Manfred Kyber
Grotesken
Manfred Kyber

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Assimilation

Der Privatgelehrte Ambrosius Pille war ein eifriger Anhänger der Einfühlungstheorie. Wenn er sich, wie es öfters geschah, mit gerichtlichen Personen befaßte, so war es ihm bereits mehrfach gelungen, sich mit diesen in einem erstaunlichen Grade zu identifizieren. So war er zum Beispiel einmal als Sappho, einen leierähnlichen Teppichklopfer umklammernd, in die Badewanne gesprungen, hatte als Mucius Scävola die Hand in einen Teller heißer Erbsensuppe getaucht und als Cleopatra einen Regenwurm von beträchtlicher Länge an seinen imaginären Busen gehalten.

Frau Pille hatte für diese hohen Talente ihres Gatten kein ausgesprochenes Verständnis und pflegte ihn in solchen Fällen auf eine garnicht mißzuverstehende Weise zu sich selbst zurückzurufen. Sie hatte ihm als Sappho den Teppichklopfer um die Ohren geschlagen, ihm als Mucius Scävola die heiße Erbsensuppe auf den Kopf gestülpt und den imaginären Busen der Cleopatra aus dem ungreifbaren Konvexen ins greifbar Konkave hineingestoßen. So brachte sie Ambrosius Pille ebenso gemütlos wie erfolgreich ins Dasein eines Privatgelehrten zurück. Man sagt von manchen Menschen, daß Gott sie in seinem Zorn erschaffen habe. Frau Pille war auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege entstanden und man darf wohl sagen, daß es sich bei ihrer Erschaffung um eine außergewöhnliche Mißstimmung der höheren Gewalten gehandelt haben mußte. Da sie mit dieser Gemütsart eine Leiblichkeit von beachtenswerter Raumverdrängung ihr eigen nannte, so war die Ehe von Herrn und Frau Pille der Ehe der lernäischen Hydra mit einem Kaninchen nicht unähnlich.

Ambrosius Pille hatte sich natürlich dank seinen hohen und geschichtlich gezüchteten Fähigkeiten auch in diese Ehe eingefühlt, ohne freilich übersehen zu können, daß solche Einfühlung fühlbarer und schmerzhafter vor sich ging, als etwa die in Sappho oder eine andere, nicht an Frau Pille erinnernde Dame der Vergangenheit. In eine andere Dame der Gegenwart sich einzufühlen, hätte Ambrosius Pille niemals wagen können, ohne eine Katastrophe heraufzubeschwören, gegen welche ein Erdbeben eine Operette gewesen wäre.

So lebte Ambrosius Pille in ständiger theoretischer und praktischer Assimilation, und da sein tägliches Leben weit größere Anforderungen an seine Assimilationsfähigkeit stellte als die Geschichte des Altertums, so war es erklärlich, daß sein Forschungstrieb sich bald mehr dem biologischen Gebiet zuwandte. Anfänglich hatte er darin freilich kein Glück. Der Versuch, zum Beispiel, in einem kälteren Klima Haare anzusetzen, mißlang leider völlig. Ambrosius Pille hatte sich zu diesem Behuf im Winter in den Kartoffelkeller zurückgezogen und wartete dort hoffnungsvoll und ergeben einige Wochen auf Zunahme seines Haarwuchses und auf eine durch mangelndes Licht hervorgerufene stärkere Entwickelung des Tastsinns. Statt dessen verlor er vieles von seiner an sich schon dünnen Kopfbehaarung, ohne durch weitere Haare an anderen Körperteilen entschädigt zu werden und an Stelle des zu entwickelnden Tastsinnes erschienen Frostbeulen an den Fingerspitzen, die wohl schmerzhaft, aber für feinere Wahrnehmung ungeeignet waren. Frau Pille rief ihren Gatten diesmal in einer Weise zu sich selbst zurück, die ihm das Erfassen einer neuen Idee bis zum Eintritt des Frühlings unmöglich machte.

In dieser kummervollen und an sich unfruchtbaren Zeit war Ambrosius Pille eine Erleuchtung von größter Tragweite gekommen. Er hatte durch fleißige vergleichende biologische Forschungen festgestellt, daß bei den Tieren die Assimilation in der weitaus größten Anzahl aller Fälle weniger eine Anpassung an klimatische Faktoren bedeute, als ihren Grund in der Schutzfärbung habe, in dem Wunsche sich Angriffen durch Annahme einer der Umgebung ähnlichen Farbe zu entziehen. Ambrosius Pille wurde es in tiefster Seele klar, daß wenn irgend ein Wesen, er am meisten in seiner Ehe eine solche Schutzfärbung anzustreben habe. Der Frühling erschien ihm zu diesem Zwecke die geeignetste Zeit, denn das Zimmer, in dem die meisten ehelichen Angriffe auf ihn erfolgten, hatte eine grüne Tapete und so beschloß Ambrosius Pille, eine grüne Schutzfärbung in sich zu entwickeln.

Er setzte sich, vorerst erfolglos, mit großer Ausdauer unter grüne Blätter, aß viel Spinat, Salat und Sauerampfer und hatte sich einen grünen Anzug gekauft. Der grüne Anzug verblich in der Sonne und bekam einen Stich ins Gelbe, an den nicht bekleideten Stellen seines Leibes aber gelang es ihm nicht, die sehnlichst erstrebte grüne Schutzfärbung zu erreichen. Er stach von der grünen Tapete des erwähnten kampfgeweihten Zimmers immer noch in provozierender Weise ab und hatte die Folgen davon mehr als einmal zu tragen. Hierauf begab er sich an einen Froschteich und versenkte sich völlig in den Anblick dieser Geschöpfe, deren Hautfarbe ihm als Ziel seiner Sehnsucht vorschwebte. Aber auch hier wurde er nicht grüner und erreichte nicht mehr, als daß er nach einigen Wochen angestrengten Studiums mit der Virtuosität eines geborenen Frosches quaken und die Fliegen in seinem Zimmer mit einer bei einem Menschen noch nie gesehenen Geschicklichkeit fangen konnte. Auch traten seine Augen in einer mehr erheblichen als schönen Art hervor. Man muß erwähnen, daß er sich in dieser Zeit fast ausschließlich von Fliegen ernährte und gar keinen Spinat mehr aß, was vielleicht ein Fehler war. Das festzustellen, muß natürlich einem wirklichen Gelehrten überlassen bleiben.

Die einseitige Nahrung hatte indessen Ambrosius Pille derart geschwächt, während seine Frau in ihrer Raumverdrängung rüstig fortgeschritten war, daß Pille mehr denn je zu der Einsicht kam, daß ihm, wenn er auf sein Fortbestehen einigen Wert legte, eine Schutzfärbung sehr vonnöten wäre. Er schaffte sich nun ein Chamäleon an, unterhielt sich viele Stunden lang mit diesem Tiere und verfolgte seinen Farbenwechsel mit aller Einfühlung, die er als Mensch und Privatgelehrter biologisch und geschichtlich so überaus heftig geübt hatte.

Es verhält sich nun mit manchen in der Natur schlummernden Fähigkeiten so, daß sie lange latent bleiben, dann aber, in einem Augenblick des Affekts, plötzlich erweckt und zu voller Stärke entfaltet werden. Als Ambrosius Pille einmal mit seiner Gattin bei Tisch saß und sie ihm, wie so oft, sagte: »Pille, Pille, wie oft soll ich dir das sagen,« – bekam Ambrosius Pille einen roten Kopf. Und nach dem roten Kopf bekam er einen gelben, einen blauen, einen grünen, einen violetten, einen lachsfarbenen, einen hyazinthenen, einen zimtfarbenen – kurz, er lief die ganze Farbenskala mit allen nur denkbaren Möglichkeiten ab. Frau Pille wurde, auf Augenblicke wenigstens, was sie noch nie gewesen war, stumm. Dann erklärte sie, sie könne sich mit derartigen Naturerscheinungen nicht befreunden und wolle sich scheiden lassen. Mit einem Chamäleon wünsche sie nicht verheiratet zu sein, sie habe einen Mann und kein Chamäleon geehelicht. Frau Pille hatte – wir können das sagen, da sie nicht dabei ist – in beiden Fällen unrecht. Ambrosius Pille war nie ein Mann gewesen und war heute auch kein Chamäleon.

Ambrosius Pille aber lebte künftig statt mit einer Frau mit seinem Chamäleon, was ja im Grunde genommen ganz dasselbe ist, nur um einige sehr bemerkenswerte Grade friedlicher und geräuschloser. Seine Assimilationsfähigkeit nahm in erstaunlicher Weise zu und nachdem er unter anderem als Hero allnächtlich ein Licht in einer nicht der Sage angehörenden Oertlichkeit entzündet, als Jason ein nicht ihm gehöriges Schaffell entwendet, das er ersetzen mußte, starb er als Sokrates, indem er Brauselimonade in einem Glas, das ihm zum Mundspülen diente, getrunken.


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