Manfred Kyber
Grotesken
Manfred Kyber

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Die spiritistische Sitzung

Klein-Oberniederhausen war kein besonders wesentlicher Ort und das Leben dort hatte nichts Aufregendes an sich, so daß sich leider keine großen Zeitgenossen in ihm wohnhaft gemacht hatten. Nur einmal war ein Mann mit einer tadellosen Bügelfalte auf dem Bahnhof sitzen geblieben und hatte auf den anderen Zug gewartet. Aus gleicher Ursache war vor einigen Jahren eine Dame mit seidenen Strümpfen von mehreren glaubhaften und nüchternen Beobachtern gesichtet worden. Wenn man also das Bedürfnis besaß, mit interessanten Leuten umzugehen, so mußte man sich an die Toten halten. Ein solches Bedürfnis besaßen in der ganzen Stadt nur die folgenden Personen: der Bürgermeister von Klein-Oberniederhausen, der Apotheker, der Lehrer der alten Sprachen Willi Würmchen, Tante Emerentia und Fräulein von Brettbusen. Diese fünf Säulen der höheren Gesellschaftskreise hatten ein so heftiges und in sich begründetes Bedürfnis, nur mit interessanten Leuten umzugehen, daß sie allwöchentlich zu einem spiritistischen Zirkel zusammenkamen, um berühmte Tote herbeizurufen, die lebendig gewiß nicht nach Klein-Oberniederhausen gekommen wären. Man versammelte sich stets bei Tante Emerentia, die schon ihres Körperumfanges wegen viel Raum in ihrer Wohnung hatte und einen vorzüglichen Kaffee kochte. Willi Würmchen hatte ein zu kleines Zimmer, der Bürgermeister konnte keinen Geist im Hause dulden, weil er Unordnung in die Regierungsakten bringen könnte, und aus gleicher Vorsicht für seine Flaschen und Büchsen mußte auch der Apotheker das ablehnen, denn manche Geister haben ein auf die Zerstörung des Zerbrechlichen gerichtetes Temperament. Fräulein von Brettbusen dagegen konnte es nicht über sich gewinnen, fremde Männer in ihrem Hause zu empfangen, auch wenn es tote waren, denn Fräulein von Brettbusen war von hochentwickeltem Sittlichkeitsgefühl und Begründerin des Vereins zur Hebung dieses Bedarfs in Klein-Oberniederhausen. Bei Tante Emerentia, die nicht so empfindlich war, konnten die Geister nach Belieben rumoren. Sie selbst war nicht lautlos zu nennen, sie hatte Füße, die wandelnden Fundamenten glichen und bei ihrem Anblick sangen die Kinder auf der Straße unwillkürlich ›Wir hatten gebauet ein stattliches Haus.‹ Es geschah das nicht aus Bosheit, sondern es war die rein kindliche Erweckung einer greifbar naheliegenden Ideenverbindung. Als Medium war eine Milchfrau tätig, die Wochentags Milch und Sonntags Geister vermittelte. Sie war auch insofern ein Phänomen, als sie die Geister ihrer Zeit nach, getreu im Charakter ihres Berufes, milchähnlich auseinanderhielt. Wenn sich die Antike meldete, so schmeckte die Milchfrau Sahne, beim Mittelalter süße Milch und bei der Zeit des Rationalismus saure Milch.

Man begann, wie stets, mit einem gemeinsamen Lied, nachdem man sich um einen Tisch gesetzt und die Hände der Nekromanten sich zu einem magischen Ringe geschlossen hatten.

»Leise zieht durch mein Gemüt liebliches Geläute«, sangen alle piano, pianissimo, um die Geister erst einmal ein bißchen zu reizen.

Bei den Worten ›liebliches Geläute‹ ertönte ein entsetzlicher Krach. Es war aber noch kein Geist, sondern das Dienstmädchen von Tante Emerentia war in der Küche mit dem Kaffeegeschirr entgleist.

Gleich darauf verkündete die Milchfrau, daß sie Sahne schmecke und einen gelben Sonnenschirm sähe.

»Wer ist dort?« fragte der Apotheker.

»Confutse,« buchstabierte der Tisch.

»Confutse?« fragte Fräulein von Brettbusen, »das ist ja ein ganz unbekannter obskurer Name!«

»Confutse ist chinesischer Uradel,« sagte Tante Emerentia gekränkt. Sie war eine große Anhängerin der chinesischen Kulturlehren und bewunderte besonders außer der Weisheit die kleinen Füße der chinesischen Frauen, die sie aus den Bildern einer alten Hauschronik gesehen hatte. Sie war sehr gerührt, daß sich Confutse herbemüht hatte.

»Großer Weiser des Ostens,« sagte sie, »gib mir ein einziges Wort der Erkenntnis, das ich auf meinen ganzen Lebensweg mitnehmen kann.«

»Du bist eine Ente,« sagte Confutse.

Tante Emerentia hatte das Gefühl, daß das irgendwie mit der Seelenwanderung zusammenhängen müsse und freute sich sehr. Sie hat das Wort auch stets in sich getragen auf ihrem ganzen Lebenswege oder, richtiger gesagt mit Rücksicht auf ihre Walzenfüße, auf ihrer Lebenschaussee.

Inzwischen verschwand Confutse, die Antike aber blieb, denn das Medium schmeckte nach wie vor Sahne, sah aber jetzt Flanell mit roten Streifen. Der Tisch meldete Caesar.

»Sind Sie Julius Caesar?« fragte der Bürgermeister. Er hatte das Gefühl, daß er jetzt die Leitung ergreifen müsse, wo es sich um eine Art von Kollegen handelte.

»Ausgerechnet Julius,« sagte der Tisch. »Was willst du?«

Der Bürgermeister beschloß im kollegialen Rahmen zu bleiben.

»Wie waren die Straßen in Rom beschaffen?« fragte er.

»Genau so dreckig wie die in Klein-Oberniederhausen,« sagte Caesar.

Der Bürgermeister überhörte das und fragte schleunig: »Wann kommen Sie das nächste Mal?«

»Bei Philippi sehen wir uns wieder!« stöhnte der Flanell.

»Bei wem?« fragte Tante Emerentia, die nicht gut hörte, aber sehr gerne gewußt hätte, bei wem man Julius Caesar noch einmal genießen könne. Auch fand sie, daß der Mann mit seiner Bemerkung über die Straßen recht hatte.

Aber schon hatte Cicero ihn beiseite gedrängt. Das war ein Fall für Willi Würmchen, denn Willi Würmchen füllte eine fühlbare Lücke in der Weltliteratur aus und schrieb Römerdramen.

»O Cicero, ist es wahr, daß Sie den berühmten accusativus cum infinitivo gebraucht haben?« fragte er begeistert.

»Ja,« sagte Cicero, »aber wenn ich euch vorausgeahnt hätte, hätte ich ihn nicht gebraucht, sondern überhaupt den Schnabel gehalten.«

»Das wäre ewig schade gewesen,« krähte Willi Würmchen, »auch ich sage ja: wie Sie einst von Karthago, von der Stadt, die unser Karthago ist, das Gleiche: ceterum, censeo, Groß-Oberniederhausen esse delendam. Auch meinen Kopf wird man vielleicht dereinst auf dem Forum ausstellen.«

»Deinen Kopf wird man nicht ausstellen,« sagte Cicero.

»Auch ich fühle römisch und schreibe Römerdramen,« sagte Willi Würmchen, »aber ich gieße den Geist Roms mit dem Germanias zusammen, ich kompiliere den alliterierenden Stabreim mit der getragenen Sprache der Lateiner. Zum Beispiel:

Bei Tubatuten wird getötet,
Blutregen rinnt und Rom errötet.«

»Rom wird erblassen, aber nicht erröten, wenn es diese Verse hört,« sagte Cicero nicht ohne Berechtigung und aus dem Gefühl des Selbstschutzes heraus.

»Aus Grabgewölbe, Gruft und Grausen
sieht man die Senatoren sausen!«

deklamierte Würmchen.

Cicero tat, was die Senatoren taten, und verschwand schleunigst.

»Ohrensausen?« fragte Tante Emerentia.

»Nein,« schrie Würmchen erbost, »Senatoren sausen.«

»Das ist wohl eine besondere Art von Ohren?«

»Ich schmecke süße Milch,« sagte das Medium, »aber es wäre gut, wenn man jetzt noch ein Lied singen würde, das zieht die Geister ein bißchen heran.«

»Leise zieht durch mein Gemüt liebliches Geläute . .«

Es zog auch, aber nicht durchs Gemüt, sondern durchs Fenster und, offenbar durch die Verwandtschaft der Zugluft angezogen, erschien ein weiblicher Geist – und zwar einer, der sein Geschlecht nicht unbetont gelassen hatte. Der Tisch meldete Lucrezia Borgia. Hier schien eine Hebung der Sittlichkeit empfehlenswert und so übernahm Fräulein von Brettbusen die Leitung. Sie sah aus, wie wenn man den Kopf eines alten Huhnes auf das magere Gliedergerüst eines jungen Huhnes gestülpt habe und redete mit der Stimme einer empörten Maus.

»Fräulein von Borgia,« sagte sie, »es werden so peinliche Dinge über Sie gesprochen. Wie verhält es sich damit? Ist es wahr, daß Sie unser herrliches Geschlecht nicht unbefleckt erhalten haben? Ich möchte mit Rücksicht auf mich selbst nicht deutlicher werden.«

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen,« sagte Lucrezia, »ich bin allerdings sehr unerfahren. Zugeben muß ich, daß ich einmal einem Jugendfreunde heimlich die Hand unter dem Tisch gedrückt habe, aber sonst habe ich wie eine Nonne gelebt.«

»Das freut mich zu hören,« sagte Fräulein von Brettbusen, »ich werde dafür sorgen, daß Ihr Name in unserem Verein künftig mit Achtung genannt wird.«

Es war ein großer Moment. Lucrezia, in Klein-Oberniederhausen rehabilitiert, tat ein Uebriges und materialisierte sich als Brustbild, wie ein Frosch, der über Wasser taucht. Sie atmete unhörbar, aber sichtbar, Fräulein von Brettbusen dagegen hörbar, aber unsichtbar, denn wo nichts da ist, hat auch die Natur ihr Recht verloren.

»Ich werde ein Drama über Lucrezia Borgia schreiben, das hieße eine fühlbare Lücke ausfüllen,« sagte Willi Würmchen.

»Verzeihen Sie,« sagte der Apotheker, »wenn ich eine berufliche Frage an Sie stelle. Man hat doch zu Ihrer Zeit heftig gedolcht und vergiftet. Können Sie mir nicht verraten, welches das berühmte Gift der Borgia war, an dem so viele starben?«

»Wir haben nur Rizinusöl und Rhabarber benutzt und die Folgen waren ganz andere und nicht tödliche. Gedolcht wurde gar nicht, ich selbst habe stets nur ein Obstmesser bei mir geführt, um mir die Apfelsinen zu schälen. Das andere Obst aß ich mit der Schale.«

»Da sieht man wieder, wie die Geschichte gefälscht wird,« sagte Fräulein von Brettbusen, »und besonders die armen Frauen müssen darunter leiden. Kein Wunder, wenn Männer die Geschichte schreiben.«

Der Bürgermeister wollte etwas erwidern, aber Lucrezia hatte ihren Busen wieder zusammengefaltet, das Medium schmeckte saure Milch und der Tisch kündigte Darwin an.

Darwin war ein unbeliebter Punkt. In Klein-Oberniederhausen wollte niemand vom Affen abstammen. Es entstand eine ängstliche Pause. Endlich ermannte sich der Bürgermeister und fragte:

»Sind Sie immer noch der Ansicht, daß die Menschen vom Affen abstammen, Herr Professor?«

»Der Adel jedenfalls nicht,« sagte Fräulein von Brettbusen.

»Ich habe meine Ansicht geändert,« sagte Darwin, »die meisten Menschen haben den Affen nicht hinter sich, sondern noch vor sich.«

Alle schwiegen. Der Ausdruck machte Eindruck, aber der Eindruck kam nicht zum Ausdruck. Nur die Milchfrau gurgelte leise vor sich hin. Man hob die Sitzung auf und weckte sie.

»Was sehen Sie?« fragte man besorgt. »Sehen Sie noch Antike, Mittelalter oder die Zeit der Aufklärung? Und was schmecken Sie? Sahne, süße oder saure Milch?«

Die Milchfrau schüttelte sich.

»Ich sehe Gegenwart und schmecke Quark!«


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