Manfred Kyber
Grotesken
Manfred Kyber

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Die physische Person

Der Friseurgehilfe Heinrich Hilflos hatte drei Stunden vor der Kanzlei für Paßangelegenheiten und eine halbe Stunde in der Kanzlei für Paßangelegenheiten gewartet. Seine Augen waren verblödet, sein linker Arm vertaubt, sein rechter Arm völlig fühllos, sein linkes Bein eingeschlafen und sein rechtes Bein sichtbarlich kürzer geworden. Sein Kopf glich einem gefüllten Mülleimer und sein Magen einem leeren Mülleimer. Sonst aber ging es ihm noch gut, als ihn der Beamte endlich ansah.

»Was wollen Sie?« fragte der Beamte.

»Ich habe meine Ausweispapiere verloren und möchte mir gerne neue beschaffen.«

»Wie heißen Sie?«

»Heinrich Hilflos.«

»So heißt man nicht.«

»Ich sagte nicht, daß man so heißt, sondern daß ich so heiße.«

»Was sind Sie?«

»In erster Linie Mensch, in zweiter Linie Haarkünstler.«

»Wo sind Sie geboren?«

»In Alt-Neutomischl.«

»In welchem Kreis?«

»In gar keinem Kreis, in einem Bett.«

»Sind Sie blödsinnig?«

»Nein, ich bin Haarkünstler.«

»Haben Sie Zeugen dieser Geburt?«

»Ich bin der Ansicht, daß meine Mutter zugegen gewesen sein muß und würde sie gerne als Zeugin empfehlen.«

»Wo lebt Ihre Mutter? Hat sie Ausweispapiere?«

»Davon wollte ich eben sprechen. Ich weiß nicht genau, wo sie sich jetzt aufhält. Sie hatte zwar einen Totenschein, das heißt ich hatte ihn, aber ich habe ihn nicht mehr, weil ich meine Ausweispapiere verloren habe und nun neue haben möchte.«

»Ihre Mutter ist also tot?«

»Ich weiß nicht, ob sie tot ist. Niemand weiß das. Aber sie ist gestorben.«

»Was war Ihre Mutter?«

»Meine Mutter war eine Frau.«

»Das meine ich nicht. Ich meine, was sie von Beruf war.«

»Vielseitig.«

»Wer war Ihr Vater?«

»Ich nehme an, daß mein Vater ein Mann war.«

»Sind Sie schwachsinnig?«

»Nein, ich bin Haarkünstler.«

»Ich will wissen, wie Ihr Vater hieß?«

»Das habe ich auch oft wissen wollen.«

»Sie wissen es also gar nicht?«

»Nein, ich weiß es nicht. Meine Mutter war sehr gewissenhaft und äußerte sich nur über Dinge, die sie ganz bestimmt wußte.«

»Wer waren Ihre Großeltern?«

»Meine Großeltern waren die Eltern meiner Mutter.«

»Ich will wissen, was sie von Beruf waren.«

»Mein Großvater war ein Mann und meine Großmutter war eine Frau. Etwas Aehnliches nehme ich auch von den Großeltern meines Vaters an.«

»Sind Sie oft so verwirrt?«

»Nein, ich bin Haarkünstler.«

»Wann ist Ihre Mutter geboren?«

»Das weiß ich nicht. Jedenfalls aber nach meinen Großeltern.«

»Das kann ich mir auch so denken.«

»Warum fragen Sie mich etwas, was Sie sich auch so denken können?«

»Ich werde Sie hinausschmeißen lassen. Sie wissen wohl nicht, wo Sie sich befinden?«

»Außer meinen Armen und Beinen, die eingeschlafen sind, und von denen ich nicht weiß, wo sie sich befinden, befinde ich mich auf einer Behörde. Ich bin Haarkünstler und habe meine Ausweispapiere verloren. Ich möchte gerne neue haben.«

»Haben Sie irgend einen Beweis Ihrer Person?«

»Ich habe eine unbezahlte Wäscherechnung.«

»Das ist kein Beweis.«

»Wenn Sie sie bezahlen wollten, würden Sie bemerken, daß es sich um eine wirkliche Wäscherechnung handelt.«

»Eine Wäscherechnung ist aber kein Mensch, Sie müssen mir beweisen, daß Sie ein Mensch sind.«

»Das ist auf einer Behörde sehr schwierig.«

»Sie sind begriffsstutzig.«

»Nein, ich bin Haarkünstler.«

»Es ist vor der Hand gleichgültig, ob Sie Haarkünstler sind. Erst müssen Sie den Beweis erbringen, daß Sie eine physische Person sind.«

»Ich dachte, ein Haarkünstler wäre eine physische Person.«

»Das leugne ich nicht. Aber erst muß man eine physische Person sein, um ein Haarkünstler zu werden.«

»Ich sagte ja schon, daß ich in erster Linie Mensch, in zweiter Linie Haarkünstler bin.«

»Wenn Sie keine Papiere haben, sind Sie gar nichts, weder ein Mensch, noch ein Haarkünstler. Gehen Sie zu einem Arzt und lassen Sie sich bestätigen, daß Sie eine physische Person sind. Dann will ich sehen, was sich weiter machen läßt.«

Heinrich Hilflos weckte seine eingeschlafenen Beine und ging zu einem Arzt.

»Was fehlt Ihnen?« fragte der Arzt.

»Ein Papier,« sagte Heinrich Hilflos.

»Das bekommen Sie in einem Papiergeschäft und nicht bei mir,« sagte der Arzt.

»Die Papiere, die ich in einem Papiergeschäft bekomme,« sagte Heinrich Hilflos, »beweisen nicht, daß ich ein Mensch bin. Ich brauche ein Papier, das beweist, daß ich ein Mensch bin, eine physische Person.«

»Sie sind an die falsche Adresse gekommen,« sagte der Arzt, »ich will Ihnen eine andere Adresse aufschreiben.«

Der Arzt schrieb ihm eine Adresse auf und Heinrich Hilflos empfahl sich dankend.

Auf der Straße besah er sich das Papier und die Adresse. Es war die Adresse der städtischen Irrenanstalt.

Heinrich Hilflos beschloß nicht dorthin zu gehen. Er steckte das Papier mit der Adresse in die Tasche und begab sich wieder auf die Kanzlei für Paßangelegenheiten. Er wartete wieder drei Stunden vor der Kanzlei für Paßangelegenheiten und eine halbe Stunde in der Kanzlei für Paßangelegenheiten. Diesmal war nicht sein linker, sondern sein rechter Arm vertaubt, nicht sein rechter, sondern sein linker Arm völlig fühllos geworden, und nicht sein linkes, sondern sein rechtes Bein eingeschlafen, während nicht sein rechtes, sondern sein linkes Bein sichtbarlich verkürzt war. Sein Kopf glich nicht mehr einem gefüllten Mülleimer, sondern einem verunglückten Automobil und sein Magen nicht einem leeren Mülleimer, sondern einem entladenen Güterwagen der staatlichen Eisenbahnverwaltung. Sonst aber ging es ihm noch gut, als ihn der Beamte anredete.

»Was wollen Sie?« fragte der Beamte.

»Ich habe das Papier über den Beweis meiner physischen Person von einem Arzt gebracht.«

Der Beamte besah sich das Papier.

»Das ist die Adresse des städtischen Irrenhauses.«

»Das weiß ich. Der Arzt hat sie mir aufgeschrieben.«

»Warum sind Sie nicht hingegangen?«

»Mir war, als wäre es besser, wenn Sie selbst hingingen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine, es würde dem städtischen Irrenhaus eher gelingen, Sie persönlich als durch meine Vermittlung zu überzeugen, daß ich eine physische Person bin.«

»Es handelt sich nicht darum, daß ich überzeugt werde,« sagte der Beamte. »Ich habe gar nichts dagegen, daß Sie eine physische Person sind. Aber ich muß es aktenmäßig erhärtet haben. Die Menschwerdung einer physischen Person ist ein aktenmäßiger Vorgang, keine Ueberzeugungsfrage. Seien Sie doch nicht so schwach von Begriff.«

»Nein, ich bin Haarkünstler.«

»Das interessiert mich nicht. Gehen Sie und beschaffen Sie mir die Erhärtung Ihrer physischen Person.«

Heinrich Hilflos weckte seine eingeschlafenen Beine und ging. Aber er ging nicht in die städtische Irrenanstalt, von der er sich offenbar wenig versprach, sondern zu einem Tischler. Hier erstand er sich ein drei Zoll dickes Eichenbrett von bemerkenswerter Härte, denn es handelte sich ja um eine Erhärtung seiner physischen Person.

Mit diesem Eichenbrett bewaffnet begab er sich abermals in die Kanzlei für Paßangelegenheiten, wo er diesmal nicht zu warten brauchte. Da er sich das Brett vor den Kopf hielt und so einen ausgesprochen amtlichen Eindruck machte, wurde er anstandlos vorgelassen, während alle die anderen Leute ohne Brett vor dem Kopf sich ihre Beine bis zu einem erstaunlichen Tiefegrad in den Bauch hineinstanden.

Heinrich Hilflos trat ohne ein Wort zu sagen auf den Beamten zu, der von ihm die Erhärtung seiner physischen Person verlangt hatte, und schlug ihn mit dem drei Zoll dicken Eichenbrett auf den Kopf.

Das Brett zersplitterte.

Der Beamte sah auf und hatte die unklare Empfindung, als sei ihm irgendjemand irgendwie zu nahe getreten.

Er stellte Strafantrag wegen versuchter Beamtenbeleidigung und Heinrich Hilflos wurde eingesperrt. Bei seiner Freilassung erhielt er ein Papier mit der amtlichen Beglaubigung seiner Haft und dem Vermerk: Heinrich Hilflos, Haarkünstler, vorbestraft.

Daraufhin bekam er anstandslos neue Ausweispapiere, aus denen ihm beglaubigt wurde, daß er nicht nur Mensch und Haarkünstler, sondern eine physische Person sei und daß sich seine Menschwerdung auf aktenmäßigem Wege vollzogen gehabt habe.


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