Manfred Kyber
Grotesken
Manfred Kyber

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Träume

Herr Theobald Kümmelkorn, in Firma Kümmelkorn Nachfolger, Käse en détail, stand in seinem Laden und wickelte kleine Käsegebilde emsig in bedrucktes Papier ein. Es war eine alte Kunstgeschichte und Herr Kümmelkorn warf hin und wieder einen wohlmeinenden, scherzhaften Blick auf die nackten Gestalten, bis er sie mit kundigen Fingern zu einer Einheit mit seinem Käse verwob. Ein Bild gefiel ihm ausnehmend und er hielt es länger als sonst in den fettigen Händen: ›Aphrodite von Melos, Museum Louvre, Paris‹, stand darunter.

»Wenn die Arme hätte,« sagte Herr Kümmelkorn lächelnd, »das wäre eine feine Verkäuferin für Kümmelkorn Nachfolger, Käse en détail. Ja, ja, die Pariserinnen!«

Man muß erklärend hinzufügen, daß Herr Kümmelkorn nicht die Eignung besaß, hellenische Plastik mit den Augen des Griechen zu sehen, sondern mit ganz anderen Augen, mit Augen, die ihm in diesem Fall kartoffelartig aus dem Kopfe quollen.

In diesem erhabenen Moment, als Herr Kümmelkorn versuchte, die Beziehungen seiner Käseseele zum klassischen Griechenland herzustellen, schrie die Türglocke verständnislos auf und Frau Schauerlich trat in den Laden. Frau Schauerlich war eine betagte Dame in einem karierten Umschlagtuch, die den guten Ruf von 820 Einwohnern ihres Heimatortes mit Ausnahme des 830. Einwohners, der sie selbst war, zerkaut hatte, sozusagen nach Fletcher zerkaut, daß nichts mehr nachgeblieben war. Es glich sich aber insofern aus, als sie in ihrem großen Gerechtigkeitsgefühl niemand verschont hatte außer sich selbst, da sie sich in ihrem großen Gerechtigkeitsgefühl sich selbst gegenüber für befangen gehalten hatte.

»Guten Tag, Herr Kümmelkorn, ich möchte einen Kräuterkäse,« sagte sie.

Herr Kümmelkorn nahm einen Kräuterkäse und wickelte ihn ein, aber nicht in die Aphrodite von Melos, sondern in eine belanglosere Person.

»Herr Kümmelkorn,« sagte Frau Schauerlich, »ich habe diese Nacht geträumt, daß ich einen Käse bei Ihnen kaufte und Sie mir einen zweiten dazu schenkten.«

»So, so, wie war denn das? Ich dachte, Träume bedeuten nichts,« sagte Herr Kümmelkorn.

»Träume bedeuten sehr viel und das war so: mir war, als habe ich ein schönes kleines Knäblein geboren und für dieses schöne Knäblein war der zweite Kräuterkäse bestimmt,« sagte Frau Schauerlich und machte ein Gesicht, als sei ihr eine überirdische Sendung zuteil geworden.

Frau Schauerlich war siebzig Jahre alt und hatte nach menschlicher Voraussicht eine Niederkunft nicht mehr zu erwarten. Zudem konnte man, wenn man Frau Schauerlich ansah, die Illusion von der Geburt eines schönen Knäbleins selbst mit Aufbietung der tollsten Phantasie nicht mehr in sich herstellen.

»Das scheint mir doch eine kühne Folgerung zu sein,« sagte Herr Kümmelkorn im Bestreben, sich schützend vor seinen Käse zu stellen, »daß der kleine Schauerlich, der ja auch gar nicht da ist, schon in seiner ersten Lebensstunde Kräuterkäse zu sich nehmen sollte.«

»Es sind schon größere Dinge geschehen,« sagte Frau Schauerlich. »Uebrigens, was haben Sie denn da für ein Bild auf dem Ladentisch? Haben Sie oft solche Bilder bei sich?«

»Ach, eine kleine Pariserin, zum Einschlagen, ja, ich hatte sie gerade zur Hand, ja,« meckerte Herr Kümmelkorn verlegen und bedeckte die Aphrodite von Melos schützend mit seiner fettigen Tatze.

Frau Schauerlich aber ergriff das Bild mit einer gewissen kriminalistischen Begabung und betrachtete es aufmerksam.

»Das ist ja eine tote Person,« sagte sie geringschätzig.

»Wieso tote Person?« fragte Herr Kümmelkorn verletzt, »weil sie keine Arme hat? Deswegen kann sie ruhig leben.«

»Da steht doch ›Museum‹ darunter,« sagte Frau Schauerlich, »im Museum sind lauter tote Personen.«

»Schade,« sagte Herr Kümmelkorn.

»Wieso schade? Herr Kümmelkorn, es ist gut, daß das niemand gehört hat außer mir. Ich habe ja viel Gerechtigkeitsgefühl, aber ein anderer –«

Herr Kümmelkorn verstand und wickelte den zweiten Kräuterkäse ein, wobei er die Aphrodite von Melos geschickt unter den Ladentisch jonglierte.

»Es ist schön von Ihnen, daß Sie nun auch Gerechtigkeitsgefühl für meine Träume haben,« sagte Frau Schauerlich, »Sie träumen wohl auch oft, Herr Kümmelkorn?« schloß sie mit einem Seitenblick nach dem verschwundenen Bild der toten Person.

»Eigentlich nicht,« sagte Herr Kümmelkorn bescheiden, »oder wenn ich träume, so erscheint mir das nicht so klar wie das, was ich sonst erlebe. Auch denke ich beim Aufwachen immer gleich an Käse und dann habe ich alles andere vergessen.«

»Träume sind symbolisch,« sagte Frau Schauerlich, »man träumt das eine und es bedeutet das andere.«

»Ja, wenn die Geburt eines schönen Knäbleins Kräuterkäse bedeutet – – ich muß sagen, ich würde auch ganz gerne träumen, daß ich ein schönes Knäblein gebäre,« sagte Herr Kümmelkorn, »das wäre doch sehr vorteilhaft, sozusagen ein Traum in meiner Branche.«

»Träumen Sie lieber von Läusen. Läuse bedeuten Geld,« sagte Frau Schauerlich, »aber Sie müssen erhabener werden, Herr Kümmelkorn. Schalten Sie allen Käse aus und denken Sie nur an das Erhabene.«

Abends vor dem Einschlafen schaltete Herr Kümmelkorn allen Käse aus und dachte nur an das Erhabene. Er dachte so lange an das Erhabene, bis er einschlief, aber trotz des scharfen Denkens an das Erhabene träumte er nicht von Läusen. Sei es, daß er nicht genug an das Erhabene gedacht hatte, sei es, daß das Bild der kleinen Pariserin in seiner Brieftasche ihn noch beunruhigte oder daß seine Käseseele Anschluß an das klassische Griechenland suchte – plötzlich sah er die Muschelmöbel seines Schlafzimmers im Strahlenglanz schimmern und mitten darin die Aphrodite von Melos. Herrn Kümmelkorn traten die Augen kartoffelähnlich aus den Höhlen, er ruderte sehnsuchtsvoll mit den Armen und näherte sich der Aphrodite von Melos mit den Bewegungen eines schlittschuhlaufenden Pavians.

Doch er erwachte jählings – vor ihm im Morgengrauen stand seine Frau und schlug ihm mit einem nassen Lappen auf den Kopf.

»Du Scheusal,« schrie sie, »was hast du für eine halbnackte Person in deiner Brieftasche?«

»Ach, die kleine Pariserin,« haspelte Herr Kümmelkorn erschreckt und enttäuscht, »das ist doch eine tote Person. Es hat mich interessiert, aus Bildungsdrang, sie ist in einem Museum und jedenfalls ausgestopft.«

Frau Kümmelkorn warf den nassen Lappen wieder auf den Boden und nahm die Diele weiter damit auf.

»Ausgestopft oder nicht. Das ist kein Bildungsdrang, ich kenne dich, Kümmelkorn, und Strafe muß sein. Ich werde mich noch heute neu equipieren und du wirst es bezahlen.«

Mit diesen Worten walzte Frau Kümmelkorn in die Küche und steckte das Bild der ausgestopften Person ins Feuer. Frau Kümmelkorn hatte sozusagen etwas Griechenfernes.

Herr Kümmelkorn saß bald darauf bedrückt in seinem Käseladen und dachte heftig über Träume nach. Wie hatte doch Frau Schauerlich sehr richtig gesagt? Man träumt das eine und es bedeutet das andere. Wenn man träumt, daß man ein schönes Knäblein gebärt, so bedeutet das Kräuterkäse und wenn man von der toten kleinen Pariserin träumt, so bedeutet das Krach und einen nassen Lappen um den Kopf. Herr Kümmelkorn beschloß aber, seine Bemühungen noch nicht aufzugeben. Er wollte weiter allen Käse ausschalten und an das Erhabene denken, nach dem Erhabenen aber an Läuse, an Läuse und nochmals an Läuse. Das war wenigstens etwas, womit man sicher ging. Denn Läuse bedeuteten ja keinen Kräuterkäse und keinen nassen Lappen, sondern Geld.

Jeden Abend vor dem Einschlafen schaltete Herr Kümmelkorn nun allen Käse aus und dachte an das Erhabene, nach dem Erhabenen aber dachte er an Läuse. Erst wenn sich ein ideeller Juckreiz einstellte, schlief er ein. Viele Abende dachte er das vergeblich, aber nachdem er gelernt hatte, die Gedanken des Abends durch ähnliche Eindrücke des Tages zu ergänzen und zu verstärken, indem er viel über Läuse las und fleißig mit allen Leuten redete, die je eine Laus gesehen oder ihr eigen genannt hatten, erlebte er einen nie erahnten Erfolg seiner gesteigerten Gedankenverlausung. Vom Schlaf umgaukelt, sah er, wie sich die Türen seines Kleiderschrankes öffneten, und aus ihrem Rahmen trat eine Laus in Menschengröße, angetan mit einem roten Kleid, blauen Strümpfen, weißen Schuhen, einem grünen Hut und mit einem zitronenfarbenen Sonnenschirm, den sie mit den Oberbeinen umklammerte. Aufrecht und feierlich langsam schritt sie bis zur Muschelbettstatt des Herrn Kümmelkorn. Herr Kümmelkorn zitterte vor Erregung wie Gallert, der ins Schwanken gekommen ist.

»Sind Sie eine Laus?« fragte er geistreich und voller Tiefe, um allen Zweifel zu beseitigen.

»Ich bin nicht eine Laus. Ich bin die Laus, ich bin die Laus der Läuse!«

Grüßend bewegte die Laus den Sonnenschirm, dann verschwand sie wieder im Kleiderschrank und seine Türen schlossen sich lautlos.

»Die Laus der Läuse!« murmelte Herr Kümmelkorn im Traum und sank in seliger Erschöpfung in die Kissen. »Wieviel Geld muß das bedeuten!«

Am anderen Morgen warf Herr Kümmelkorn nicht einen Blick auf allen Käse, auf dem sein Auge sonst in sinniger Versunkenheit zu weilen pflegte, er stöberte fieberhaft in der Post und wühlte geradezu nach der großen Geldnachricht.

Bald fand er sie. Doch war es eine, die zu bezahlen, nicht zu erhalten war. Es war eine Rechnung. Nein, nicht eine Rechnung, es war die Rechnung, es war die Rechnung der Rechnungen. Es war die Rechnung für die Neuequipierung von Frau Kümmelkorn: ein rotes Kleid, ein grüner Hut, blaue durchbrochene Seidenstrümpfe, weiße Schuhe und ein zitronenfarbener Sonnenschirm.

Herr Kümmelkorn wurde lila im Gesicht, das war die einzige Farbe, die hier noch fehlte. Herr Kümmelkorn blieb zwar nicht lila, aber er blieb seitdem ein Skeptiker und das ist noch mehr, als wenn man lila im Gesicht ist. Er schaltete alles Erhabene aus und dachte nur noch an Käse. So hat er auch die Aphrodite von Melos und die Laus der Läuse niemals wiedergesehen.


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