen. Ihre Stiefel sind naß und ausgetreten. Sie muß lange im Schnee gewandert sein, die Krankheit hat sie dann auf der Landstraße überfallen, und sie ist in ihrem Fieberwahn auf den weiten öden Feldern umhergeirrt. Schließlich hat sie wohl der Schein unserer Lampe hierher geführt.«

Wieder saßen sie schweigend da und schauten starr auf die Tote. Und da, da erwachte ein schrecklicher Gedanke in Sigrun.

»Wenn nun ich hier läge!« dachte sie zuerst. »Warum sollte ich es nicht so einrichten können, daß ich es bin?« fuhr sie fort.

Es war, als hätte Lotta Hedman ihre Gedanken gehört. Sie wendete sich plötzlich nach Sigrun um und schaute sie erschrocken und in atemloser Spannung an.

»Niemand weiß, wer sie ist,« begann Sigrun mit einer Stimme, die nicht mehr leise und flüsternd, sondern fest und entschlossen klang. »Niemand weiß, woher sie gekommen ist, niemand hat sie zu uns hereingehen sehen. Sie ist eine arme Wandrerin ohne Haus und Heim.«

Lotta sagte kein Wort. Sie wollte nicht verraten, was sie befürchtete. Wenn Sigrun nicht selbst an so etwas dachte, dann war es am besten, sie schwieg.

»Das sind die schwarzen Pocken, das weißt du wohl,« fuhr Sigrun im selben Ton fort. »Jetzt liegt die Tote in meinem Bett, dieses und das ganze Brauhaus muß desinfiziert werden, und wir können nicht mehr hier bleiben. Wir müssen ins Wohnhaus übersiedeln. Es ist ja möglich, daß sie mich angesteckt hat, und daß ich an dieser Krankheit sterbe, und dann wäre ja alles gut. Aber es kann auch sein, daß ich am Leben bleiben muß, und dann bin ich wieder mitten in meinem alten Elend.«

»Aber es wird gewiß jetzt besser nach all dem Schweren, das ihr durchgemacht habt,« sagte Lotta eifrig. »Dein Mann sieht sein Unrecht dir gegenüber ein. Er wird sich mehr zusammennehmen.«

Sigrun stand auf, griff nach der Lampe und trug diese ins Brauhaus.

»Wir wollen die hier nicht stören,« sagte sie.

»Ihr habt noch viele schöne Jahre vor euch,« fuhr Lotta fort. »Sobald ihr nur ein bißchen älter seid, bekommt ihr Ruhe. Und er ist doch ein so prächtiger, tüchtiger, hervorragender Mann.«

Sigrun stand im vollen Lampenschein, und Lotta Hedman sah sie staunend an. In wenigen Minuten war ihre ganze Schönheit wiedergekehrt, ja, mehr als das: strahlender Glanz, Hoheit und Macht lag über ihr. Unabweisbar überkam Lotta das Gefühl, Sigrun sei besser als andere Menschen, und sie müsse vor allen anderen beschützt und geliebt werden.

»Lotta,« sagte Sigrun, »du verstehst doch wohl, daß du nur deshalb von Stenbroträsk hierher geschickt wurdest? Du solltest mir dabei helfen.«

Diese Art Sprache verstand Lotta gut, aber sie ließ sich nicht so leicht fangen.

»Es könnte sich auch anders verhalten,« bemerkte sie. »Vielleicht hab' ich hierher gemußt, um dich daran zu hindern.«

Sigrun bat Lotta, sie möge sich in den einen Korbstuhl setzen; dann kniete sie vor ihr nieder, ergriff ihre Hände und sagte mit einer von tiefster Überzeugung durchdrungenen Stimme:

»Ich habe Eduard einst gelobt, ihn nicht zu verlassen, bis der Tod uns scheidet. Und deswegen hab' ich ihn auch bis jetzt nicht verlassen. Und diese ganze Woche hindurch hab' ich Gott angefleht, mich lieber sterben zu lassen, als daß ich mein Gelübde zu brechen brauchte. Selbst jetzt, wo es mir vor ihm graut und ich hätte gehen müssen, hat mich dieses Gelübde zurückgehalten. Du verstehst mich, Lotta, nicht wahr?«

Lotta nickte zögernd.

»Jetzt aber, Lotta, jetzt hat Gott meine Gebete erhört. Er hat den Tod zu mir geschickt. Auf diese Weise kann ich gehen, ohne mein Wort zu brechen. Ach, begreifst du denn gar nicht, daß das Gottes Wille ist?«

»Ich will nichts mehr von dieser Sache hören, Sigrun,« entgegnete Lotta, indem sie einen Versuch machte, aufzustehen; aber Sigrun hielt sie in dem Korbstuhl zurück.

»Gott selbst ist es, der mir hilft, Lotta,« sagte sie. »Auf diese Weise kann ich gehen, ohne Eduard unglücklich zu machen. Eduard wird mich betrauern, das glaube ich gewiß, ein oder zwei Jahre wird er um mich trauern, und es wird eine Trauer ohne Bitterkeit sein. Wie aber, wenn ich Eduard jetzt davonliefe? Meinst du, er würde sich zufrieden geben? O nein! Er würde nach mir suchen, und wenn er mich fände, würde er mich vielleicht töten. Und wenn ich mich von ihm scheiden ließe, würde er sich zu Tode grämen. Aber wenn ich aus dem Leben schiede ... Das wäre nur ein Schmerz für ihn. Auf den Tod brauchte er nicht eifersüchtig zu sein. Verstehst du nicht, Lotta, wie viel besser das für ihn wäre, als alles andere?«

»Für ihn,« antwortete Lotta, »das mag sein; aber für dich?«

»Für mich,« sagte die junge Frau mit einem Lächeln, indem schon ein Abglanz des Himmels lag, »für mich ist jetzt alles gut, was für ihn gut ist.«

»Das beste für ihn wäre, dich behalten zu dürfen,« erwiderte Lotta hartnäckig.

»Aber gerade das kann ich eben nicht!« rief Sigrun mit verzweifelter Stimme. »Du weißt nicht, was es heißt, ständig bewacht zu sein, niemals irgendeine Freiheit zu haben. Du weißt nicht, wie entsetzlich diese ewigen Auftritte, Versöhnungen und Gelübde der Besserung sind, die niemals gehalten werden und nur Verdruß und Erbitterung im Gefolge haben. Du weißt nicht, was es heißt, immer fürchten zu müssen, es werde etwas Entsetzliches geschehen, immer zu Notlügen gezwungen zu sein, obgleich man nur tut, was gut und recht ist. Nein, du weißt nicht, was das alles heißt, sonst würdest du mich nicht ermahnen, zurückzukehren!«

»Nein,« sagte Lotta Hedman, »nein, mein liebes Herz. Ich wußte ja nicht, daß du es so schwer gehabt hast. Erst gestern und jetzt hast du mir davon erzählt. Aber gibt es denn keinen anderen Ausweg?«

Die junge Frau stand auf.

»Es gibt einen Ausweg,« sagte sie mit großem Nachdruck. »Gott hat ihn mir gezeigt, aber Lotta Hedman will nicht erlauben, daß ich ihn gehe.«

Kein Mensch kann die geradezu überwältigende Macht von Sigruns Schönheit beschreiben, wenn sie Worte wie diese sagte. Es ging eine Zauberkraft von ihr aus, deren sie sich wohl bewußt war, und die sie niemals so schonungslos und so erfolgreich auszuüben gewagt hatte, wie in dieser Nacht.

»Ich will ja nichts Unrechtes tun, Lotta,« fuhr Sigrun fort. »Ich will in den Krieg ziehen und den Verwundeten helfen. Mein ganzes Trachten geht darauf aus. Ich schäme mich, weil ich hierbleibe und niemand etwas nütze. Du weißt, wie ich mich gerade danach mein ganzes Leben lang gesehnt habe. Gott hat mir geholfen, Lotta. Warum willst du es nicht auch tun?«

Was konnte die arme Lotta Hedman sagen? Noch niemals hatte sie Sigrun so geliebt wie in dieser Nacht. Sie leistete auch nur noch Widerstand, weil sie wußte, daß Sigruns Mann aus einer Selbstmörderfamilie stammte. Vielleicht würde er sich töten, wenn er seine Frau verlor. Aber wie dem auch sein mochte, sie wagte Sigrun nichts davon zu sagen. Denn sie meinte, es würde Sigruns Angst vor ihrem Manne noch steigern.

»Aber du hast doch deine Eltern –« war alles, was sie über die Lippen brachte.

»Ich bin von den Pocken angesteckt und kann jetzt nicht zu meinen Eltern reisen,« sagte Sigrun.

Damit ging sie auf Lotta zu und drückte sie aufs neue in den Korbstuhl nieder.

»Lotta, ich bin sehr unglücklich,« begann sie wieder. »Jeder Tag ist mir eine Qual. Soll ich mein ganzes Leben lang so leiden müssen?«

»Aber Sigrun, warum willst du uns allen einen solchen Kummer bereiten?«

»Kummer?« sagte Sigrun. »Kummer? Was ist das? Trauer um eine Tote? Was ist das? Was ist das im Vergleich zu der Trauer um einen Lebenden? Ich bin gezwungen, um Eduard zu trauern. Erinnerst du dich nicht mehr, was für ein Mann er war, als ich ihn kennen lernte? Er wußte sich zu beherrschen, war glücklich, strebsam. Er war ein guter Prediger, seine Gemeinde liebte ihn. Und jetzt? Siehst du nicht, wie verändert er ist? In der Armut und Einsamkeit hier geht er zugrunde. Ich muß von ihm fort, Lotta. Wäre ich tot, so würde er sich um eine andere Gemeinde bewerben. Und er würde das werden, was er zu werden versprach, ehe er das Unglück hatte, mir zu begegnen.«

»Du kannst mich niemals zu der Ansicht bekehren, du müssest so etwas Entsetzliches tun.«

Sigrun zuckte die Achseln.

»Ich will dir auch nicht vormachen, daß ich es nur seinetwegen tue. Ich tue es, weil ich unglücklich bin und dieses Unglück nicht länger ertragen kann. Ach, Lotta! Wenn ich doch nicht wirklich sterben darf! Ich weiß, das wäre das Beste. Aber das Nächstbeste für mich ist, zu verschwinden. Ich gehe unter, ich werde wahnsinnig! Ich bin vielleicht schon jetzt wahnsinnig.«

»Und mich willst du überreden, dir dabei behilflich zu sein, daß ich dich nie mehr sehen kann?« sagte Lotta in ihrer Verzweiflung. Sie hatte nicht von sich selbst sprechen wollen, aber sie mußte alle Gegengründe anführen, die es gab.

»Warum solltest du mich nicht mehr sehen können, wenn ein paar Jahre darüber hingegangen sind?« erwiderte Sigrun. »Hör jetzt nur, wie ich es mir gedacht habe! Ich gehe die erste Strecke zu Fuß, bis ich in eine Gegend komme, wo mich niemand kennt. Dort nehme ich mir einen Wagen bis zur nächsten Eisenbahnstation. Ich denke mit der Bahn bis Göteborg zu fahren, und von dort aus reise ich nach Amerika. In Amerika trete ich bei den Krankenpflegerinnen ein und gehe mit diesen später ins Feld. Du siehst, es ist durchaus nicht unmöglich. Und wenn einige Jahre vorüber sind, schreib ich dir.«

»Versuch es nicht, mich zu verführen,« sagte Lotta. »Ich kann nicht so lügen, wie ich es dann tun müßte.«

»Ich habe Tag für Tag lügen müssen, seitdem ich verheiratet bin,« erwiderte Sigrun mit unsagbarer Bitterkeit.

Lotta Hedman hatte das Gefühl, als werde ihr Herz in tausend Stücke zerrissen. Sie war von tiefstem Mitleid erfüllt. – »Meinetwegen mag sie tun, was sie will!« dachte sie. Zu gleicher Zeit aber war sie so außer sich vor Angst über das, was Sigrun vorhatte, daß sie zu weinen begann.

»Gott wollte mir helfen, aber Lotta Hedman will es nicht,« sagte Sigrun.

»Aber Sigrun!« rief Lotta, indem sie mit der Rückseite ihrer Hand rasch eine Träne abwischte. »Willst du mich zwingen, es zuzugeben, daß du dich selbst zugrunde richtest? Du willst etwas ganz Entsetzliches tun, schon der Gedanke daran macht mich schaudern. Dein Name soll unter den Lebenden ausgelöscht sein. Du willst dich ohne Freunde, ohne Eltern, ohne auch nur sagen zu können, woher du kommst, in die Welt hinausbegeben. Ach, du gerätst in eine furchtbare Lage, wenn es dir glückt, und in Schmach und Schande, Wenn du entdeckt wirst!«

Diese Worte hatten nicht den geringsten Erfolg. Die junge Frau war ebenso fest entschlossen wie vorher. Aber sie hörte nun mit dem Bitten und Überreden auf und begann zu drohen:

»Bedenke das eine, Lotta! Wenn du mir heute nacht nicht in dieser Weise hilfst, gehe ich morgen zu dem, der beim Kirchenvorsteher auf mich wartet.«

»Das tust du niemals,« sagte Lotta.

»Irgend etwas tue ich. In die alten Verhältnisse gehe ich in keinem Fall zurück!«

Ehe Lotta hierauf antworten konnte, trat ein Zwischenfall ein.

Die beiden hörten Schritte, die sich dem Brauhaus näherten, vorsichtige, aber schwerfällige und deutliche Schritte. Diese Schritte hielten nicht beim Eingang an, sondern setzten ihren Weg rings um das Haus fort. Ein paarmal noch wurden sie wieder vernehmlich, dann verhallten sie.

Sigrun machte Lotta ein Zeichen; diese eilte an ein Fenster, schob den Vorhang zurück und schaute in die helle Winternacht hinaus.

»Es war der Knecht,« sagte sie.

Die schöne Frau richtete sich auf. Sie runzelte die Stirn, hob den Kopf und warf einen vernichtenden Blick auf einen, der nicht da war.

»So eine Runde hat er jede Nacht gemacht, seitdem ich hierher übergesiedelt bin,« sagte sie. »Sein Herr hat es ihm befohlen. Er läuft hier herum und bewacht mich, er muß horchen, ob ich einen Liebhaber bei mir habe.«

Lotta entgegnete kein Wort. Sie gab allmählich jeden Widerstand auf.

»Du meinst, Eduard werde sich ändern, Lotta. Da siehst du es! Traut er mir etwa jetzt mehr als vorher? Durch seinen Knecht läßt er mich ausspionieren.«

Sie sprach mit erhobener Stimme. Das Mißtrauen ihres Mannes kränkte sie in tiefster Seele.

»Hiernach können sich die beiden nie mehr aussöhnen,« dachte Lotta. »Ich glaube, er hat ihre Liebe getötet. Und dann ist es ja nur gut, wenn sie geht.«

Das war der Grund, weshalb Lotta Hedman nicht länger Widerstand leistete: Die plötzliche Überzeugung, daß Sigruns Liebe erloschen war oder wenigstens am Erlöschen sei, obgleich sie sich das selbst nicht eingestehen wollte, ja, es vielleicht nicht einmal wußte.

Sie hörte auf, Sigrun zu widersprechen. Sie stimmte ihr zwar in keiner Weise bei, aber sie hörte auf, ihr zu widersprechen.

Danach verging eine geraume Zeit unter eiligen Vorbereitungen. Sigrun legte ihre Ringe ab und zog ein Kleid von Lotta an. Hierauf packte sie etwas Wäsche und ihre siebenhundert Kronen in eine kleine Ledertasche, die auch Lotta Hedman gehörte. Und ebenso mußte ihr diese einen Mantel und ein Kopftuch geben. Sämtliche Kleider von Sigrun mußten dableiben. Als sie fast fertig war, blieb sie vor Lotta stehen:

»Du verstehst doch, Lotta, daß Gott das alles so gefügt hat,« sagte sie. »Sei also nicht ängstlich, weder für dich noch für mich!«

Sigruns Mut und Geistesgegenwart waren in ihrer Art bewunderungswürdig. Sie zögerte keinen Augenblick und verriet auch nicht die geringste Angst.

Aber als alles bereit war, hatte sie doch noch einen schweren Augenblick.

»Ich verlasse vieles, was mir sehr lieb ist,« sagte sie unter strömenden Tränen. Und der ganze Ernst des für alle Zeiten entscheidenden Schrittes, den sie jetzt tat, schien ihr Plötzlich aufzugehen.

»Jetzt werde ich das kleine Bild des Stenbroträsker Pfarrhofes, das mir ein so großer Trost gewesen ist, nie mehr sehen. Und auch den kleinen Anhänger mit dem Bild meines Töchterchens wage ich nicht mitzunehmen.«

»Ach, das könntest du jedenfalls mitnehmen,« warf Lotta ein. »Aber du brauchst ja nicht fortzugehen,« fügte sie hinzu.

»Und, Lotta, du weißt, eine von den Kühen hab' ich so sehr gern. Gib ihr ein wenig gutes Futter, wenn du einmal Gelegenheit dazu hast!«

Mit diesen Worten ging Sigrun auf die Tür zu.

»Vergiß nicht, Lotta, meine Christrose auf Eduards Schreibtisch zu stellen, sobald sie aufblüht!«

Hierauf küßte sie Lotta Hedman zum ersten- und einzigenmal und machte sich dann auf den Weg.

* * *

Sigrun war noch kaum eine Viertelstunde gegangen, als Lotta Hedman abermals Schritte vor dem Brauhaus hörte. Diesmal waren es vorsichtige leichte Schritte, nicht das schwerfällige Trampen des Knechts, und Lotta dachte sofort: »Ach, welches Glück! Gott sei Lob und Dank! Sigrun kehrt zurück.«

Aber kaum hatte sie den Riegel zurückgeschoben und die Tür geöffnet, als sie auch schon einem fremden Manne gegenüberstand. Man kann sich denken, wie sehr die Ärmste erschrak. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch niemals ein so schlechtes Gewissen gehabt.

»Ach, Lotta, Lotta!« dachte sie. »Nun fängt es schon an.«

Der Mann trug einen großen Schlapphut und war schlecht gekleidet. Es war irgendein Landstreicher, das sah Lotta sofort.

»Kommen Sie ums Himmels willen nicht hier herein!« warnte sie, indem sie ihm in den Weg trat. »Wir haben die schwarzen Blattern auf dem Hof. Dort drinnen in der Kammer liegt eine Tote.«

Aber der Mann lief nicht davon, wie Lotta erwartet hatte. Er stand noch immer unter der Tür und schaute ins Brauhaus hinein.

Und ehe Lotta erraten konnte, was er im Sinne hatte, war er schon mit ein paar Schritten an der Kammertür und erblickte die Tote.

Allein Lotta ließ ihm nicht viel Zeit, lange Beobachtungen anzustellen. Sie lief ihm nach, legte die Arme um ihn, riß ihn zurück ins Brauhaus und schloß die Kammertür ab.

Der Mann leistete keinen Widerstand. Er dachte gewiß, sie wolle ihn vor der Ansteckung schützen.

»O, es ist nicht gefährlich für mich,« sagte er. »Ich bin doch schon angesteckt, wenn ich überhaupt angesteckt werden soll. Die dort liegt, ist nämlich meine Frau. Vor ein paar Tagen ist sie krank geworden, und gestern ist sie mir im Fieberwahn davongelaufen.«

Der Mann sprach die Wahrheit, und Sigruns ganzer Plan war verfehlt. Lotta war das vollkommen klar, und sie meinte, das Dach stürze über ihr zusammen.

»Wer seid Ihr denn?« fragte sie.

»Im Pfarrhaus hier bin ich nicht ganz unbekannt,« sagte der Mann gelassen und mit gedämpfter Stimme. »Ich bin Scherenschleifer und hab' Euch vor etwa acht Tagen Eure Scheren und Messer geschliffen. Mit Pferd und Schleiferkarren und Schleifstein zieh' ich von Hof zu Hof und habe kein Krankenzimmer zu meiner Verfügung. Als Rut krank wurde, hatte ich die Absicht, sie in ein Krankenhaus zu bringen, aber dann ist mir das arme Ding davongelaufen. Den ganzen Tag bin ich umhergefahren und habe sie gesucht. Ich möchte wohl wissen, wie sie gerade hierher geraten ist?«

Nun stürzte nicht nur das Dach über Lotta Hedman ein, sondern auch die Wände mitsamt dem Boden, auf dem sie stand. Aber trotz ihrer Verwirrung machte sie doch einen Versuch, Sigrun zu retten.

»Aber die dort drinnen liegt, ist ja gar nicht Eure Frau,« sagte sie. »Es ist meine liebe Herrin.«

»Wie, ist die schöne Pfarrerin tot?« fragte der Scherenschleifer. »Und hat sie hier im Brauhaus krank liegen und sterben müssen?«

»Das hat sie selbst so haben wollen,« erklärte Lotta Hedman.

»Dann muß ich um Entschuldigung bitten, weil ich mich hier eingedrängt habe,« sagte der Mann. Seine eine Schulter hielt er in die Höhe gezogen, und das trug dazu bei, ihm ein mißvergnügtes und etwas säuerliches Aussehen zu geben. Lotta erinnerte sich sehr gut, daß er sich bei seinem letzten Besuch im Pfarrhaus laut und unhöflich aufgeführt hatte. Jetzt, angesichts von Tod und Krankheit, war er ruhig und bescheiden.

Zu Lottas großer Freude ging er wirklich dem Ausgang zu, hielt aber plötzlich jäh an. Mitten in seinem Weg stand ein Paar nasse, schneebedeckte Schuhe.

»Aber das da sind doch Ruts Schuhe,« sagte er. »Was soll das heißen?«

Jetzt war Lotta Hedmans Erfindungsgabe zu Ende, und sie wußte sich keinen anderen Rat mehr, als die Wahrheit zu sagen.

* * *

Sigrun war an der Kirche und dem Kirchhof von Algeröd vorbeigekommen und befand sich eben auf der Brücke über das Flüßchen, als sie Lotta Hedmans Stimme hinter sich rufen hörte.

Gleich darauf hielt ein Schlitten neben ihr, Lotta stieg heraus und erklärte ihr, was geschehen war. Zugleich berichtete sie, der Scherenschleifer habe versprochen, zu schweigen.

Der Scherenschleifer saß auf dem Schlittenrand, sah unwirsch und sauer drein, sprach aber ebenso ruhig und gelassen wie vorher.

»Die Sache ist die,« sagte er, »ich kann mich nicht darein finden, daß Rut nicht unter ihrem rechten Namen ins Grab kommen soll. Sonst aber bleibe ich bei dem, was ich versprochen habe. Die Frau Pfarrer soll sich in meinen Schlitten setzen, dann fahre ich sie ins Pfarrhaus zurück, niemand soll das geringste erfahren. Ich werde schweigen wie das Grab.«

Sigrun trat zu dem Manne. Sie hatte ein schwarzes Tuch über den Kopf gebunden; das schob sie nun zurück.

»Und nur darum soll ich in mein Elend zurück?« fragte sie.

Der Mann schien unruhig zu werden. Er warf ihr einen raschen Blick zu und schaute dann zur Seite.

»Sie ist tot; was macht es ihr aus, unter welchem Namen sie unter die Erde kommt?« sagte Sigrun mit einer Stimme, die vor Verzweiflung bebte.

»Ich meine, es sei nicht recht gegen Rut,« versetzte der Mann eigensinnig.

»Nein,« erwiderte Sigrun, »es ist nicht recht, das weiß ich. Aber glaubt doch ja nicht, daß ich jetzt noch wieder heimgehen werde. Das tu' ich nicht.« Sie deutete auf den Fluß, dessen schwarzer Wasserspiegel zwischen den schneebedeckten Ufern hervorleuchtete.

»Da hinein geh' ich,« sagte sie.

Fest und entschlossen stand sie vor dem Manne. Er konnte genug von ihrem Gesicht sehen, um zu erkennen, welche feste Entschlossenheit es ausdrückte: jawohl, sie würde tun, was sie sagte.

Er wandte sein Gesicht zur Seite, als ob er sich scheue, sie anzusehen.

»Rut würde allerdings ein viel schöneres Begräbnis und alles, was dazu gehört, bekommen, das seh' ich wohl ein,« sagte er. »Und mir macht es auch nicht soviel aus, denn sie war nicht eigentlich meine Frau, wenn sie auch die letzten paar Monate mit mir herumgefahren ist. Aber ich meine doch...«

Lotta schrie laut auf. Sigrun war von dem Manne weggeeilt. Schon stand sie drüben am Brückengeländer und bückte sich, um unten durchzuschlüpfen.

»Um Gottes willen!« rief der Scherenschleifer und lief ihr nach. »Tun Sie sich kein Leid an! Es soll alles sein, wie Sie wollen!«

»Nie, niemals kehre ich in die alten Verhältnisse zurück, das sage ich Ihnen!« versetzte Sigrun.

»Nein, das sollen Sie auch nicht. Ich werde schweigen.«

»Sigrun ist heut nacht gar zu merkwürdig,« dachte Lotta. »Niemand kann ihr widerstehen. Sie macht mit uns allen, was sie will.«

Das schien die Wahrheit zu sein. Der kleine verdrießliche Mann wußte gar nicht, wie er sich ihr gefällig genug zeigen sollte.

»Heute hab' ich nicht mein gewöhnliches Fuhrwerk,« sagte er. »Ich mußte, um Rut suchen zu können, heute morgen einen Schlitten entlehnen. Aber gerade darum könnte ich Sie wohl ein Stück Weges weiterfahren. Es ist für jemand, der gewohnt ist, in der warmen Stube zu sitzen, nicht so leicht, durch den Schnee zu wandern.«


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