Manfred Kyber
Grotesken
Manfred Kyber

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Eine geschwänzte Geschichte

Ich werde es nie verwinden, daß ich keinen Schwanz mehr habe, wie wir ihn früher alle besaßen, als wir noch auf Bäumen lebten und auf alle Vorübergehenden oder Vorüberhupfenden mit Bananenschalen schmissen. Wie schön war es auf den Bäumen – wenn ich einen glatten hohen Baumstamm sehe, so überkommt mich heute noch die plötzliche Sehnsucht, daran hochzugehen, geschwänzt und bekrallt, wie einst in schöneren Zeiten. Und dann der Winterschlaf – welch herrliche Bilder gaukelt er einem vor von einer verlorenen, ebenso großen wie glücklichen Vergangenheit. Mit Trauern sieht man heute bei Eintritt des Herbstes sein Federbett liegen und weiß doch, daß man sich keineswegs bis zum Frühling darin einwickeln darf, sondern jeden Morgen daraus herausgestöbert wird mit der ganzen Gemütlosigkeit einer ungeschwänzten und unbekrallten Zivilisation. Wie weich und wärmend war das Winterfell, das man schon an den ersten kühlen Tagen, wenn es dem Winter zuneigte, beruhigend an sich wahrnahm, welch kokette Farben und frohe Ringel zeigte das Sommerfell, wenn man im Frühling aufwachte und sich den Schlaf aus den Augen rieb mit den Tatzen, an denen man in süßem Halbbewußtsein gelutscht hatte! Wie schön war es, sich nach eingesogenem und verschlucktem Mittagbrot in seine Höhle zurückzuziehen und sich mit emsig eingestopftem Moos den Nachmittagsschlummer zu sichern. Wehe dem, der ihn störte – fauchend fuhr man durch die Mooswand und verbat sich zähnefletschend jede Einmischung. Heute kann man nicht mehr mit Moos zustopfen, man hat sogar Klingeln an allen Türen und wenn die Leute einen herausklingeln, so nützt alles Fauchen und Zähnefletschen nichts mehr. Das Schlimmste von allem aber ist das Fehlen eines Schwanzes. Nicht nur aus ästhetischen Gründen, obgleich es herrlich aussieht, wenn man spazieren geht und stolz und selbstbewußt den Staub mit seinem Schwanze aufwirbelt und ihn in zierlichen Ringeln hin und her schwanken läßt. Nicht nur darum – nein, seine praktische Verwendbarkeit ist eine ungeheure und kaum eine Stunde am Tage vergeht, wo ich ihn nicht schmerzlich und sehnsüchtig vermisse. Wie oft möchte ich mit ihm die Gartenbank putzen, bevor ich mich setze, wie oft Rhythmus in meine Gedanken bringen durch leichtes Kreisen, wie oft ihn verbindlich aufrollen, wenn ich einer schönen Dame begegne! Ganz schlimm ist es, wenn man etwas tragen muß, wenn man im Gehen die Zeitung lesen will und nun nicht weiß, wo man den Regenschirm lassen soll, den der Schwanz gefällig und stets bereit umklammert hätte. Wie angenehme einen Bekannten am Schwanz festzuhalten, wenn er eilig vor einem geht und nicht auf einen achtet, wie schön, sich seinen Schwanz um den Hals zu legen, wenn es kühl wird und zugig, oder wie elegant sieht es aus, wenn man, den Schwanz nachlässig über den Arm gelegt, einen Salon betritt und nur leise und kaum merklich die hell gefärbte Spitze bewegt!

Mit so sehnsuchtsvollen Rückerinnerungen saß ich eines abends im Gasthaus und sah wehmütig auf kleine Papierservietten und Tischtücher, mit denen man sich zur Not eine Art Winterlager in einer einsamen Ecke hätte zurechtsammeln können. Dann blickte ich auf den Kronleuchter, der verlockende Ketten hatte und unter einem bemalten Glasdach hing, das jedenfalls zu öffnen war. Plötzlich packte mich unwiderstehlich jene Stimmung, die mich beim glatten hohen Baumstamm immer überkommt – mit einem Satz sprang ich auf den Tisch, von dort auf den Kronleuchter, und schwang mich mit der Schnelligkeit aller in mir schlummernden atavistischen Talente an den Ketten bis zum Glasdach, das ich aufstieß und durch das ich mit gurgelnden Lauten des Vergnügens hinauskroch.

Ich kam nicht ganz bis nach oben. Ich fühlte mich gepackt und heftig nach unten gezogen. Jetzt haben mich die Leute im Gasthaus festgekriegt, dachte ich, sie halten mich gewiß für verrückt und wollen mich einsperren. Doch woran hielten sie mich? Meine Arme hatte ich über dem Glasdach und meine Beine fühlte ich frei und unbehindert herunterbaumeln. Und doch riß man an mir, mehr zärtlich als ungeduldig. Wahrhaftig, man zog mich am Schwanz – ich hatte also einen und war wieder, was ich ehemals war, eine unsagbar herrliche Entdeckung! Ich sah auf meine Arme und meine Brust: sie waren befellt, dunkel mit sehr manierlichen und hübschen helleren Punkten und Streifen. Inzwischen hatte man mich nach unten gezogen und umringte mich staunend. Aber ich wurde nicht eingesperrt, im Gegenteil, alles huldigte mir und ich sah, wie alle Gäste befellt und geschwänzt waren wie ehedem – es war eine allgemeine Rückentwicklung eingetreten, als habe sich die Natur wieder auf ihre alten Rechte besonnen. Mir aber huldigte man, weil ich von allen Anwesenden den schönsten Schwanz hatte. Es war der Schwanz eines Halbaffen, sehr lang und am Ende dicker und pinselartig verlaufend, mit einer Zeichnung, die etwas Berückendes hatte und mit einer feinen weißen Spitze am Ende, die nervös und sehr elegant vibrierte. Ein junges Mädchen, dessen weißes Kleid im Ausschnitt braunes Fell sehen ließ, hatte einen fast so schönen Schwanz, nur kürzer, ungefähr ähnlich dem Schwanz einer dicken Hauskatze. Es sah reizend aus, wie sie ihn unter dem Kleide zierlich hin und her bewegte. Ich glaube, auch ich machte starken Eindruck auf sie, meines Schwanzes und des Felles wegen, das so bunt und hübsch gesprenkelt war.

»Wir wollen die Wiederkehr der geschwänzten Baumkultur feiern,« rief ich begeistert, sprang mit sehr kurz gewordenen Beinen und erheblich langen Armen auf den Tisch, fletschte die Zähne und trank ein Glas Bier auf einen Zug leer. Alle stießen mit mir an in bekrallter Freude und befelltem Jubel.

»Du bist der Wiedererwecker der Baumkultur, der Prophet der Geschwänzten,« rief ein Freund von mir, der einen langen dünnen Affenschwanz hatte, »du hast schon immer so etwas Atavistisches an dir gehabt, du konntest mit den Ohren wackeln und hattest Fingernägel, die mehr Krallen als Nägel waren. Jetzt ist das alles zum Segen der Baummenschheit wieder durchgebrochen.«

Ich nahm meinen Schwanz über den Arm und entzog mich allen Ovationen. Ich eilte auf die Straße, um zu sehen, ob das Wunder der Wiedergeschwänztheit, die Herrlichkeit der Wiederbekralltheit und die Freude der Wiederbefelltheit auch dort eingezogen und allgemein wären. Das Mädchen mit dem Katzenschwanz folgte mir. Ich umpfotete sie und sprang mit ihr in eine Elektrische. Alle waren befellt und hatten Schwänze, wenn auch sehr verschiedener Art. Schöne Schwänze wie unsere waren selten und wurden sehr beneidet. Alle Sitzplätze der elektrischen Bahn hatten Löcher, durch die man die Schwänze herabhängen lassen konnte und es bot einen reizenden Anblick, wie die Schwänze von den Seitenwänden des Wagens winkten in allen Farben und Formen. Trotz aller Baumkultur wollte der Schaffner Geld haben. Ich sah nicht ein, warum. Ich entwischte auf das Dach des Wagens, kletterte an einer Telegrafenstange hoch, die in der Nähe war und begann mit Papierfetzen zu schmeißen, die ich in der Tasche hatte. Das junge Mädchen war auf einen Baum geklettert und saß nun, leise miauend, einen Astbreit unter mir. Im Wagen gingen die Schwänze wild durcheinander und es wurde heftig gebellt, denn viele Menschen erinnerten an Hunde. Man nahm für und gegen mich Partei. Die Hunde konnten das Miauen des jungen Mädchens nicht vertragen und schimpften darüber. Aber die mehr Affenähnlichen und Katzengleichen im Wagen traten für uns ein, fauchten den Schaffner an, stiegen aus und der Wagen fuhr mit den Schnauzern allein weiter. Nur die Hammelähnlichen hatten gar nichts gesagt. Sie blökten bloß etwas unruhig.

Wir hatten gerade am Theater gehalten und ich schlug dem jungen Mädchen vor, herunterzuklettern und einmal einen Blick ins Theater zu tun, das nun doch auch angenehm und entsprechend verändert sein müsse. Sie kletterte herab, zog die Krallen ein und fing an zu schnurren.

An der Kasse nahm ich keine Eintrittskarte, sondern zeigte die Zähne. In gleicher Weise fletschte ich mich mit dem schnurrenden jungen Mädchen ins Parkett hinein. Das Theater war sehr besetzt und alles sah sich knurrend, schnurrend, schwanzwedelnd und blökend ›Romeo und Julia‹ an.

Ein großer Teil des Publikums saß auf allen Vieren, ein anderer kletterte an den Logenbrüstungen herum oder verankerte sich mit den Schwänzen in den Lehnen der Sessel.

»Es ist die Nachtigall und nicht die Lerche,« sagte Julia und suchte etwas in Romeos Fell.

»Die Lerche ist's und nicht die Nachtigall,« sagte Romeo und kratzte sich.

Nun hörte man Gebell hinter der Szene und Julia drängte selbst zum Aufbruch. Sie reichte Romeo nicht eine Strickleiter – nein, die brauchte er nicht mehr – nur einen dünnen Strick benötigte er und daran schwang er sich mit allen Vieren aus dem Fenster. Noch einmal umpfoteten sie sich im letzten Kuß, noch will Julia Romeo am Schwanz festhalten, aber das Knurren der Gräfin Capulet hinter der Szene scheucht die Liebenden auseinander und mit katergleichen Lauten verschwindet Romeo im Dunkel der Nacht.

Leider konnte das Stück nicht zu Ende gespielt werden. Bei der Kampfesszene der Familien Montague und Capulet, die sehr an Schnauzer erinnerten, entstand nach längerem verhaltenem Knurren eine solche Beißerei, daß das Publikum, mitgerissen und begeistert, sich in Parteien zu spalten begann und bellend, fauchend und blökend aufeinander losging.

Ich führte meine Dame in den nahen Park hinaus, wo alles auf Bäumen saß und sich und seine Schwänze im Abendlicht schaukelte.

Endlich fand ich einen stillen Baum und ging mit meiner Dame daran hoch. Oben ordnete sie ihr Fell mit graziösem Krallenkämmen und erzählte in miauenden Tönen von ihrem Leben und daß sie mich beim ersten Blick geliebt habe. Ich sagte ihr das Gleiche, denn das sage ich in solchen Fällen immer, und fragte sie, ob sie lieber Septemberkinder oder Maikinder haben wolle.

»Maikinder sind meist kräftiger,« meinte sie, »wenigstens hat Mama bei ihren dreißig Geburten die Maiwürfe immer bei weitem vorgezogen.«

Unten wandelten Liebespaare mit verschlungenen Schwänzen.

»Die da unten werden Septemberkinder kriegen,« sagte ich neidisch, »aber Ihre Mutter hat recht. Wir wollen bis zum Frühling warten und es lieber bei den Maikindern lassen. Mir wird überhaupt so kühl und schläfrig. Ich glaube, der Winter kommt.«

Ich kroch in ein großes Astloch und stopfte es mit Moos zu. Dann schlief ich ein.

Als ich erwachte, saß ich im Gasthaus und hatte ein Gefühl der Verkümmerung in mir. Ich faßte nach meinem Schwanz – er war nicht mehr da. Ich besah meine Hände – sie waren, obwohl reich an Atavismen, nackt und ohne Fell. Nur mit den Ohren konnte ich noch wackeln, aber das befriedigte mich nicht. Eine junge Dame am Tisch gegenüber lachte darüber. Sie hatte einige Aehnlichkeit mit dem schnurrenden und miauenden jungen Mädchen, mit dem ich auf dem Baum gesessen hatte und das mit mir zusammen in der vierfüßigen Vorstellung von Romeo und Julia gewesen war. Ich wagte aber nicht, sie daraufhin anzureden – die ganze Sache schien mir nicht mehr so sicher. Ich sah aus dem Fenster und auch hier erblickte ich nur Menschen, denen man wohl die Baumkultur noch ansah, die sie aber doch hinter sich hatten, ohne etwas dadurch zu gewinnen. Kein Fell mehr, keine Krallen, keine Schwänze – ein trüber Alltag der Zivilisation ohne Winterschlaf und Höhlen.

Ich zahlte ohrenwackelnd und ging betrübt nach Hause.

Ich werde es nie verwinden, daß ich keinen Schwanz mehr habe. Aber es ist doch schön, daß ich ihn einmal hatte und welch einen schönen – ganz lang und mit einem dicken pinselartigen Ende und einer hellen Spitze, mit Ringeln und Streifen – einen Schwanz, der auch in der Erinnerung noch eine wirkliche geschwänzte Geschichte ist und bleiben wird.


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