Manfred Kyber
Grotesken
Manfred Kyber

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Die mythologische Nacht

Ich hatte abends in der Mythologie gelesen und war müde eingeschlafen. Nach einer Stunde wachte ich auf und der nemeische Löwe lag auf meinem Bett. Er riß den Rachen auf und machte den aufgeregten Eindruck einer Person, die einen verschlucken will.

»Komm, mein Miezchen,« sagte ich – ich bin sehr katzenfreundlich und freute mich, daß ich mal wieder eine Katze im Bett hatte – »komm, mein Miezchen, ich will dir Milch bringen.«

Der nemeische Löwe sperrte das Maul noch weiter auf und brüllte grauenhaft. Jedem anderen hätten sich die Haare gesträubt vor Entsetzen. Ich bin aber sehr katzenfreundlich und so störte mich das nicht sonderlich.

»Kß, kß, kß, ich bin nicht Herkules,« sagte ich, was übrigens leicht zu bemerken war, »ich habe aber nur kondensierte Milch im Hause. Wird dir das genügen, mein Miezchen?«

Ich öffnete die Dose und filterte dem nemeischen Löwen mit einem Suppenlöffel kondensierte Milch ein.

»Rrrrrrr,« schnurrte der nemeische Löwe.

Als die Dose geleert war, legte ich mich wieder zu Bett. Der nemeische Löwe lag auf meinen Füßen, daß mir die Knochen knackten. Ich bin sehr katzenfreundlich, aber es ist doch eine etwas zu große Rasse, um sie im Bett zu haben.

»Rrrrr–rrrr–« schnurrte der nemeische Löwe und ich schlief wieder ein.

Aber mir war keine Ruhe bestimmt. Nach einer Weile klingelte es draußen heftig und anhaltend. Ich ging an die Tür und öffnete. Draußen stand ein Kyklop und leuchtete mich mit seinem einen Auge auf der Stirn automobillaternenartig an.

Ich streckte ihm beide Hände entgegen.

»Ich freue mich wirklich sehr, Sie einmal kennen zu lernen. Ich habe mich immer so sehr für Ihr eines Auge interessiert.«

Der Kyklop lächelte geschmeichelt und trat näher.

»Ich möchte hier gerne übernachten,« sagte er.

»Mit Vergnügen, aber mein Bett kann ich Ihnen nicht anbieten, darin schläft ein Kätzchen und schnurrt so friedlich, daß es ein Jammer wäre, es zu wecken. Sie kennen das Tierchen sicher auch aus Ihrem früheren Leben, es ist eine sehr berühmte Miezekatze. Aber ich will Ihnen meine Chaiselongue zurechtmachen. Nur dürfen Sie sich mit Ihrem glühenden Auge nicht auf meine seidenen Kissen legen, ich bin nicht gegen Feuer versichert.«

Der Kyklop beäugte und beleuchtete die Chaiselongue und setzte sich darauf.

»Es kommen noch mehr,« sagte er, »wir sind auf einem Spaziergang zur Erde begriffen und wollen gerne bei anständigen Leuten übernachten.«

»Wenn noch mehr kommen,« sagte ich erfreut, »werde ich mich garnicht wieder hinlegen, es klingelt ja dann doch fortwährend. Hoffentlich kann ich alle unterbringen. Mit der Beköstigung wird es allerdings schwierig sein. Ich bin auf so zahlreichen Besuch nicht eingerichtet und meine kondensierte Milch hat das nemeische Kätzchen ausgetrunken. Ich wüßte auch nicht, was ich Ihnen anbieten sollte. Früher aßen Sie ja Menschenfleisch, aber als Sie zu mir kamen, waren Sie sich wohl von vornherein darüber klar, daß Sie auf diese bei uns nicht gebräuchliche Kost verzichten müßten. Wie wäre es mit Schokoladenplätzchen? Ich habe noch einige davon und kann sie Ihnen sehr empfehlen.«

Ich reichte ihm die Tüte und der Kyklop leuchtete neugierig darin herum.

»Ihr Auge ist wohl sehr praktisch, da Sie gleichzeitig alles illuminieren können, was Sie sich betrachten,« sagte ich neidisch.

Der Kyklop nickte und begann eifrig Schokoladenplätzchen zu essen. Es schien ihm zu schmecken, denn sein Auge leuchtete so heftig, daß ich das elektrische Licht abdrehte, um Strom zu sparen. Man will doch auch etwas von seinen Gästen haben und wenn sie nichts zur Unterhaltung beitragen, so ist es nett, wenn sie wenigstens selbsttätig leuchten. Inzwischen klingelte es wieder und jemand schlug sogar in ordinärer Weise mit einem Kolben an die Tür.

»Das kann ja gut werden, es ist offenbar eine sehr mythologische Nacht,« dachte ich und öffnete.

Vor mir stand ein nackter Mann mit einem Stierkopf und einer Keule in der Hand.

»Sieh, sieh, der Minotaurus,« sagte ich freundlich. »Aber Sie sind hier nicht im Labyrinth, mein Lieber, und brauchen nicht mit der Keule um sich zu schlagen – Sie sind auch ohnedies eine ganz originelle Erscheinung. Wollen Sie auch hier übernachten?«

»Muh,« sagte der Minotaurus, glotzte mich mit seinen Ochsenaugen an und kam herein. Er ging ungeniert in der ganzen Wohnung umher und beschnupperte alle Möbel.

»Zu essen habe ich kaum etwas Passendes für Sie,« sagte ich bedauernd, »soviel ich mich erinnere, waren Sie doch der Herr, der sich angewöhnt hatte, athenische Jungfrauen zu frühstücken. Sie werden das bei mir nicht finden. Ich bin zudem Vegetarier und kann mich in Ihre Geschmacksrichtung nicht mehr einfühlen.«

»Ich will einen Klubsessel haben,« sagte der Minotaurus und stierte mich an. Wenn ich sage, daß er mich anstierte, so ist das hier buchstäblich aufzufassen.

Ich ärgerte mich.

»Sie sind hier bei einem Dichter und nicht bei einem Knallprotz. Ich biete Ihnen an, was ich habe. Wenn Ihnen das nicht gefällt, so machen Sie, daß Sie hinauskommen. Sie sind nicht der erste Ochse, dem es bei mir nicht gefallen hat. Ich bin ein großer Tierfreund, Sie brauchen bloß das nemeische Kätzchen zu fragen, aber es hat alles seine Grenzen . . .«

»Tierfreund? Ochse???« brüllte der Minotaurus wütend. »Für wen halten Sie mich eigentlich?«

»Ich halte Sie für den, der Sie sind,« sagte ich und schob ihn zur Türe. »Wenn Sie jetzt nicht ruhig sind, telephoniere ich und lasse Theseus holen. Bei mir ist kein Klubsessel. Gehen Sie ins Auswärtige Amt, dort finden Sie einen und da wird man Sie mit Ihrem Ochsenkopf mit offenen Armen empfangen.«

Der Minotaurus ging schimpfend ab.

»Wenn die anderen auch so sind, dann lasse ich niemand mehr herein,« sagte ich ärgerlich.

»Die anderen sind viel netter,« sagte der Kyklop und grinste.

Es klingelte wieder und diesmal standen gleich zwei vor der Tür – es waren Sirenen – Jungfrauenköpfe, Vogelleiber und eiserne Klauen. Die Zusammenstellung von Mädchen und Federvieh ist ja nichts Außergewöhnliches. Hier aber wußte ich wirklich nicht genau zu unterscheiden, ob das mehr Huhn oder mehr Jungfrau war. Das ist ja überhaupt immer eine schwimmende Grenze. Die Sirenen stießen sich mit den Flügeln an und kicherten.

»Putt, putt, putt, putt, putt,« sagte ich, klappte die Zimmerleiter auseinander und lockte die Sirenen heran. »So, nun setzen Sie sich auf die Stangen und stecken Sie Ihre Mädchenköpfe in Ihr Gefieder. Ich habe noch etwas Vogelfutter vom Winter, das will ich Ihnen hinstellen.«

Die Sirenen kicherten wieder, stiegen auf die Leiter und begannen leise zu singen: »Ist denn kein Stuhl da, Stuhl da, Stuhl da, für meine Hulda, Hulda, Hulda?« Dabei sahen sie mich aus ihren feurigen Augen verführerisch an und klapperten mit den Klauen den Takt dazu.

»Nein, es ist kein Stuhl da,« sagte ich, »seien Sie froh, daß Sie auf der Leiter sitzen. Ich bin auch nicht Odysseus und auf mich machen Ihre Couplets gar keinen Eindruck.«

Ich schob noch ein Waschbrett an die Leiter, in großer Eile, denn inzwischen klingelte es wieder.

»So, nun haben Sie auch einen Auslauf, wie in einem richtigen Hühnerstall,« sagte ich wohlwollend und dann öffnete ich die Tür.

Was jetzt draußen stand, übertraf alle meine Erwartungen. Nie war es einem menschlichen Auge vergönnt, einen Basilisk zu sehen. Mir war es vergönnt. Es ist schwer, diese etwas ungewöhnliche Person zu beschreiben, aber ich will es versuchen. Man denke sich eine Kreuzung zwischen Geier und Krokodil, zwischen Onkel Fritz, wenn er Rechnungen bezahlen muß, und Tante Emma, wenn sie Waschtag hat – und das Ganze mit Petroleum übergossen und angezündet.

»So ulkig habe ich Sie mir nicht vorgestellt,« sagte ich. »Aber gehen Sie in die Küche, die anderen Räume sind alle schon besetzt. Auf dem Küchentisch liegt ein Paket Gesundheitszwieback für Magenschwache und Rekonvaleszenten – das können Sie aufessen.«

Der Basilisk dankte und ging in die Küche. Gleich hinter ihm in der Türöffnung erschien die Meduse, eine eklige alte Dame, deren Haare sich bewegten.

»Liebe Frau Gorgo,« sagte ich abweisend, »mit den Schlangen auf Ihrem Kopf können Sie hier nicht herein. Mein Haus ist kein Terrarium, lassen Sie also Ihre beweglichen Haare draußen.«

»Das sind schon lange keine Schlangen mehr,« sagte die Meduse kläglich, »sie sind im Lauf der Zeit leider ganz entgiftet worden und sind bloß noch ärmliche Regenwürmerchen.«

»Das ist ganz gleich,« sagte ich streng, »ich finde Ihre Perücke unappetitlich. Gehen Sie in den Garten hinunter und setzen Sie Ihre Regenwürmer dort ab, dann sollen Sie mir herzlich willkommen sein.«

Ich schloß energisch die Türe und wandte mich in die Küche, um nach dem Basilisk zu sehen. Der Basilisk hatte die Gesundheitszwieback für Magenschwache und Rekonvaleszenten samt dem bedruckten Reklameumschlag aufgegessen und war durch das trockene Gebäck und das reichliche Papier durstig geworden.

»Haben Sie nicht etwas Herzhaftes zu trinken?« fragte er mich, »Benzin oder etwas Aehnliches?«

»Benzin habe ich nicht im Hause,« sagte ich, »gehen Sie in die nächste Automobilgarage, gleich um die Ecke herum, in der selben Straße.«

Der Basilisk empfahl sich dankend. Als er gegangen war, bemerkte ich, daß er inzwischen eines seiner berühmten Basiliskeneier gelegt hatte. Ich war lebhaft erfreut und beschloß, mir ein Spiegelei daraus zu machen, da mir auch etwas flau geworden war nach der langen Nachtwache und den vielen doch nicht ganz gewöhnlichen Erscheinungen, mit denen ich zu tun hatte. Ich steckte den Gasherd an und schlug das große, giftgrüne Ei über der Pfanne entzwei. Aber es wurde kein Spiegelei daraus, sondern ein kleiner Basilisk hupste mir froschartig in die Arme und fauchte mich an. Ich war unangenehm überrascht, denn erstens hatte ich mich auf das Spiegelei gefreut und zweitens verstand ich wenig von Säuglingspflege. Ich wickelte das kleine Scheusal in eine Decke und ging summend mit ihm auf und ab. Wie ich das Kind ernähren sollte, war mir unklar und ich sah im Geist bereits den Schmerz der sympathischen Mutter, die benzinerfrischt heimkommen und ihren Sprößling in bedenklicher Unterernährung vorfinden würde. Das Baby entwickelte inzwischen eine nicht geahnte Eigenschaft, es spuckte Feuer und brachte meine Küchengardinen, bescheidene, aber für mich immerhin wertvolle Produkte der Textilindustrie in Gefahr. Ich setzte es auf den Herd, und da es offenbar sein kostbares Leben durch einen Dauerbrandofen in seinem Magen herleitete, stopfte ich ihm mit einer Kohlenschaufel Eierbriketts ins Maul, die es gierig verschlang. Ich war beruhigt, als es wieder klingelte. Draußen stand der Lindwurm und lächelte mich an. Das heißt, nicht der Lindwurm stand draußen, sondern lediglich sein Kopf war oben bei mir im vierten Stock angelangt, während sein Schwanz, wie ich mich durch einen flüchtigen Blick überzeugte, noch unten im Parterre war und erhebliche Anstrengungen machte, auch heraufzukommen.

»Verzeihen Sie,« sagte ich nervös, »ich kann nicht warten, bis Sie ganz oben sind. Ich habe ein kleines Kind mit Eierbriketts zu füttern. Wenn Ihr Schwanz auch oben angekommen ist, was nach meiner Schätzung gut zehn Minuten dauern kann, klingeln Sie bitte noch einmal.«

Ich eilte zu dem kleinen Kinde zurück und kam gerade zur rechten Zeit, da es in seiner grenzenlosen Gier nach Eierbriketts in die Kohlenkiste gekrochen war und das Holz bereits zum Versengen gebracht hatte. Jetzt wurde die Türe aufgestoßen und der Basilisk stürzte echauffiert herein – ich sah nur, wie der Lindwurm immer noch bemüht war, sich die vier Treppen langsam hinaufzukranen.

»Geben Sie mir mein Kind!« schrie der Basilisk unhöflich und offenbar stark erhitzt durch den übermäßigen und meiner Ansicht auch nicht einmal gesunden Benzingenuß.

»Hier,« sagte ich verletzt, »Sie sollten nicht so schreien, sondern sich lieber bei mir bedanken, daß ich Ihr Erzeugnis so sorgfältig am Leben erhalten habe. Es ist keine Kleinigkeit, ein derart feuergefährliches Baby zu betreuen und außerdem ist hier kein Säuglingsheim und keine Entbindungsanstalt für Basiliskeneier. Ich bin Ihnen nur dankbar, wenn Sie das Produkt Ihrer Fortpflanzungsfähigkeit schleunigst wieder mitnehmen.«

Der Basilisk nahm das Kind in die Tatzen, murmelte etwas von Benzin und Dankbarkeit und meinte, er würde sich gerne erkenntlich zeigen. Mir kam ein Gedanke.

»Ich will mich nicht belohnen lassen,« sagte ich, »ich habe Kinder sehr gerne und Ihr Kleiner hat unleugbar etwas Scherzhaftes an sich, das er jedenfalls von Ihnen hat. Aber wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, so gehen Sie zu meiner Erbtante und sehen Sie sie an. Man sagt Ihnen, ich weiß nicht ob mit Recht, nach, daß jeder zu Stein wird, den Sie mit wirklicher Aufmerksamkeit betrachten. Sollte das der Fall sein, so muß ich, offen gesagt, gestehen, daß mir eine derartige Transfiguration bei meiner Erbtante keine unerfreuliche Erscheinung wäre.«

»Wo wohnt Ihre Erbtante?« fragte der Basilisk.

»Krakehlgasse 7,« sagte ich.

Der Basilisk empfahl sich und im Türrahmen meldete sich freundlich lächelnd der Lindwurm und sagte mit empfehlendem Hinweis auf seinen Schwanz, daß er nun endgültig mit allem Zubehör seiner Persönlichkeit nach oben gekommen wäre.

»Bitte kriechen Sie ins Badezimmer und versuchen Sie nach Möglichkeit Ihrer Größe, respektive Länge, in der Badewanne unterzukommen. Hier haben Sie noch ein Stückchen Emmentaler Käse, das ich eigentlich eben selbst essen wollte, das ich Ihnen aber gerne überlasse, damit Sie sich von der Anstrengung des Hinaufwindens Ihrer Leiblichkeit etwas restaurieren.«

Der Lindwurm kroch ins Bad und lächelte wieder freundlich, ohne ein Wort zu sagen. Er war offenbar nicht sehr begabt.

»Wenn Ihnen zu trocken oder zu warm wird, dann drücken Sie auf den Knopf, wo Brause draufsteht,« sagte ich noch. Dann ging ich in ein Nebenzimmer, das bisher unmythologisch geblieben war und setzte mich recht erschöpft auf einen Stuhl.

Es dauerte nicht lange, da klingelte das Telephon.

»Wer ist dort?« fragte ich einigermaßen erbost.

»Hier der Basilisk,« sagte eine Stimme, benzinrauh und unangenehm, »Ihre Tante ist zu Stein geworden.«

»Vielen Dank,« sagte ich, »aber verzeihen Sie die Frage, die für mich eine gewisse wirtschaftliche Bedeutung hat: ist sie zu Marmor oder vielleicht zu einem Edelstein geworden?«

»Zu Bimsstein!« schrie der Basilisk unliebenswürdig und hängte ab.

Zu Bimsstein! Ich muß sagen, diese Nachricht traf mich bis ins Innerste. Das hatte ich von meiner Tante nicht erwartet. Bimsstein war für mich nicht nur eine wirtschaftliche Enttäuschung, sondern es verletzte auch irgendwie mein Familiengefühl, daß eine Tante von mir zu Bimsstein geworden sein sollte. Jedenfalls aber mußte ich mich sofort vom Tatbestand überzeugen. Es blieb ja immer noch die Hoffnung bestehen, daß der Basilisk ein nur oberflächlicher Kenner der Mineralogie war oder die ganze Angelegenheit überhaupt nicht mit genügender Wärme geprüft hatte. Ich setzte meinen Hut auf und eilte die Treppe hinunter, wie nur jemand eilen kann, dessen Erbtante zu Stein, wenn auch nur zu Bimsstein geworden war.

Unten an der Hauspforte faßte mich jemand am Rockzipfel. Es war die Meduse, die sich klagend an mich klammerte.

»Ich habe meine Perücke auf dem Rasen abgelegt und nun sind mir alle meine Regenwürmer davongekrochen. Jetzt helfen Sie mir suchen,« sagte sie.

»Ich habe keine Zeit, Ihre Regenwürmer zu suchen. Sammeln Sie sich neue auf Ihren Kopf. Ich muß in die Krakehlgasse, meine Tante ist zu Bimsstein geworden.«

In der Krakehlgasse herrschte große Aufregung. Meine Tante war wirklich zu Bimsstein geworden und ich muß sagen, daß sie garnicht unvorteilhaft aussah in dieser Form einer etwas grotesken Plastik. Drei Medizinalräte bestritten die Möglichkeit dieser Todesart, die sie vor sich sahen, und drei Pastore weigerten sich, eine Figur von Bimsstein zu bestatten.

»Geben Sie mir die Tante,« rief ich, »es ist meine Tante und ich werde sie verkaufen, weil sie aus Bimsstein ist. Es wäre Sünde, zu übersehen, daß sie ein, wenn auch nicht wertvolles, so doch zur Verarbeitung fähiges Material geworden ist.«

Ich lud das bimssteinerne Bildnis auf die Schultern und wanderte damit zu einer Drogerie, wo ich es verkaufte. Es erwies sich, daß es sehr minderwertiger Bimsstein war, und da der Drogist jeden Kunstwert der Figur hartnäckig in Abrede stellte, mußte ich meine Tante für achtzig Mark und siebzig Pfennige hergeben.

Ich beschloß, diesen mich stark enttäuschenden Betrag für die neuen Insassen meiner Wohnung auf einen Zug zu verausgaben. Es hatte ja doch keinen Zweck mehr, zu sparen, denn ich beerbte nun meine Tante, während man sie in kleinen Stücken, sorgsam verarbeitet, sozusagen auf den Markt bringen würde. Ich kaufte geräucherte Fische für das nemeische Kätzchen, Schokoladenplätzchen für den Kyklopen, Vogelfutter für die Sirenen, ein Stärkungsmittel für den Lindwurm und Haarwasser für die Meduse. Unterwegs kam ich am Auswärtigen Amt vorüber und sah durchs Fenster, wie der Minotaurus unter scheußlich schmatzenden Bewegungen seiner Kinnladen ein Tippfräulein fraß.

Zu Hause angekommen, fand ich die Wohnung in lebhafter Bewegung: der Lindwurm duschte sich, daß das ganze Badezimmer schwamm, die Meduse war mit einer Handvoll Regenwürmer nach oben gekommen, aber die Sirenen hatten sie ihr weggefressen. Der Kyklop leuchtete mit seinem einen Auge unter der Chaiselongue herum und suchte emsig das letzte Schokoladenplätzchen, das er offenbar verloren harte. Nur das nemeische Kätzchen schlief immer noch und schnurrte so laut, daß ich dachte, der Hauswirt würde mir verbieten, künftig einen Motor in meiner Wohnung aufzustellen und ihn nachts laufen zu lassen.

Ich wollte gerade meine Pakete öffnen und jedem das ihm Mitgebrachte überreichen, als ich etwas erblickte, was meine Glieder mit Entsetzen lähmte. Vor mir stand meine Tante, Bimsstein oben und Bimsstein unten, und sah mich mit einem Blick von Bimsstein an. Offenbar war sie dem Drogisten entlaufen. Ich hatte ein Gefühl, als ob ich Bimsstein anfasse, als ob ich Bimsstein sehe, höre, rieche, schmecke, fühle – dann wurde ich ohnmächtig und erwachte.

Allmählich wurde mir nicht ohne eine gewisse Enttäuschung klar, daß ich alles nur geträumt hatte. Aber konnten nicht Träume Vorboten einer verheißungsvollen Wirklichkeit sein? Ich sprang aus dem Bett, eilte ans Telefon und rief meine Tante an.

»Wie geht es dir?« fragte ich.

»Warum fragst du so dumm?« sagte meine Tante, die offenbar in meiner Stimme etwas gehört haben mußte, was ihr bedeutend mißfiel. »Mir geht es gut.«

»Ich frage, weil ich diese Nacht träumte, daß du gestorben seist,« sagte ich, was vielleicht nicht ganz überlegt und taktvoll war, »das heißt, ich träumte eigentlich nicht, daß du gestorben, sondern daß du zu Bimsstein geworden seist und da hat mich ein Gefühl der Besorgnis gedrängt, nach deinem Befinden zu fragen.«

Meine Tante hängte den Apparat ab.

Ich habe mich seitdem nicht mehr mit Mythologie beschäftigt. Meine Tante lebt heute noch. Aber sie hat mich enterbt und so ist sie, für mich wenigstens, doch zu Bimsstein geworden.


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