Isolde Kurz
Die Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen
Isolde Kurz

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Sechzehntes Kapitel

Vorboten

Einst hab ich die Muse gefragt, und sie
Antwortete mir:
Am Ende wirst du es finden.
Vom Höchsten will ich schweigen.
Verbotene Frucht wie der Lorbeer ist aber
Am meisten das Vaterland. Die aber kost'
Ein jeder zuletzt.
Hölderlin

Als ich im Winter 1912 aus Italien zurückkehrte, wo ich nicht nur mein in Florenz noch immer lagerndes Hausgerät hatte nach München verfrachten wollen, sondern auch die tiefste der Lebenswunden vernarben lassen, da trug ich ein neues Schwert im Herzen. Ich wußte um den kommenden Weltkrieg.

Von dem was Völker in Zeiten kriegerischer Überreizung einander an ungerechten Beschuldigungen zufügen, dürfte hernach nicht mehr die Rede sein, denn wie könnte man sich sonst jemals wieder zusammenfinden! Darum sei hier nur des persönlichen Schmerzes gedacht, der mich bei der 493 unausweichlichen Entdeckung ergriff, daß schon aller Völker Hand im stillen gegen uns war, und daß der Boden Italiens unter meinen Füßen schütterte.

Der italienisch-türkische Feldzug hatte das nationale Selbstgefühl bis zur Weißglut gesteigert, und in der Erbitterung über solche Stimmen unserer Tagespresse, die diesen Gefühlen keine Rechnung trugen, wurde auch Deutschland selbst als Feind betrachtet. Presse und Diplomatie der später gegen uns verbündeten Staaten bliesen ins Feuer, und das alte Mißverständnis, das die Untertanen des Hauses Habsburg als Tedeschi mit den immer italienfreundlichen Reichsdeutschen zusammenwarf, kam ihnen zu Hilfe. Man durfte auf der Straße als Deutscher seine Sprache nicht mehr hören lassen und mußte selbst seinen alten Freunden ausweichen, weil sie vor bebendem Kriegsfieber, das alt und jung ergriffen hatte, kein Wort der Billigkeit mehr vernahmen. Ich schied mit der Gewißheit, daß es zu einer Weltkatastrophe kommen mußte und im Zwange dieses Geschehens auch zu einem Waffengang zwischen den beiden Ländern meiner Liebe.

Aber als ich nach Deutschland kam, erkannte ich mit höchstem Erstaunen, daß niemand von der Gefahr, der wir entgegengingen, die entfernteste Ahnung hatte. Niemand schien über die Grenzen hinauszudenken, und da im Inland sich alles in tiefster Friedenssicherheit wiegte, glaubte man nicht, daß es anderswo anders aussähe. Ich aber kam aus einer Stadt, in der die geistigen Ströme aller Länder zusammenflossen, und wußte um die Meinung der anderen über uns, daß wir die eigentlichen Friedensstörer wären. Es war ja so leicht, uns 494 mißzuverstehen, da wir so gar nichts taten, um verstanden zu sein. Das Pochen mit der gepanzerten Faust, das den anderen Völkern so sehr auf die Nerven ging, war das einzige, was sie als Ausdruck unserer Gesinnung wahrhaben wollten. Das Wilhelminische Deutschland hatte keinen Glauben an den Geist, nur an die Macht, in der es sich arglos gesichert glaubte. An Kulturwerbung, wie sie Frankreich mit feinstem Takt und dem reichsten Aufwand auf fremdem Boden betrieb, wurde nicht gedacht; wir hatten neben der amtlichen keine gesellschaftliche, keine kulturelle Vertretung, durch die den anderen der Zugang zu dem wahren Wesen Deutschlands leicht gemacht worden wäre. Was hätte in letzter Stunde noch geschehen können, um den Aufprall der Geister, der dem militärischen voranging, abzuschwächen? Es war zu spät, Versäumtes nachzuholen. Ich fühlte selber, daß ich wie ein Kind versuchte, den Wassersturz mit dem Strohhalm aufzuhalten; dennoch trieb es mich bei meinen Freunden von Haus zu Haus, zu mahnen und zu warnen, damit die Warnungen an zuständige Stellen weitergegeben würden, aber ich fand nur ungläubiges Lächeln und die Antwort, daß ich am hellen Tag Gespenster sähe. – Nichts hat mich jemals mehr erstaunt als der spätere unausrottbare Irrtum von Deutschlands Kriegsschuld, an die sogar Deutsche selber glaubten, da ich doch mit meinen eigenen Augen das Gegenteil gesehen hatte. Nein, Deutschland, das man den Friedensstörer nannte, hat niemals ernstlich gedroht, – es war nicht nur friedlich, es war völlig unkriegerisch gesinnt; es wollte nur seiner Arbeit und seinem Erwerb, wenn auch nicht immer mit dem besten Takt, nachgehen. Wenn es sündigte, so war's durch allzugroße Sicherheit, 495 durch eine vielleicht überhebliche Unterschätzung der anderen. Und bei den wenigen Wissenden, die klarer sahen, durch Liebedienerei nach oben, weil man Allerhöchsten Ortes nichts Unangenehmes hören wollte. Aber es ließ mir nicht Rast noch Ruhe, ich überwand meine tiefe Scheu vor der Berührung mit politischen Dingen und klopfte persönlich bei der Presse an um zur Einsicht in fremde Seelenverfassung, zur Schonung fremder Empfindlichkeiten zu mahnen. Ich fand kein Gehör. Den letzten Schritt unternahm ich bei meinem Freunde Weltrich, von dem ich wußte, daß er der Mann war, wo es um Deutschland ging, auch ungern gehörten Wahrheiten die Türe aufzustoßen. Aber den Zweck dieses Besuches vereitelte ein tragikomischer Zwischenfall. Ich fand den Freund noch bei der Pfeife und bei seinem schwarzen Kaffee am abgeräumten Eßtisch sitzend und neben ihm auf einem Stuhl seinen Mohrle, den verwöhntesten und eifersüchtigsten Köter, den ich jemals kannte. Als ich mich setzte, knurrte er, als ich zu sprechen anhob, bellte er, als sein Herr ihn schweigen hieß, bellte er stärker, als er ihn kuschen hieß, sprang er herab und bellte so, daß man sein eigenes Wort nicht hörte. Von der Peitsche seines Herrn bedroht, verkroch er sich unter das Kanapee, und dort wurde das Gekläff noch fürchterlicher, daß der arme Weltrich, blaurot im Gesicht, sich zu Boden warf und mit dem Stock den Unhold unter dem Kanapee bedräute. Darauf erfolgte ein Wutgeheul, das unbeschreiblich war, aber zum Glück durch einen um diese Stunde erwarteten Tarockpartner unterbrochen wurde. Unter dem verebbenden Gejaule des Hundes und den Entschuldigungen des Eintretenden, machte ich mich eiligst davon, nachdem es mir nicht gelungen war, nur ein Sterbenswort 496 von dem was mich bewegte anzubringen. Die Umstände fügten es, daß Weltrich auch später nie erfuhr, was ich damals von ihm gewollt hatte. Aber so oft ich von nun an auf einen ganz verstockten Unglauben stieß, sagte ich ergeben zu mir selber: Troja tanzt und Mohrle bellt, ich aber heiße Kassandra. Um diese Zeit fiel mir ein altes Griechenbuch in die Hände, wo ein Freund den andern warnt: »Wenn du deinen Seelenfrieden für immer verlieren willst, so mische dich in Staatshändel.« Ich nahm mir den Wink zu Herzen, als wäre er an mich gerichtet. Aber wie stillehalten in dieser Unruhe, wie mein Kunstgewebe, das ich gerade in den Händen hatte, – es war die Novelle »Cora«– zu Ende wirken, während die Schatten des Kommenden sich immer mehr über mir verdichteten? Da hörte ich von einem Weltkongreß der Archäologen, der im Frühjahr in Athen stattfinde, und daß auch Nicht-Archäologen sich daran beteiligen könnten. Augenblicklich sagte ich zu Mohl, der mir anheimgestellt hatte, über seine Zeit zu verfügen: Wir reisen nach Griechenland. Für mich war es der Fluchtweg aus der inneren Not und zugleich für beide die ersehnte Erfüllung eines Jugendtraums. Aber als wir schon hinausfuhren, durch die erwachende Frühlingslandschaft an fröhlichem Menschengewimmel vorüber, sagte ich noch einmal zu mir selber: Troja tanzt, und ich heiße Kassandra.

 

In einer vor den »Freunden des humanistischen Gymnasiums« gehaltenen Rede sagte Hugo von Hoffmannstal, daß wir auf der Reise nach Griechenland uns plötzlich von allen unseren Führern verlassen sähen; nicht einmal Goethe könne 497 uns dorthin Geleitsmann sein. Das letztere ist ohne Zweifel richtig: nicht nur, weil sein Verlangen in Sizilien haltmachte, sondern weil er das Griechentum, wenigstens in seinen jüngeren Jahren, noch in der Beleuchtung sah, die es vom Rokoko her empfing. Und er konnte es auch gar nicht anders sehen, weil noch keine Forschungen und Grabungen bis auf die dämonische Unterschicht hinabgestoßen waren, auf der alles Griechenwesen ruht; einzig der seherische Hölderlin hatte sie schon früher erkannt. Aber warum »führerlos«? Hatten wir nicht die besten Führer an den Griechen selbst? Konnten wir schöner als unter ihrem Geleit im Piräus landen?

Meine unmittelbaren Erlebnisse in Hellas sind in ein eigenes Buch zusammengeflossen, ich darf also hier nur noch von dem dauernden Niederschlag sprechen, den sie in mir zurückgelassen haben: Wie der griechische Boden gleich bei den ersten Wanderungen das große Geheimnis von der Stileinheit alles Griechentums erschloß. Wie die Helligkeit dieser Luft die gleiche Helligkeit war, die alle Schöpfungen des griechischen Geistes ausstrahlten. Wie in dem überirdischen Adel dieser ebenso kühnen wie feingezeichneten Bergzüge und meerumbrandeten Inselprofile, die wie von größter Künstlerhand unendlich einfach und klar in den Himmel geschnitten stehen, die griechische Kunst vorgebildet war und die Gesetze der griechischen Dichtung, in der mit knappen Mitteln das Tiefste gesagt ist. Ja, dieser gleiche Gesetzgeist überall, der so gewaltig wirkt, weil er so starke Gegenkräfte zu bändigen hatte, das war Hellas! Die große Einheit, die alles Fremde anzog, aufsog, die den welterobernden Römer sich geistig unterwarf, die noch den späten Reisenden in ihren Bann zieht, daß er sich 498 irgendwie zugehörig fühlen muß, als wäre er vor Zeiten hier als Einheimischer gewandelt, das war Hellas!

Nie habe ich in so kurzer Zeit so durchdringende und so stumme Lehren empfangen wie in den wenigen Wochen in Griechenland. Meine Auffassung der Kunst, wie ich sie aus dem Florentiner Freundeskreis, nicht ohne stille Vorbehalte, mitgebracht hatte, mußte umgelernt werden. War nicht die Marées-Hildebrand-Fiedlersche Forderung dahin gegangen, daß die Kunst sich frei zu halten habe von allen außerhalb der reinen Kunstsphäre liegenden Absichten, keinen Bindungen pflichtig außer ihren eigenen Gesetzen? »Frei vom Zwange der Mitarbeit«, wie es Fiedler so schön und würdig in seiner Schilderung vom Leben Marées' formuliert hat?

Und nun sah ich überrascht die Griechenkunst auf griechischem Boden, nicht abgelöst vom Gang der Geschichte, vom öffentlichen Leben, sondern aufs tiefste hingegeben, nicht an den Zwang, sondern an das Recht zur Mitarbeit. Hier zeugte vielmehr jeder Stein dafür, daß diese Kunst nicht um der reinen Erscheinung willen geschaffen war, daß diese Standbilder nicht als bloßer Platzschmuck beim Künstler bestellt waren. Ihr Amt war, gerade an dieser und keiner anderen Stelle ihren besonderen – religiösen oder vaterländischen – Inhalt zum Ausdruck zu bringen, und welches Amt konnte schöner sein als dem Vaterlandsboden und den Vaterlandsgöttern zu dienen! – Nicht als wären meine florentinischen Freunde, die großen und einsamen Spätlinge des neunzehnten Jahrhunderts, in einem Irrtum gewesen. Sie retteten ja die Monumentalität und den Eigenwert der Kunst vor dem Intellektualismus und dem Literatentum und allen außerkünstlerischen oder 499 unkünstlerischen Zwecksetzungen ihrer Tage, indem sie sie allein auf sich selber stellten. Aber glücklich die Griechen, die das gar nicht nötig hatten, weil das Künstlerische für sie das Selbstverständliche war, von dem sie in ihrer großen Zeit gar nicht abirren konnten. Vielleicht war es ein Gewinn, daß ihre bildenden Künstler gar nicht für Geistesheroen, sondern nur für geschickte Handwerker angesehen wurden; das rettete sie vielleicht vor dem Spintisieren der gelehrten Welt über Sinn und Wesen der Kunst und überließ sie ihrem glücklichen Genius.

Wie sehr wurden doch diese Griechen in den Jahrhunderten der Neuzeit mißverstanden, indem man sie auf den Schönheitskult festlegte, etwa so wie ihn unsere Ästheten der Vorkriegszeit betrieben. Ein so tiefer Forscher wie Bachofen stellt sie in seiner Wertung hinter die Römer zurück, weil sie nur künstlerisch, nicht staatsmännisch gedacht und gewirkt hätten, und selbst ihr heilig glühender Nachfahre Hölderlin hat ihnen einmal vorgeworfen, sie hätten ein Reich der Kunst stiften wollen und darüber das Vaterländische versäumt: »und erbärmlich ging das Griechenland, das schönste, zugrunde«. Wie anders würde er aber denken, könnte er heute Hellas bereisen, nachdem es die vollgültigen Zeugen seiner Leidenschaft und seiner Innigkeit aus seinem Schoße zurückgegeben hat. Ich denke an den blitzewerfenden Zeus, den vor wenigen Jahren das Meer um Euböa hergab – war er eine Warnung an den Erbfeind überm Meere? – Und an den Apollon in Olympia, der riesig, im kalten Götterzorn, inmitten des Kentaureneinbruchs in die lapithische Hochzeit steht, den Arm ausreckend gegen das barbarische Greuel, ein unsterblicher Kampfrichter zwischen Hellenen und Barbaren. Waren das nicht 500 feurige Darbringungen an dieses Größere, »das Griechenland«? Mir scheint, eine solche Seelenkraft habe es in der Kunst nicht wieder gegeben bis auf die Gotik, die aber alles Gefühl ins Passive wandte und den tiefen Trostblick der leiblichen Schönheit allzugerne vermied. – O nein, nicht die Kunst der Griechen schwächte ihre Sittlichkeit, erst als die Sittlichkeit geschwächt war, entartete ihre Kunst. – –

Da wir im Anschluß an den Archäologischen Kongreß reisten, genossen wir auf griechischem Boden alle die Erleichterungen, die diesem zukamen, während die Sprachkenntnisse meines guten Kameraden und unsere alte Vertrautheit mit den Gegenständen uns die schöne Freiheit gaben, abseits von der Menge unsere eigenen Wanderwege zu gehen. Der Kyrios, wie er in der Landessprache angeredet wurde und wie er fortan für alle unsere Freunde bis an sein Lebensende heißen sollte, hatte, sobald der Ruf Nach Griechenland! an ihn erging, sich auf die Erlernung des Neugriechischen geworfen, das ihm keine Schwierigkeiten bereitete. Ich hätte gar gerne das gleiche getan, allein ich mußte in aller Schnelligkeit die »Cora« beenden, die mir, wenn halbfertig zurückgeblieben, nachmals nicht mehr aus einem Guß gelungen wäre. So kam ich also sprachlich ganz unvorbereitet, denn das Altgriechische, zu dem mir in Jugendtagen dieser selbe Freund den Zugang erschlossen hatte, hing nach so langen Jahren auch nur noch an einer einzigen, schon ganz verrosteten Angel, dem Homer. Ich war also, wenigstens für die ersten Tage, völlig auf seine Verdolmetschung angewiesen, wenn ich mich auch schnell an die neuen Laute gewöhnte, die mir nichts Fremdes hatten, weil sie mich bald an das Russische bald an das Englische 501 erinnerten (dem Kyrios, der ja bislang in Petersburg gelebt hatte, klangen sie so russisch, daß er zu meinem Ergötzen häufig auf eine griechische Frage mit dadada, dem russischen Ja antwortete, weshalb er sich's gefallen lassen mußte, von mir ein »Dadaist« genannt zu werden). War er mir im Linguistischen himmelweit überlegen, so hatte ich zu seiner Freude und beiderseitigem Nutzen das bessere Gedächtnis für die mythischen Erinnerungen beizusteuern, weil ihn sein langer anstrengender Lehrberuf, der ihm wenig Freistunden ließ, immer beim Reinphilologischen festgehalten hatte. Aber reinphilologisch bedeutete bei ihm nicht »schulmeisterhaft«, für ihn war die griechische Sprache, alle europäisch-arischen Sprachen, lebende wie sogenannte »tote«, ein einziger blühender Garten, in dessen durchsichtigem Erdreich er die Wurzeln sich verschlingen und den Nährsaft aufsteigen sah, nicht anders als der Gärtner entzückt die sichtbaren Gebilde sich entwickeln sieht, – ein Anschauungsgebiet, das mir von klein auf unendlich nahelag und auf dem ich mich in allen meinen florentinischen Jahren schmerzhaft allein gefühlt hatte, weil ganz auf den Umgang mit bildenden Künstlern angewiesen, für die nur das Sichtbare wahr ist. Mohls Leben und Weben im Altgriechischen, seine Wiedergabe des Schlusses von Faust II und anderer deutscher Gedichte, die spät nach seinem Hingang Gelehrte wie Wilamowitz in Erstaunen setzten, bestärkte mich in der Überzeugung, daß es gar keine »toten« Sprachen gibt. Das heißt, es mag ja wohl das Hethitische oder sonst eine dunkle orientalische Sprache, von der ich nichts weiß als den Namen, tot sein. Aber die zwei großen antiken Sprachen leben, nicht durch die mehr äußere Tatsache, daß 502 sie zur Neubildung wissenschaftlicher Bezeichnungen unentbehrlich zu sein scheinen, sondern weil sie durch innere Verwandtschaft und äußere Vermittlung in unser eigenes Sprachdenken eingeflossen sind als lebendige Beispiele ihres Weiterwirkens, so daß auch solche, die sie verwerfen, unbewußt in ihrer Formung stehen. (Theodor Birt hat in seinen »Römischen Charakterköpfen« auf eine Redeweise des Pompejus Magnus hingewiesen, die genau so in unserem täglichen Sprachgebrauch fortlebt, den Ausdruck »etwas auf die lange Bank schieben«.) – Logik des Sprachdenkens klärt die Begriffe auf jedem, nicht nur auf reingeistigem Gebiet, weil sie das Werkzeug selber schärft, das dem Techniker nicht minder als dem Humanisten dient. Wir brauchen uns nicht daran zu schämen, daß unsre Urverwandten früher auf der Lebensbühne gestanden haben als wir und von einer glücklicheren Sonne begünstigt waren.

In Olympia focht es mich gewaltig an, daß das Deutsche Reich, das in den Zeiten seines großen Reichtums und Glanzes diesen Boden auszuheben begonnen hatte, später die Arbeit aus Mangel an Mitteln aufgab und das ganze Stadion unter der alten Schlammkruste des Alpheios steckenließ. Wer mir damals gesagt hätte, daß einmal der Tag einer Weltolympiade in Berlin kommen würde, an dem ein neues Deutsches Reich, nicht ein reiches sieggekröntes, sondern ein verstümmeltes, entblutetes, das sich kaum noch aus der furchtbarsten aller Niederlagen wieder erhebt, durch den Mund seines Führers das Versprechen ablegen würde, mit eigenen Opfern die heiligen Reste von Olympia vollends freizulegen, und daß dem Versprechen unmittelbar die Tat folgen würde!

503 Zwei Symbole seines Wesens hat sich der deutsche Genius geschaffen, den »Ritter mit Tod und Teufel« und den »Faust«. Den deutschen Charakter und die deutsche Seele: das Festgeschlossene, Unerschütterliche und das Grenzenlose, Formauflösende, das am Ende um sich selber zu begrenzen nach der Griechin Helena langt im Drang nach höchster Form. Es liegt aber noch eine verstecktere, vielleicht unbewußte Symbolik im Faust II zwischen den Zeilen; ich weiß nicht, ob sie schon beleuchtet worden ist. Dem Suchenden erscheint zunächst ihr vorgespiegeltes Trugbild, ihre äußerliche Erscheinung. Die war auch der italienischen Renaissance und dem französischen Rokoko erschienen und wirkte noch in den »heiteren« Göttern Griechenlands nach, wie der junge Goethe, wie noch Schiller sie sich vorstellte. Aber es war Spiel und Schein. Der tiefer berührte Germane verlangt mehr, er will die Heroine selbst, und er beschwört sie sich mit einer Kühnheit ohnegleichen aus dem Unbetretbaren herauf: das tragische Griechentum der Frühzeit! Dem Schöpfer der »Helena« und der »Klassischen Walpurgisnacht« war es unterdessen aufgegangen. Daß Goethe die Griechin nicht aus eigener Erfindung eingeführt, sondern sie in unserem mittelalterlichen Puppenspiel schon als die von Faust beschworene Geliebte vorgefunden hat, beweist, wie urdeutsch der Zwang zum Griechentum ist. In Gewand und Schleier der Zeustochter haben sich alle Völker geteilt, aber dem Germanen läßt es keine Ruhe, bis er die echte Helena selber umarmt: »Wer sie erkennt, der kann sie nicht entbehren.«

 

Kein Abschied ist mir je so schwer gefallen wie nach nur sechs 504 Wochen Aufenthalt der Abschied von Griechenland. Mein lieber Kyrios, der lebenslang an eine treutätige tägliche Lehrarbeit gewöhnt war, konnte nicht so lange feiern, schweifen, nur immerzu aufnehmen, ihn verlangte wieder nach der Stille seiner Bücherwelt, um das Erlebte einzugliedern und es an ärmere, unmündige Geister weiterzugeben. Ich mußte seiner Ermüdung Rechnung tragen, so schmerzlich es war zu scheiden, bevor auch nur die beiderseitigen Reisemittel aufgezehrt waren. Aber ich hielt es nur für ein Scheiden auf kurze Zeit, denn es schien mir so unmöglich Hellas wieder zu entbehren wie dem Faust die gefundene Helena. Auch mein heimwehbefallener Kamerad dachte nicht anders als wir würden übers Jahr wieder in Griechenland sein: wir waren ja beiderseits ohne Bande, und für anspruchslose Reisende waren die Kosten nicht allzu hoch. Von jeder Stelle, die uns teuer war, schieden wir auf nahes Wiedersehen. Daß ich erst einundzwanzig Jahre später und allein noch einmal wiederkehren würde, hätte ich damals nicht wissen dürfen.

Alle unsere Wanderungen auf den Spuren des Mythos und der Geschichte hatten in mir das Gefühl für den Gegensatz dieser antiken Ganzheit und Geschlossenheit zu der Zerrissenheit und Zusammenhangslosigkeit des modernen Daseins, vorab meines eigenen, vertieft. Denn seit der Kranz der Familie, der mir die größere Gemeinschaft hatte ersetzen müssen, zerrissen war, hatte ich nicht, wohin ich gehörte. In Deutschland war in den Vorkriegsjahren ein neues Geschlecht herangewachsen, unter dem ich mir wie ein Kind unter Erwachsenen vorkam, dessen Ideologien man belächelt. Sie waren alle so namenlos erwachsen. Sie hatten alle die gleiche offizielle, 505 wie an Drähten gezogene äußere Höflichkeit, die von jeder Herzenshöflichkeit meilenweit entfernt war, und kühle Augen, in denen nichts zu lesen stand als das Wörtchen Ich. Später haben sie bewiesen, daß sie auch anders konnten, aber davon war ihnen zur Zeit nichts anzumerken. Der überhebliche Literat, der Leutnant mit dem gesteiften Schnurrbart, der Referendar, der nach einer reichen Mitgift Ausschau hielt, beherrschten die bürgerliche Gesellschaft. Eine liebeleere künstliche Kunstübung hatte die wurzelechte deutsche Dichtung verdrängt und machte die kalten Herzen noch kälter. Das Altsein der Jugend war es, was mich am meisten entsetzte. Ich zweifelte, wo sich's überhaupt für mich werde leben lassen, seit ich meiner schweren Pflichten entbunden war.

Beim letzten Gang auf der Gräberstraße am Dipylon legte ich den großen Toten meine Sache ans Herz, und diese gaben mich mit einer prophetischen Geste meinem Vaterlande zurück:

Um den Erdkreis wandle dein Geist, so rief's aus den Gräbern,
Aber den Deinen gib liebend und zürnend dein Herz.
Opfre den Göttern des Vätergefilds und werde der Heimat
Besseres Kind, bei ihr suche du Stätte und Ziel.
Fühle der Freiheit Stolz in willig getragenen Banden
Und erhalte dein Herz stark für den künftigen Tag.
Einheit wächst aus der Not – sie kommt euch, geh sie zu teilen
Und im eigenen Grund lernst du zu wurzeln wie wir.

Diese Worte, 1913 in der »Elegie in Griechenland« niedergeschrieben, waren für mich der Auftakt zu dem, was ein Jahr später Wahrheit werden sollte.

506 Das Jahr 1913, das mir für seinen Ausgang die tröstliche Genugtuung der Hundertjahrfeier meines Vaters und meine eigene, damals für Frauen sehr ungewöhnliche Auszeichnung mit dem Doktorhut vorbehielt, sollte mit einem sehr empfindlichen Verluste beginnen. Es beraubte mich eines meiner besten und unermüdlichsten Freunde: am 2. Januar starb Richard Weltrich. Der Ruhmeskranz, den dieser feurige Geist sich selbst mit seinem großen Schiller-Werk zu flechten gedachte, kam nicht zustande, und wie der Kreis der überlebenden Freunde sich lichtet, verwischt die Zeit auch die persönlichen Spuren einer der ausgeprägtesten und lebensvollsten Erscheinungen, die mir begegnet sind. Wenn ich nur die Schriftzüge, die seinen Namen bildeten, vor mir sehe, so blickt mir daraus Richard Weltrich leibhaft entgegen, ein Beweis, welch eigentümliche Persönlichkeit derjenige gewesen ist, der dem Namen diesen kräftigen Stempel aufgedrückt hat. Da scheint es Freundespflicht, noch einmal das Gedächtnis eines Mannes aufzufrischen, dessen großes standhaftes Wollen und unausgesetzte Tätigkeit durch einen merkwürdigen, urdeutschen Mangel an Begrenzung ihr Ziel verfehlten, so daß er nach einem langen, arbeitsreichen, geisterfüllten Dasein fast nur Bruchstücke hinterlassen hat. Ich werde seinem Bild am besten gerecht, wenn ich mich dabei an meinen noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Persönlichkeit für die Frankfurter Zeitung geschriebenen Nachruf anlehne.

Es war im Frühjahr 1896, daß ich Richard Weltrich bei meinem Bruder Erwin in München, wo auch er seinen Wohnsitz hatte, zum erstenmal sah: eine große gebietende Gestalt von urgermanischem Schlag mit edlem Schädelbau und 507 kräftig schönen Zügen, aus denen es wie von innerem Feuer loderte. Die blauen Augen von fast überstarkem Glanz, der rote wehende Bart, das rötliche Gesicht, alles an ihm schien zu flammen. Er hielt jenes Abends durch seine lebendige Geistesfülle die kleine Gesellschaft bis zwei Uhr beisammen und hatte sich, als man aufbrach, noch lange nicht ausgegeben, sondern blieb im Familienkreis bis Tagesanbruch sitzen, durch den Morgenkaffee der Hausfrau zu neuer Ergiebigkeit angeregt.

Weltrichs gesellschaftliche Liebenswürdigkeit mußte auch bei der oberflächlichsten Bekanntschaft für ihn einnehmen, denn so umfassend sein Fachwissen war, nie beschwerte er damit den leichten Flug der Unterhaltung, er nahm ebenso willig, wie er gab, hielt streng auf gute Formen und war immer auch für einen Scherz zu haben. Aber wer ihm nähertrat, der fand unendlich mehr: einen Menschen voll Wärme und Zartgefühl und von unerschütterlicher Zuverlässigkeit, immer zu Rat und Hilfe willig, eine rüstige Kampfnatur, ganz von Überzeugung durchdrungen, aber dennoch jedes Gefühl schonend, gegen jedes Unrecht aufs heftigste empört und stets bereit, für den Schwächeren einzutreten, vor allem auch für die verfolgte und gequälte Tierwelt.

Gebürtig war er aus Ansbach, also aus dem fränkischen Stammgebiet, wo es sich dem schwäbischen nähert; die kleine ehemalige Residenzstadt, über der noch der geheimnisvolle Schatten Kaspar Hausers schwebte, für den Weltrich lebenslang mit Wärme eintrat, hat gewiß stilgebend auf das Wesen des Knaben eingewirkt. Als Kind einer früheren Zeit, die den wilden wirtschaftlichen Kampf nicht kannte, stand er vornehm abseits von allem Rennen und Jagen und gönnte sich 508 bei bescheidenem Auskommen den höchsten Luxus, eine Seele zu haben, die dem Ideal gehörte. Es ist kälter und unwirtlicher auf unserer Erde geworden, seit ihr diese beseelteren Angesichter zu fehlen begannen.

Am anziehendsten gab sich Weltrich in der freien Natur, in seiner deutschen Natur, die er mehr als jede andere liebte, besonders auf Berg- und Waldpfaden, wo er gern den Führer machte. Dann wanderte die deutsche Dichtung und Sage mit, und ein leiser mystischer Zug, den er wie jeder phantasievolle Mensch in sich trug, doch ohne ihm die Oberhand zu lassen, erweiterte die Grenzen der Dinge. Ich habe nicht viele Menschen gekannt, mit denen man so stille abseitige Gedanken tauschen konnte wie mit Weltrich. Da geschah es nicht selten, daß der Führer im Feuer der Unterredung Weg und Steg verlor, was indessen der Stimmung nicht schadete und häufig zur Entdeckung neuer Naturschönheiten führte. Hatte man sich dann mit Mühe wieder zurechtgefunden, so konnte er wohl befriedigt sagen: Nun geben Sie zu, daß ich Sie heute gut geführt habe! Denn er tat sich auf seinen Ortssinn, der bei ganz nach innen blickenden Naturen gewöhnlich nicht allzu groß ist, etwas Besonderes zugute. Unvergessen bleibt mir, wie er auf einem dieser Gänge ein Bändchen Lyrik von Martin Greif aus der Tasche zog, den ich fast gar nicht kannte, und mir Gedichte vorlas, die jene Waldesstille selber gedichtet zu haben schien. Weltrich war wenig über die Grenzen Deutschlands hinausgekommen, und es fiel ihm schwer, fremden Erscheinungen gerecht zu werden – dies war einer der wenigen Punkte, auf denen wir uns niemals verständigen konnten –, selbst in das nahe Italien hat er nur zweimal den Fuß 509 gesetzt, und es war leicht zu verstehen, daß ihm bei seiner ganzen Art und Weise die lichtere Schönheit des Südens wenig zu sagen hatte. Man hätte ihm ein Glücksbewußtsein gestört, hätte man ihm in solchen Augenblicken den oft mit Nachdruck aufgestellten Satz bestreiten wollen, daß es nur in Deutschland solche Wälder und Berge, solche Naturstimmen, solche Stimmungslyrik geben könne.

Diesem flügelstarken Temperament verband sich nun aber zu seltsamer Mischung die peinlichste Genauigkeit, ja Umständlichkeit für alle Verrichtungen, die ihm viel wertvolle Zeit raubte, und diese Zusammensetzung seines Wesens bedingte sein gesamtes schriftstellerisches Schaffen. In jenem Frühjahr arbeitete er an seiner Studie über den Warmbronner »Bauerndichter« Christian Wagner, in der er seine eigene Weltanschauung mit ihren dem schwäbischen Poeten verwandten Zügen, der tiefen Liebe zu allem Sein, Tierschonung und Tierschutz, der Hinneigung zu der indischen Seelenwanderungslehre, niedergelegt hat. Fast hat er die zarten lyrischen Gebilde des dichtenden Landmanns mit der Wucht seines eigenen Ethos zu schwer belastet, mit der Tragweite seiner eigenen Gedanken zu stark ausgespannt. Bezeichnend ist es für Weltrichs Ausdehnungsbedürfnis, daß sich ihm von diesem schon recht stattlichen Buch der Stoff zu einem zweiten ablöste, das die Seelenwanderung selbständig behandeln sollte, aber leider nicht mehr zustande kam, denn die Fortsetzung seiner großen Schiller-Biographie schob sich gebieterisch dazwischen.

Daß aber auch sein »Friedrich Schiller«, sein Hauptwerk, dem er die beste Kraft und die glühendste Liebe gewidmet hat, bei all seinem rastlosen Fleiß ein Torso bleiben mußte, darin 510 liegt die geheime Tragik von Weltrichs Leben. »Das Rationale reicht zur Erklärung eines Menschendaseins und seiner Äußerungen nicht hin«, sagt Weltrich einmal in seinem Schiller, und dieser schöne Ausspruch paßt vor allem auf ihn selber. Etwas Dämonisches wirkte bei all seinem Schaffen mit, das ihn jedesmal über die gezogenen Grenzen hinauslockte. Es widerstrebte seinem verknüpfenden Geist, die Fäden zu durchschneiden, durch die alle Dinge miteinander zusammenhängen und die schließlich ins Unendliche hinausführen. Die Schiller-Biographie war ursprünglich nur als Einleitung zu einer neuen Schiller-Ausgabe begonnen, hatte aber alsbald diesen engen Rahmen gesprengt und war auch durch die von ihm geschürften Stoffmassen und des Verfassers eigene Gedankenfülle zur Anlage eines selbständigen Monumentalbaus von gewaltigem Umfang angewachsen. Im Jahre 1885 erschien die erste Lieferung bei Cotta, und 1889 kam der erste fertige Band in den Buchhandel. Neunzehn Lebensjahre des Verfassers stecken in diesem einen Bande, der nur bis zu Schillers Flucht nach Mannheim reicht; seinen eigenen tiefsten Lebensinhalt hat er hineinversponnen. Man fühlt es beim Lesen des prächtigen Buches, daß Weltrich für diese Aufgabe geboren war. Mochte er auch in Goethe den größeren Dichtergenius, in Kleist den gewaltigeren Dramatiker verehren, seine Liebe zu Schiller entsprang einer Seelenverwandtschaft, die ihm das Einfühlen zur Natur machte, und sie brach trotz scharfem Blick für die ästhetischen Sünden seines Heldenjünglings oft mit hinreißender Begeisterung durch. Aus dieser Liebe heraus hat er auch Hermann Grimm zur Rede gestellt, weil dieser dem lauteren Charakter Schillers »die unter 511 dem Mantel der Einfalt unergründliche Schlauheit des Schwaben« vorgeworfen hatte. Aber die jugendliche Eindrucksfähigkeit, die Weltrich als Menschen so liebenswert machte, wurde ihm als Schriftsteller zugleich zum Heil und Unheil. Denn indem ihn seine Aufgabe so mächtig ergriff, daß er nicht ruhen konnte, bevor er ihr das Innerste abgefragt hatte, nahm ihn zugleich jede Einzelheit gefangen und wurde wiederum zum Selbstzweck, wie ja für den tieferen Geist am Ende alles, was er berührt, gleich lebendig und bedeutsam sein, alles auf den Hauptpunkt bezogen werden kann. Die Leser jedoch verlangten ungeduldig nach dem zweiten Band, am ungeduldigsten der Verleger. Cottas Nachfolger war unterdessen unser geistvoller Adolf Kröner geworden, gleichfalls eine Prachtgestalt von ritterlicher Liebenswürdigkeit und Weltrich persönlich befreundet. Dieser mahnte bald laut, bald leise, bald mit Ernst, bald mit Scherz an die Ablieferung des Manuskripts. Aber immer mächtiger schwoll der Stoff unter des Verfassers Händen, und Weltrichs starkes literarisches Formgefühl das ihm nicht gestattete auch nur einen Zettel aus der Hand zu geben, wenn er nicht vollkommen stilisiert und mit dem besonderen Stempel seines Geistes gezeichnet war, erschwerte den Fortgang gleichfalls. Es war ein Lieblingsanliegen Kröners, zu Schillers Todesjahr im Besitz einer Schiller-Biographie zu sein. Aber weder die Frühjahrs- noch die Herbstmesse sah Weltrichs zweiten Band, und was ich Kröner oft mit Mißmut äußern hörte, die erste Lesergeneration sei schon dahingegangen, auch der Verleger werde sterben und Weltrich selber werde nachfolgen, ohne daß der zweite Schiller-Band das Licht erblickte, ist zur Wahrheit geworden.

512 Im Winter 1909 hatte ich, aus Italien kommend, Gelegenheit, einen Einblick in die merkwürdige Werkstatt Weltrichs zu tun. Ich fand ihn in seiner stillen Wohnung an der Kaiserstraße, wo er einsam mit seinem Pudel, dem schon genannten Mohrle, hauste, wie immer in dicke Tabakswolken gehüllt, die Samtmütze auf dem jetzt beinahe ganz enthaarten Scheitel, und zu meiner Verwunderung mit einem Stoß genuesischer Annalen und sonstiger Geschichtsquellen aus dem Cinquecento beschäftigt. Beim »Fiesco« angelangt, hatte er die Pflicht gefühlt, das von Schiller benützte unzulängliche Geschichtsmaterial mit dem neuerdings erschlossenen zu vergleichen und die Verschwörung des Fiesco in ihrer nackten historischen Wahrheit herauszustellen. Zu diesem Zwecke hatte er sich erst in das Italienische, das ihm nicht geläufig war, einarbeiten müssen, dann waren ihm aus der genuesischen Mundart und dem Stil des Cinquecento neue Hindernisse erwachsen, und da er sich sogar an belanglosen Stellen nicht erlaubte, über einen Stein des Anstoßes leicht hinwegzuschlüpfen, so hatte er schon den ganzen Winter mit italienischen Gelehrten über die dunklen Stellen hin- und herkorrespondiert und immer neue Sprachkenner und Wörterbücher mit solcher Gründlichkeit zu Rate gezogen, als ob es sich um sprachliche, nicht um historische Forschungen handelte. Ich kam gerade rechtzeitig, um die letzten Schwierigkeiten beseitigen zu helfen. Nun standen ihm die bekannten Gestalten des Dramas im harten Licht der Geschichte da. Statt der Schillerschen Idealwelt die Moral der Renaissance, wo der persönliche Vorteil das einzige Pflichtgebot ist. Weltrichs Jünglingsgemüt prasselte in Zornesflammen auf, als er die ehrwürdige, milde 513 Gestalt des Schillerschen Andrea Doria sich in einen eiskalten Rechner voll unersättlicher Habsucht und unmenschlicher Rachgier verwandeln sah. Er glühte, ihm die Maske des Patriotismus und der Redlichkeit vom Gesicht zu reißen, und vergaß beinahe, daß er doch eigentlich die Geschichte Schillers, nicht die der genuesischen Republik zu schreiben hatte. Man mußte seine helle Freude an ihm haben, wenn man ihn so über den Doria wettern hörte wie über einen gegenwärtigen Wüterich, und es entstand aus den gründlichen Studien und dem großen Zorn eine wertvolle Schrift, die dem deutschen Leser guten Einblick in jene verworrenen Zeiten und Zustände gewährt, aber seine Freunde sahen doch mit Bestürzung, daß Weltrich nunmehr in Bahnen, die sich immer weiter entfernten, um seinen Mittelpunkt Schiller kreiste. Auch er mag es oft mit heimlichem Schauder empfunden haben, daß sein Ziel ferner und ferner von ihm wich, und gewiß verbarg er viel schweigende Qual in seiner einsamen Seele, denn es war nur ein halber Trost, daß ihn nachgerade niemand mehr nach der Vollendung der Schiller-Biographie zu fragen wagte. Er arbeitete mit solch hartnäckigem Eifer, daß er sich sogar im Frühjahr den Besuch seines Gartens versagte, um nicht angesprochen und in seinen Gedanken gestört zu werden, aber er arbeitete so, als ob hundert Schaffensjahre vor ihm lägen. Sein Weg dehnte sich ins Unermessene, doch er war Optimist, und mit ihm ging bis zur letzten Stunde die edle »Trösterin, Treiberin Hoffnung«.

Nach Vollendung seiner »Fiesco«-Studie holte er mich einmal zum klassischen Maibock im Hofbräuhaus ab. Dort unter der unzählbaren zusammengepreßten Menschenmenge saß 514 Weltrich mit glänzenden Augen, nahm in langen Pausen tiefe Züge aus seinem Glas. wechselte Scherzworte mit den Nachbarn, sog den fast undurchsichtigen Tabaksrauch und die Ausdünstung so vieler Menschen im geschlossenen Raum, das dämonische Durcheinander von tausend bierheiseren Stimmen wie eine elementare Erquickung ein, und als wir nach drangvollen Stunden den Heimweg antraten, wußte er mir nicht genug von der erlösenden Wohltat zu sagen, die dieses Untertauchen in die urtümliche Volkskraft seinen Nerven bereitet habe. Ich konnte freilich nur bestätigen, daß das Getränk und die an langen Stangen herumgereichten Brezelkränze köstlich seien, denn das Bad in der Volkskraft war mir weniger gut bekommen. Nach der unverminderten geistigen Regsamkeit und dem Glanz der Augen konnte man damals glauben, daß Weltrich noch der alte sei, aber heimlich war er unterwühlt und seine Kraft gebrochen. Einsiedlergewohnheiten, von denen er nicht lassen konnte, wie das lange Aufsitzen bei Studierlampe und Tabaksqualm, die unregelmäßigen Mahlzeiten, die mangelnde Pflege leisteten einem alten Herzleiden Vorschub, und sich zu schonen hatte er nie gelernt. Daß er noch als alter Mann im Englischen Garten ein in dem reißenden Isarkanal hertreibendes Kind, ohne Schwimmer zu sein, mit eigener Gefahr gerettet hat, ist ein Zug, der seinem Bilde nicht fehlen darf, hat aber auch nicht zur Verlängerung seines Lebens beigetragen. Als wir im Herbst 1910 zum letztenmal gemeinsam in den Alpen wanderten, mußte ich unwiderleglich erkennen, daß sein Leben zur Neige ging. Weg war die elastische Haltung und der beflügelte Schritt, er klagte, ich ginge viel zu rasch, und wenn ich auf irgendeinem 515 Aussichtspunkt den langsam Nachsteigenden erwartete, so sah seine hagere, vom langen Mantel umwallte Gestalt mit den Feueraugen und dem wehenden weißen Bart, in dem nur noch vereinzeltes Rot flammte, ganz märchenhaft aus wie »der Geist, der Bergesalte«.

*

Ha, wie mit einmal
Zuckt es herauf
Durch die Nacht des Vergessens:
Aus grauer Vorzeit
Fallen deutende Blicke
In meine friede-
losen Geschicke:
Ich war Kassandra –
Kassandra war ich, die Priamide.
(Aus »Hymne an Phöbos«)

Ich hatte mich unterdessen in München fest angesiedelt und beherzigte den Rat, der mir auf der Gräberstraße am Dipylon zuteil geworden war, mich immer enger an das Eigene anzuschließen. Die Umstellung fiel mit einer völligen Neugeburt zusammen. Die glückliche Federkraft, die grenzenlos gebogene aber nicht gebrochene, die mein mütterliches Erbteil war, schnellte hoch auf und durchrann mich mit einem unsäglichen Gefühl der Selbsterneuerung, spürbar bis in Fuß- und Fingerspitzen. Alle erlittenen Ängste und bösen Ahnungen drängte ich noch einmal sinnbildhaft in das Kassandragedicht hinein, um sie für immer zu entlassen. Hinter mir welch eine Wüste, fast nur von dem Verzucken des geliebten Lämpchens erhellt, wie viele verlorene Jahre, welch verzehrte Lebenskraft 516 – ich vermaß mich dennoch, alles wieder einbringen zu können. Was ich hatte verlieren müssen, war mir ins Unverlierbare gerettet. In Griechenland war zuerst die Starre und Fremdheit gewichen, die uns ergreift, wenn unser nächster und geliebtester Mensch in eine andere Ordnung der Dinge eintritt und fortan der unsichtbaren Gemeinschaft angehört, von der es eisig in das Land der Lebendigen herüberweht. Auf Euböa war es, in einer wundervollen Sternennacht, daß ich zum erstenmal wieder von ihr träumte und ihr Gesicht lächeln sah; was konnte ihrem Wesen besser entsprechen, als daß sie mir in das Land folgte, auf das sie mich seit meiner frühsten Kindheit hingewiesen hatte, nur daß ich nie, so lange sie lebte, das Meer zwischen sie und mich hätte bringen dürfen. Ich widmete ihr die »Wandertage in Hellas«, die an Ort und Stelle durch Stichworte in Merkbüchlein verhaftet, dann in Forte zum Buch ausgearbeitet, 1913 bei Georg Müller in München erschienen, und wußte, daß ich ihr nichts Erwünschteres darbringen konnte, denn so behielt sie ihren Teil an meinem fortschreitenden Leben. Ich erkannte jetzt an dem allmählichen Wiedererwarmen aller Dinge, daß, was ich von je am meisten gefürchtet hatte, die Vereisung des Lebens gar nicht eintreten konnte, weil eine so lange besessene, so allmächtige Mutterliebe auch nach dem Tode nicht aufhören kann, weiterzuwärmen. Unter mir wohnte der wiedergefundene Jugendfreund und wachte wie ein Schutzgeist über meinem Wohl. Dieses selige Kindergemüt, in dem sich die oft bis zur Einfältigkeit gehende Einfalt und Menschengläubigkeit des reinen Toren mit der stillen Weisheit eines Erleuchteten verband, legte sich wie Öl auf den hohen Wogengang meines 517 Lebens und verbreitete rings um mich her eine heitere Stille. Was er jahrzehntelang als den Fehlbetrag seines Daseins betrachtet hatte: daß es ihm damals bei unserem Aufbruch nach Italien nicht vergönnt war uns nachzufolgen, erwies sich als unser beider Heil. Gewiß hätten wir uns, unfertig wie wir beide waren, in dem Lande, das seiner Anlage weit weniger entsprach als der meinigen, weit auseinandergelebt. Jetzt als reife Menschen waren wir des Verbindenden gewiß und konnten über das Fremdbleibende leicht hinwegsehen. Wie er mir nicht nur in allen äußeren Vorkommnissen hilfreich zur Seite stand, sondern auch für meine neuen Arbeiten aus Bibliotheken und aus Fachberatungen, die ihm sein ausgedehnter Verkehr ermöglichte, den nötigen Hilfsstoff herbeischaffte – ihm letzte, liebste Lebensaufgabe –, das habe ich in meinem ihm gewidmeten Buche»Ein Genie der Liebe« dankbar bezeugt. Wenn er mich viel kostbare Zeit durch schwierige Dienstboten verlieren sah und er mir nicht auch da helfen konnte, tröstete der Gute mich schalkhaft durch den Vorschlag, er wolle im nächsten Leben meine Frau werden und bis dahin noch alles gelernt haben: Kochen, Nähen, Flicken und was sonst zum Haushalt gehört, um mich von der Plage des Alltags zu entlasten. Ich setzte freilich keine großen Hoffnungen auf diese freundliche Absicht in Anbetracht seiner ausnehmend unpraktischen Gelehrtenanlage, die ihn selber im häuslichen Leben hilflos machte; nur vor meinen Fünfuhrgästen pflegte er durch unüberbietbar kunstgerechte Teebereitung im Samowar zu glänzen. Beide schwelgten wir in der geplanten zweiten Hellasfahrt und suchten uns durch Inangriffnahme des Neugriechischen darauf vorzubereiten.

518 Durch die Erneuerung des Dreibunds schien auch das Kriegsgespenst noch einmal beschworen, und ich selber hatte es aus meiner Vorstellung hinweggebannt. Da begegnete es mir im Winter 1913–14 noch einmal in einem seltsamen inwendigen Spuk. Von einem abendlichen Stadtgang in meine Wohnung in Schwabing zurückkehrend, sah ich unter einer beschneiten Pappel schrägüber von dem jetzt verschwundenen Leopold-Palais einen jungen Menschen mit Stelzbein stehen, der offenbar auf Almosen wartete, doch ohne sich im geringsten zu rühren oder den Kopf zu drehen. Als ich näher kam, verwandelte sich mir plötzlich – nicht für das Auge, nur für die innere Vorstellung – das Schneefeld der breiten Leopoldstraße in ein abgekämpftes, überschneites, von den Trümmern einer Schlacht bedecktes Gefechtsfeld, und der bleichwangige junge Stelzfuß mit dem aufgereckten traurigen Profil und dem umgeschlagenen Mantel stand da wie eine große gegen den Himmel gerichtete Anklage. Mir wurde bang, und statt heranzutreten, drückte ich mich scheu wie vor etwas Geisterhaftem vorüber. War es meine alte Scham vor der entwürdigten Menschheit, die mich nie anders als mit gesenkten Augen vor einem Bettler stehen ließ? Nein, diesmal war es etwas anderes. Denn am nächsten Tag wiederholte sich der Vorgang: ich nahm mir vor, ihn anzureden und die auffallende Erscheinung fest ins Auge zu fassen, aber ich vermochte es nicht, ein abergläubischer Schauder trieb mich schnell vorbei, als stünde in diesem Verstümmelten mir ein Kriegsopfer, nicht ein einzelnes, sondern das Sinnbild einer ganzen verstümmelten Männerjugend gegenüber. Unglaublich zu sagen, daß mich bei meinem jedesmaligen Vorüberkommen das gleiche 519 gespenstische Grauen faßte, obgleich ich ja völlig überzeugt war, ein Wesen aus Fleisch und Bein vor mir zu haben. Einmal als ich schon vorüber war, wollte ich mich zwingen umzukehren, ging langsam, griff in die Tasche, da war's, als würde mir das Gesicht nach vorwärts gedreht, daß ich schleunigst weiterlief. Im Hause klingelte ich zuerst an der Wohnung des Freundes und sagte zwischen Lachen und Verzweiflung über mich selbst: Er steht wieder da und ich bin abermals vorbeigegangen! Der Immerverständige tröstete mich, sobald er zu Nacht gespeist habe, würde er mich zurückbegleiten, wir würden zusammen vor den Geheimnisvollen treten, und wenn ich ihm erst meinen Obolus gereicht hätte, würde er für mich kein Symbol mehr sein, kein Kriegsgespenst, sondern ein harmloser Bettler an seinem täglichen Standort. Ich wartete voll Ungeduld, aber als wir an die Stelle kamen, war der Mensch verschwunden und blieb es. Die Entzauberung hatte nicht stattgefunden.

 

Um jene Zeit war auch Heyses langes, sonnenhelles Leben auf die Schattenseite getreten. Mir war er vor allem der Freund meines Vaters, sein letzter und bester, wenn ich auch ein leises Gefühl der Fremdheit ihm gegenüber nie völlig überwinden konnte, das aus dem Unbewußten kam und rationaler Begründung entbehrte. Jetzt quälten ihn Gichtschmerzen, mehr noch der Kummer nicht mehr arbeiten zu können, das entbehren zu sollen, was alle Tage seines Lebens ausgefüllt hatte und ihnen ihren Wert gegeben. Ich suchte zu trösten, es gebe ja so unendlich viel Schönes, woran der Geist sich immer neu erheben könne. – Ja, was denn? – Nun, die 520 Griechen, Shakespeare. – Aber das alles kenne er doch längst, war die unmutige Antwort. Auch der Hinweis auf das viele, das er selbst hervorgebracht hatte, verfing nicht: das sei ja nun schon alles da. Ich dachte an meine Mutter, die in den Wochen ihrer langsamen Auflösung sich ganz in ihre Lieblingsdichtungen versenkt hatte und noch in ihren Träumen mit Orestes und Klytämnestra beschäftigt war. Aber ich verstummte, der Fall lag anders. Vom Werk Abschied nehmen, gibt es einen härteren Abschied? Es ging ihm umgekehrt wie in seinem »Festmahl des Alten«, wo dem greisen Dichter die geladenen Gäste ausbleiben, aber dafür die Schar der Himmlischen zur Tafel kommt. Ihm blieben die Freunde treu, aber die Götter blieben aus. Er hatte sich zu hemmungslos ausgeschrieben, ohne je und je in den Urquell des Lebens und der Natur zurückzutauchen. Darüber war sein Schaffen ergreist und auch seine blühende Sprache welkte. Da er seine Verwicklungen schon immer mehr aus der wandelbaren Welt der gesellschaftlichen Konventionen als aus der unveränderlichen der menschlichen Leidenschaften geholt hatte, mußte er notwendig hinter der gewandelten Zeit zurückbleiben, so konnte es ihm zustoßen, daß er in einer ganz späten Novelle noch einmal die Mischheirat zwischen Adelig und Bürgerlich als ein pathetisch zu nehmendes Problem behandelte, während längst Prinzen aus regierenden Häusern sich Frauen aus dem Bürgerstand holten und eine Schwester der Kaiserin in glücklichster Ehe mit einem großen Kliniker lebte. Sein Freund Lenbach hat ihn mit einer Gloriole gemalt und mit Recht. Der Zeitraum, in, dem er wirkte, hat in Deutschland größere Dichtergenien gesehen, aber keinem wurde gehuldigt wie ihm, und gäbe es 521 bei uns die Würde des Poeta laureatus, so wäre sie fraglos ihm zugekommen. Seine hochkultivierte aristokratische Persönlichkeit mit der weltweiten literarischen Bildung und den diplomatischen verbindlichen Umgangsformen stempelte ihn schon äußerlich dazu. Dieser ausstrahlenden Persönlichkeit, die ihm in der ganzen Welt verdiente Freundschaften gewann, und die vielleicht seine schönste Schöpfung war, verdankte er wohl mehr als seinen schon leise welkenden Werken den Nobelpreis, der ihm an seinem achtzigsten Geburtstag zufiel. Sein Name war kanonisiert und blieb es, wenn auch seine Wirkung auf die Nation mehr und mehr verebbte. Der Angriffe seiner Widersacher aus den jüngeren Lagern erwehrte er sich im Geiste der Genien mit überlegener Fechtereleganz, denn jene hatten weder, was er besaß, noch was ihm fehlte. Und wenn er mit seinem vergänglicheren Glanz die starken und dauernden Dichterpersönlichkeiten seiner Tage überstrahlte, so ist er doch allen Großen ein treuer Freund gewesen und durfte seinen Nimbus mit so schöner Würde tragen, weil er berechtigt war, sich als eine höchst gesteigerte Kulturblüte zu empfinden. Er war auch nicht der eitle, sich selber überschätzende Dichter, für den ihn viele der Jüngeren hielten: als er »Romeo und Julia auf dem Lande« gelesen hatte, äußerte er gegen seine Freundin Rosalie Braun, er gäbe den kleinen Finger seiner rechten Hand darum, wenn er das geschrieben hätte. Auch seine Briefe an meinen Vater, die vielfach zum Schönsten gehören, was aus seiner Feder gekommen ist, zeigen ihn bei allem Hochgefühl seiner Siegerlaufbahn durchaus als seiner Grenzen bewußt. Sein leidenschaftsloses Naturell und ein allzu geebneter Lebenslauf ließen ihn nicht leicht den 522 Schlüssel zu den tragischen Tiefen der Menschenbrust finden. Für viele bilden Heyses italienische Novellen den Höhepunkt seiner Erzählungskunst und wohl mit Recht. Er hat ja auch Italien zuerst für die Novellistik wieder entdeckt nach den Romantikern, deren Italien im Monde liegt! Nur daß er das italienische Volk mit Maleraugen sieht in seiner schönen Farbigkeit und Bewegtheit; um in sein Inneres zu blicken, ist er zu sehr Nordländer, Großstädter und Bildungsmensch, kennt sie nur durch kürzere Reisen, ohne länger mit ihnen gelebt und einen Scheffel Salz zusammen gegessen zu haben. Die Italiener sind für den Ausländer nicht so leicht zu finden, wie ihre große Natürlichkeit diese glauben läßt. Ich weiß überhaupt keinen deutschen Dichter, der ihnen ganz naturnahe gekommen wäre außer dem wilden Schwaben Karl Waiblinger, der unter Römern und Ciociaren fast einer der Ihren geworden ist, und dem feinsinnigen Schweizer Heinrich Federer, den seine Eigenschaft als katholischer Priester neben der des Dichters zu tieferen Einblicken befähigte. Man darf nicht vergessen, daß der Italiener nicht nur katholisch ist, sondern der Katholizismus italienisch. – Heyses Bindung an Italien war literarischer Art; dafür dürfte er aber auch in der Kenntnis der neueren italienischen Literatur kaum übertroffen sein, und was er durch seine Übersetzungen für das Verständnis der italienischen Literatur in Deutschland gewirkt hat, bleibt ihm von seiten der Italiener unvergessen. Wenn strenge Totenrichter unter seinen Landsleuten gelegentlich den Schritt seiner Muse für die eine oder andere Aufgabe nicht wuchtig genug finden – es ist ja unvermeidlich, daß bei jeder Umdichtung etwas vom Temperament des Übersetzers in das neue Gefäß 523 mit einfließt –, so bleibt doch die Unermüdlichkeit bewundernswert, mit der er neben der Menge des von ihm selbst Hervorgebrachten seine Fähre über den Strom fuhr, um immer mehr und mehr von dem fremden Gute zu landen. Nicht den Großen allein galten seine Mühen, ihm entging keine neue Erscheinung auf dem italienischen Parnaß, er holte sie herüber, auch solche, denen er, wären sie ihm im deutschen Blätterwald begegnet, keine Beachtung geschenkt hätte. Seine Leichtigkeit war dabei so groß, daß ihn, wie er mir einmal gestand, jede noch so harmlose Reimerei, die er auf der Reise irgendwo in einem italienischen Provinzblättchen fand, magisch zwang, sie in deutsche Verse zu bringen. So war es dann auch eine Rückkehr zu seiner alten Übersetzertätigkeit, was ihn am späten Ende noch einmal über das Ausbleiben eigener Gesichte tröstend hinweghob.

Kurz vor seinem vierundachtzigsten Geburtstag, den er nur um weniges überleben sollte, sah ich den Freund zum letztenmal. Ich fand ihn auf seiner Liegestatt ausgestreckt; er war abgemagert und erschien im Liegen jünger. Er hatte eben in der Zeitung gelesen und klagte über das Walten der Dämonen in der Balkanpolitik. Ich bemerkte, daß dort just keine Neulinge am Werk seien, denn ich dachte an den Belgrader Königsmord, der um elf Jahre zurücklag. – Ja, fuhr er auf, indem er sich schnell emporrichtete, aber sie haben zugelernt. Ahnungsvolles Wort! Wir schrieben 1914 und es fehlten nur ein paar Monde bis zum Schuß von Serajewo. Das jähe Aufsitzen brachte eine erschreckende Veränderung hervor, die Wangen sanken herab, der Mund erschlaffte, der nahe Verfall kündigte sich an. Aber die glückliche Führung, an deren 524 Hand er durchs Leben gegangen war, sollte sich nun auch in dem Zeitpunkt seines Scheidens bewähren. Ihm wurde es erspart, den Krieg mit Italien, den Zusammenbruch Deutschlands und den Einsturz der ganzen bürgerlichen Gesellschaft zu sehen, auf deren Wertsetzungen er selbst mit seiner Person und seinen Werken stand. Und in dem Glanze seiner Beisetzung spiegelte sich noch einmal sein großes Ansehen und sein festliches Weltglück. Von seinem Grabe heimkehrend wußte man, daß man dem Begräbnis einer ganzen Ära angewohnt hatte. Auch wer sich mit seinem Weltbild im Widerspruch befand, konnte den Eindruck einer plötzlich eingetretenen Leere nicht abweisen, weil eine Gestalt wie die seinige unter den Jüngeren nicht mehr möglich war.

*

Was trieb mich plötzlich nun mit Liebesreue
Von allem was da lockte mich zu kehren,
Dem Land der Väter einzig zugewendet,
Wie man Geliebtes in Gefahr umschließt?
Die Luft war still, kein Wölkchen das uns dräue!
Und doch im Herzen quoll mirs wundersam
Dich ganz zu fassen, heimatliche Scholle,
Als ob ein Sturm dich mir entreißen wolle,
Mein deutsches Land von einem und zum andern
In Andacht zu durchwandern.
      (Aus dem Gedicht »Deutschland, eine Pilgerfahrt«)

Wie die Jahreszeit vorrückte, wurden die Wanderschuhe von selbst unruhig, aber sie verlangten nicht auf den gewohnten Weg nach dem Süden. Alle meine Gedanken waren auf 525 Deutschland gerichtet. Es drängte mich unwiderstehlich dieses Vaterland, dessen Ganzes mir bisher fast nur ein seelisch-poetischer Besitz, keine dinghafte Vorstellung gewesen war, mit allen Sinnen in mich aufzunehmen. Ich zog mir einen Längsschnitt von München bis zum deutschen Meer, um alles was von landschaftlichen und baulichen Köstlichkeiten, von mythischen und geschichtlichen Erinnerungen unterwegs erreichbar wäre, wie an einer Perlenschnur aufzureihen mit einem wasserhellen Diamanten, der Insel Sylt, als Schlußstück. Daß mich der Kyrios begleiten würde, verstand sich von selbst. Nach einem kurzen fröhlichen Auftakt im schönen Schwabenland, wo jedes von beiden noch nahe Freunde besaß, die gemeinsam besucht wurden, ging es über Frankfurt, wo wir uns für diesmal nur flüchtig aufhielten, um zwei Weihestätten, Goethes Geburtshaus und den Römer, zu grüßen, nach Norden weiter. Im Taunus wurde die Saalburg mit dem Limes besichtigt, und wir erinnerten uns dabei an die Stunden, wo der junge Philologe seine dreizehnjährige Schülerin in die »Germania« des Tacitus einführte, die diese hernach in der Stille übersetzte und in Reinschrift der hocherfreuten Mutter zum Geburtstag überreichte. Es fiel mir auf, wie viel unmittelbarer und entschiedener solch eine plötzliche Begegnung mit der Welt der Antike inmitten deutscher Waldungen wirkte als in Italien, wo sie eine alltägliche Erscheinung ist und dem Rahmen des Ganzen natürlich eingefügt. Hier bemächtigte sie sich des Geistes und erfüllte ihn mit Vorstellungen, die bei dem Fortgang der Reise stärkste Nahrung fanden. – Auf der Wilhelmshöhe bei Kassel gerieten wir bei dem langen Abstieg durch den Park in einen Gewittersturm von unvergeßlicher Stärke, 526 der die gewaltigen Linden zu beiden Seiten der schöngeschwungenen Waldallee tief bis zu unseren Häuptern niederdrückte unter unbegreiflichem Rauschen, Zischen und Sausen wie von gepeitschter Meerflut, während Blitze uns den Weg zeigten und wir bis auf die Haut durchnäßt wurden; ein Eindruck von wilder Größe, der fast mit dem Ungemach versöhnte. In Münden sahen wir dann wie Werra und Fulda sich in die Arme stürzen und vereint als Weser weiterströmen. Dort stiegen wir ins Dampfboot, das von einem Schwarm blonder blauäugiger Schulausflügler von ausgesprochen westfälischem Schlag durchjubelt war. Ein Flößer, der still auf seinem Floße saß und trotz der auf den gestrigen Regen gefolgten strengen Kälte die Füße in das eisige Wasser hängen ließ, wurde mit Zuruf begrüßt; er schien eine bekannte Erscheinung zu sein. Die Weser, die Hochwasser führte, stand auf gleicher Höhe mit den Wiesenborden, reizend geformte Vorhöhen und schön bewaldete Kuppen traten nahe heran, blühendes Buschwerk lächelte durch den Dunst oder Wasserstaub, der über der ganzen Landschaft lag, und Heuduft frischgemähter Wiesen begleitete uns auf der ganzen Fahrt. Ich weiß in Deutschland schönere Flüsse, aber keiner schien mir liebenswürdiger als diese Weser in ihrer bescheidenen Anmut, die innerhalb Deutschlands entspringt und ohne eine fremde Scholle berührt zu haben, innerhalb Deutschlands mündet und doch auf ihrem kurzen Lauf die tiefsten nachwirkendsten Entscheidungen unserer Geschichte erlebt hat. Was fiel Schiller, dem Historiker unter unseren großen Dichtern ein, diesen edlen Strom erklären zu lassen, daß von ihm leider gar nichts zu sagen sei! Ist von dem Abzug des Germanicus, 527 der uns für immer vor der Gefahr der Einverleibung ins Römerreich rettete, und von den furchtbaren Sachsenkämpfen an diesem Ufer, wobei unser alter Glaube blutig vor einem neuen erlag, wirklich gar nichts zu sagen? Es scheint, daß auch das historische Denken seine wechselnden Gezeiten hat, und daß nicht jede Epoche jede geschichtliche Großtat verstehen kann. Mir tönte aus einem alten Zauberspruch das Geraune der Schicksalsschwestern nach: Eiris sazun Idisi – und diese riefen Gesichte des Vergangenen auf, Gesichte, die zum Dolmetsch eines Shakespeares bedürften:

An diesen Ufern saßen einst die Disen,
Siegsreiser bindend, Schlachtgeschicke wirkend,
Den Welteroberern wirkten sie Verderben.
Von hier aus schossen sie den Schicksalsfaden
Am Himmel hin in unbegrenzte Fernen,
Des deutschen Volkes goldenen Schicksalsfaden.
Dort wo des Stromes Bette sich verengt,
Sah ich zwei Schatten hüben stehn und drüben,
Durch mehr als nur den Fluß getrennt. So grimmig
Bedrohn sich Brüder nur: He, Römerknecht!
Einäugiger, das goldene Ehrenkettlein
An deinem Halse schmäht den Freigebornen.
Die Mutter schämt sich dein, läßt sie dir sagen.
Kehr um, sonst lehrt mein Schwert dich Treuepflicht.
– Armin, du edler Schatten, Friede, Friede!
Kein Deutscher nimmt vom Feind mehr Ehrenkettlein,
Und keine deutsche Mutter braucht zu schmälen, 528
Kein Bruder mehr den Bruder zu verachten
Als Söldner fremder Schlachten.

– Die Vorkriegszeit fragte noch wenig nach den Taten der Väter. Unter den blonden Cheruskerenkeln auf dem Verdeck unseres Dampfers wußte gewiß nicht einer von dem Schicksalsfeld, das dieser Fluß bespülte, dem Itistaviso des Tacitus, das nach den alten Kampfwalterinnen, den Idisen, hieß und das Ende der Absichten Roms auf den deutschen Norden sah. In Karlshafen war, viel zu früh für meine Wasserlust, die Fahrt zu Ende, denn ich weiß mir keine ansprechendere Art der Fortbewegung als auf einem Flußschiff mitten hinein in eine noch unbekannte anmutvolle Landschaft. Als wir ausstiegen, befanden wir uns im christlichen Mittelalter, im Reich des fränkischen Karl. Der Ort, der von ihm den Namen hat, liegt oben am Bergrand; ein reizender Anstieg führte uns zur Lindenhöhe mit dem prächtigen Blick auf die Weser. Wilde Rosen wucherten oben und bildeten richtige Bäume. Nach einer kurzen Mahlzeit wanderten wir weserabwärts nach dem Dorf Herstele und erstiegen von dort den Kaiserstein. Ein niedriges verwittertes uraltes Steinkreuz hielt mich so lange fest, daß der vorausgegangene Kyrios zurückkam mich zu suchen; leider hatte ich nicht erkunden können, ob das wuchtige Malzeichen zu den Sachsenkämpfen in Beziehung steht.

Und jetzt eilten alle Gedanken dem Teutoburger Walde zu, ob es uns gelänge, eine noch so blasse Erinnerungsspur der Kämpfe zu finden, durch die vor mehr als neunzehnhundert Jahren deutsches Wort und deutsches Wesen vor dem 529 Untergang bewahrt wurden. Paderborn wählten wir zum festen Standort, die edle mittelalterliche Stadt mit den mächtig gegliederten Steinbauten und den heiteren gründurchwirkten Straßenzügen, die auf den ersten Blick zum Bleiben einlud. Es ging mir von je mit den Städten wie mit den Menschen; da gab es solche, die mich sogleich magisch festhielten und andere, wenn auch noch so berühmte, die mir nichts zu sagen hatten und für immer fremd blieben. Paderborn war von der ersteren Art. Dazu kam, daß mich der westfälische Volksstamm in der Stadt wie später draußen auf dem Lande besonders ansprach, diese seltsamen Menschen, die stillen und starken, die auf die Anrede des Reisenden zuerst eine Weile schweigen, den Frager aus festen blauen Augen unbeweglich anschauen, bis ganz langsam eine Antwort zustande kommt, die die Lage nicht einmal immer restlos klärt. Aber es geschieht mit so anstandsvoller Haltung und so gutem Willen, daß man ihnen gut sein muß. Möglich, daß bei meiner schnell gefaßten Zuneigung der von meiner westfälischen Ururahne aus der mütterlichen Stammreihe meines Vaters ererbte Blutstropfen mitsprach. Und ist es nicht etwas Schönes um die Vielfalt der deutschen Stämme, wo neben den bayerischen Draufgängern und schwäbischen Sturmfahnenträgern auch diese Eichengattung wächst, die geschaffen scheint, wie ein Wall unbeweglich in Gefahren zu stehen?

Wir standen am ersten Abend in der Dämmerung noch lange unter dem in seinen Verhältnissen eben noch kenntlichen Paderborner Dom, vor dem zwei uralte Kastanien zusammen scheinbar einen einzigen Baum bildeten, hörten dem Rauschen der Paderquellen zu, die wir nicht sehen konnten, und 530 freuten uns an dem Humor der drei steinernen Häslein in dem Rundfenster, die ein jedes seine rechtmäßigen zwei Ohren und doch alle zusammen deren nur drei besitzen. Eine Dame führte uns freundlich über eine Steintreppe zu den Quellen der Pader hinab, die unterhalb des Doms in Stein gefaßt herausspringen und jede gleich ein eigenes Bette füllen. Aus der ersten, erklärte sie, werde das wundertätige Augenwasser geschöpft, weil die Reliquien des heiligen Meinrad darunterlägen – es hilft, sagte unsere Führerin. Unterhalb eines winkligen Gäßchens vereinigten sich die beiden Quellen unter starkem Gebrause und trieben gleich Mühlenwerke, die man im Dunklen stampfen hörte; dieses ländliche Geräusch inmitten so gebietender Monumentalität hatte etwas Heimeliges, das die schöne Stadt gleich noch liebenswerter machte. Wir sangen ihr im Weitergehen ein feuriges Loblied, aber wiedersehen wollte ich sie später nicht mehr, weil ja dieses Idyll gewiß schon längst verschwunden war. Dem Flusse folgend gerieten wir unerwartet hinaus aufs flache Land, kamen an einer Bleiche vorüber und zu einem Tor wieder herein, um unseren Gasthof aufzusuchen, wobei wir unterwegs das schöne, im Halbschatten liegende Michaeliskloster bewunderten. Ein zweites Juwel von Paderborn, die Jesuitenkirche von edelstem Barock, stellte sich andern Tags uns von selber vor, als wir auf dem Weg nach Lippspringe in der Tram vorbeifuhren. Den Ursprung eines Flusses zu besuchen konnte ich mir nicht entgehen lassen, allzu verehrungswürdig ist »Reinentsprungenes«, bevor Menschenhände sich darin gewaschen haben und es durch Menschenlande geflossen ist. Wir gingen also auch der kleinen Lippe unsere Huldigung darbringen, wo sie in 531 einem von Schwänen bewohnten Parkweiher ans Licht springt, mit ihrem tiefen Blau an den schöneren und geheimnisvolleren Blautopf bei Blaubeuren erinnernd, um den Mörikes Gebilde wie Libellen spielen. Als die Geländewellen sich höher hoben, kam bald das Teutoburger Waldgebirge in Sicht; eine Herde schwarzweiß gefleckter kleiner Kühe lag geruhsam kauend am Boden, im Einklang mit der Geruhsamkeit der menschlichen Mitbewohner des Landes. Dann noch eine kurze Strecke, und das Hauptziel meines brennenden Wunsches ist erreicht: die Externsteine!

Ich hatte viel über diese rätselhaften Felsgebilde gelesen, in denen die Altertumsforschung schon damals das große germanische Nationalheiligtum vermutete. Ja, sie waren es vor allem gewesen, was mich in diese Richtung gezogen und durch mich auch den immer willigen Kyrios für die Wallfahrt begeistert hatte.

Vollkommen senkrecht, ohne Übergang, fünf nebeneinanderstehende unverbundene Naturtürme mit rissiger Oberfläche steigen sie aus der Tiefe des Flachlands mitten in Feld- und Waldeinsamkeit auf, nur an einer Stelle soviel Zwischenraum lassend, daß die Straße sich hindurchwinden kann. In den gewaltigsten und ausgeprägtesten dieser Felsentürme ist eine Treppe eingehauen, und oben in großer Höhe mit weitem Rundblick verbindet ihn eine Brücke mit dem zunächst stehenden Kameraden. In dem mächtigen, zu seinen Füßen liegenden Steinbrocken sieht die Forschung heute das durch Karl den Großen zertrümmerte Felsenhaupt, in dem sich die Irmensul befunden haben soll. Mit ihm zugleich sind auch alle Erinnerungen an seine einstige Bestimmung zernichtet, aber 532 schon die Tatsache dieser gründlichen Zerstörung selber deutet darauf hin, daß hier ein Allerheiligstes, ein Mittelpunkt des alten Glaubens verehrt worden sei. An den wenigen in die Wände geritzten Zeichen, soweit sie in der Verwitterung kenntlich sind, und anderen undeutbaren Spuren rätselt das Auge des Turmbesteigers vergebens; wie gerne besäße man den Schlüssel dazu. Für das größte Nationalheiligtum eines ganz nach innen gerichteten Volkes, das nicht in großen Städten sondern in kleinen Siedlungen und Einzelgehöften beisammen saß, das seine Götter nicht in Tempeln von Stein sondern in Naturgebilden anbetete, war freilich keine weihevollere Stimmung denkbar als die von diesen fünf ungefügen verwitterten Urzeitriesen ausgehende. Es war eine bezaubernde Vorstellung, hier dem Sitze unserer alten Götter nahe zu sein; man konnte meinen, in den wehenden Kornfeldern und in dem leicht bewegten Eichenlaub ihre segnende Gegenwart zu spüren. Ihren Anspruch an diese Stätte kann ihnen auch das überraschende frühchristliche Relief beim Eingang einer geheimnisvollen Grotte nicht nehmen, eher bestätigt es die älteren Rechte, indem es ihnen durch das stärkste seelische Mittel entgegenwirkt: die Gottesmutter, die bei der Kreuzabnahme mithilft, indem sie ihre Stirn als Stütze gegen das herabsinkende Haupt des Sohnes stemmt, ein erschütterndes Motiv, das mir sonst nirgends in der Kunst begegnet ist. Von einigen wird auch der Felsenturm der Veleda in den Externsteinen gesucht, was das Zerstörungswerk noch besser erklären würde.

Wen sollte an dieser Stelle nicht die Erkenntnis schmerzen, wie viel schwerer als jedem anderen Volke dem deutschen der 533 Entwicklungsweg gemacht wurde, wie schwer es ihn sich selber gemacht hat. Es haben ja nicht fremde Eroberer seine Kultstätten geschändet, sondern der große deutsche Kaiser selber war es, der im Namen eines neuen Gottes alle sichtbaren Zeugnisse vom Geiste unserer Ahnen vertilgte. Und doch war dem neuen Gotte auf römischem Boden solches niemals eingefallen; er lebte friedlich neben den Resten der Antike. Und wäre es nur um die sichtbaren Zeugnisse gegangen. Aber im Sohn mußte der fromme Wahnsinn weiterwüten, daß er auch die Schöpfungen der Sprache, die Lieder und Runensprüche, die Götter- und Heldensagen und alle Überlieferung mit den Wurzeln ausrottete, ein Volk zurücklassend, das ganz ohne Vergangenheit im Leeren hing. Wie reich wären wir noch immer, wenn wir nur die Lieder der Vorzeit hätten mit dem Heiligtum eines Sprachguts, dessen Lautfülle und Ausdruckskraft, so wenig uns davon geblieben ist, keine heutige Sprache mehr erreichen kann. – Diese Lieder, waren sie mehr als ein kindliches Stammeln? Wohl schwerlich. Aber das Gestammel der Frühen ist höchste Poesie und zugleich schönste, wahrste Form der Geschichte. Wir wollen unserem römischen Gegner danken, daß er in seiner hohen Sachlichkeit für unseren Wert gezeugt hat und uns wenigstens einen Bruchteil unserer Vergangenheit gerettet. Und hat sich nicht je und je dieser Vorgang in der Geschichte wiederholt, daß wir – immer im Namen eines höchsten Gutes – unsere Überlieferungen zerschlugen und wieder von vorne begannen, stets aufs neue mit leeren Händen vor dem Reichtum der Nachbarn stehend. Was wissen wir von den Schätzen, die in unseren Religionskriegen zugrunde gingen? Und begann nicht jede neue 534 Bewegung mit einem Erdbeben, das teils Bestehendes verschüttete, teils Verschüttetes hob. Auch Italien haben endlose Kriege und Umwälzungen durch und durch geackert, aber seine Kulturüberlieferungen reichen wohlbehütet und ununterbrochen von den frühsten Zeiten bis zu den unsrigen; seine vollen geistigen Scheunen zu verbrennen, fiel diesem Volke und seinen Mächtigen niemals ein.

Eine Überraschung war die Landschaft. Wer hätte nicht mit dem Namen der Teutoburger Schlacht die Vorstellung von düsterem und undurchdringlichem Urwald, saugenden Morästen, drosselnden Engpässen verbunden? Was da vor uns lag im Sonnenschein des zartblauen Junihimmels war ein lächelndes, hügeliges Waldgelände mit Laub- und Nadelholz in anmutiger Abwechslung, das sich sanftgeschwungen ins Tiefland herabsenkte, zuletzt in lichte Baumgruppen aufgelöst, vereinzelte Höfe dazwischen. Ja, der Teutoburger Wald lächelte! Das war das letzte, was ich von ihm erwartete. Er war so gewinnend, daß ich um seinetwillen meinem heimischen Schwarzwald untreu wurde. So mußte der deutsche Wald beschaffen sein: hochstämmig, durchsichtig! Kein dichtes unzugängliches Schattenreich, keine von den Tränen des Himmels überrieselten, bärtigen Felsenwangen über eng zugeschnittenen Tälern. – Und die deutsche Eiche! Hatte ich denn je zuvor die deutsche Eiche gesehen? In meiner schwäbischen Heimat war, wo sie frei stand, ihr Wuchs kuppelförmig, die Äste setzten niedriger an und reichten tief herab, man konnte an eine gute nahrhafte Hausmutter denken, bei der eine ganze Familie ihr Obdach hat. Diese hier, die um das Heiligtum aufgerückt waren wie starke Wächter, stiegen hoch und steil 535 hinauf und breiteten erst oben einen kühngeformten Wipfel, männlich und kriegerisch; das war die Eiche von Cheruska, wie sie sein mußte! Daß der Teutoburger Wald zu jener Zeit ganz augenscheinlich kein Ziel für das gewöhnliche Reisepublikum war – wir begegneten auf allen unseren Wanderungen nur schweigsamen Eingeborenen und Ausflüglern aus den Nachbarorten –, das vertiefte die Weihe, die auf der ganzen Gegend lag. Ich hatte kurz vor unserem Auszug August Schierenbergs »Römer in Cheruskaland« und seine »Kriege der Römer zwischen Rhein, Weser und Elbe« gelesen. Diesem gründlichsten Heimatforscher und Heimatkenner, der sich und sein Vermögen den Untersuchungen über die Örtlichkeiten der Varusschlacht geopfert hat und dafür von der zünftigen Wissenschaft als Autodidakt teils verlacht, teils totgeschwiegen und gänzlich zur Verzweiflung gebracht wurde, diesem echten Begeisterten wollte ich vertrauen und auf dem umstrittenen Boden seinen Spuren folgen. Freund Mohl, der seinen Tacitus gut im Kopf hatte, ließ sich von meiner Bezauberung mitbezaubern und war aus vollem Herzen bei der Sache. Wir konnten uns nicht vorstellen, daß von einem so ungeheuren Ereignis jede Erinnerungsspur verschwunden sein sollte, und der unglückliche Gewährsmann hatte ja auch mehrfach Orts- und Flurnamen mit Anklängen an den Untergang der Legionen nachgewiesen. Und wenn gar nichts zu finden war, so wollten wir doch die Luft atmen und die Scholle treten, wo Deutschlands Zukunft für die Jahrtausende voraus entschieden wurde. – Als wir bei einer späteren Gelegenheit in dem Städtchen Horn, Schierenbergs Geburtsstadt, Mittagsrast hielten, leerten wir ein Glas Wein auf das Andenken des 536 unglücklichen Mannes, und heute gereicht es mir zur aufrichtigen Genugtuung, daß unterdessen Wilhelm Teudt in seinen »Germanischen Heiligtümern« die erzürnten Manen gesühnt und dem verunglimpften Forscher seine Ehre gegeben hat.

Der erste Besuch galt dem Winfeld oder Winnenfeld, dessen Name sich auf den gewonnenen Sieg beziehen sollte. Ob das stimmte oder nicht, mochte Gott wissen, aber ich wollte es nun einmal glauben. Im Tal von Berlebeck hätten nach dieser Auffassung die zermürbten Legionen ihr drittes Nachtlager gehalten, schlaflos umtobt von dem Wut- und Siegesgebrüll der entfesselten Germanenstämme, bevor sie ihren Weg in das unentrinnbare Verderben fortsetzten. Wie selig im reifenden Erntegold lag jetzt die Landschaft, wo damals neben den Knüppeldämmen das Moor aufgähnte und wo die heimlich durchschnittenen Wipfel der Urwaldbäume, einer den andern nachreißend, auf die marschierenden Kolonnen niederkrachten. – An den freundlich gefaßten Quellen der Berlebeke, die zur Zeit noch im Freien nebeneinander aus dem grünen Berghang geschossen kamen – wer sah es ihnen an, daß sie einmal blutrot flossen? –, stiegen wir hinauf zum schönsten Hochwald, den tausend Vogelstimmen durchtönten; – eigentlich hört ja jetzt nur noch das baumlose fürstliche Wildgehege voll von Hirschen und Sauen auf den alten Namen Winfeld, der früher der ganzen Bodenwelle eigen gewesen sein muß. Nahe beisammen, doch sich nicht beengend, mit lichter Durchsicht, aber oben zum Dom geschlossen, standen die wundervollsten Buchensäulen. Es war später Nachmittag, aber die Tage waren lang, und zwischen dem grünen Gezweige begab sich ein unbeschreibliches Spiel der Sonnenstrahlen, irgendeine 537 geheimnisvolle Erwartung, ein Gefühl wie von unsichtbarer göttlicher Nähe weckend. Zu denken, daß hier, vielleicht gerade hier auf diesem jetzt so zauberschönen Boden der Würfel fiel, ob wir Deutsche bleiben sollten oder ob wir wie die bezwungenen Gallier nicht nur unsere Freiheit, sondern auch unsere Sprache und mit ihr unsere Seele an den Eroberer hin verlieren und uns am Ende selber für Römer halten sollten wie jene. Dann hätten wir kein deutsches Märchen und kein Volkslied gehabt, Walthers Vogelkehle hätte nie gesungen, Luther nicht geschrieben, es gäbe keinen Faust. Die Andacht zu dieser Sprache, zu ihrer unausschöpfbaren Tiefe und Schönheit drang mir nie stärker ins Bewußtsein als damals auf dem mutmaßlichen Schauplatz ihrer höchsten Gefahr und hart vor einer noch verhüllten neuen Schicksalsprobe. Ich befand mich in einem seltsam erhöhten und zugleich traumhaften Zustand, als hätte mich etwas vom Geiste der Veleda angeweht. Zuweilen steigerte sich das Hochgefühl zu einem leichten Rausch, von dem ich heute nichts mehr wüßte, wenn mir nicht in den Gedichten, die aus der Verzauberung flossen, ihr Niederschlag vor Augen läge:

O dieser Vogelsang in Buchenhallen
Von Teutoburg! Die hohe Sonne säumt
Vor lautrer Lust und ihre Blicke fallen
So wissend nieder – Werd ich's je verstehen,
Warum mich der Gedanke so entzückte,
Daß über diesen alten Ruhmesfeldern
Der Friede wob? O weile, sprach ich, Holder!
Mir schien's mit Augen seinen Glanz zu schauen. 538
Ich sprach: O Friede, wie du selig wandelst,
Du Weltvergolder, bleib in unseren Gauen.
Ahnt' ich es denn, daß er mich scheidend grüße
Mit seiner letzten Süße?

Der Freund, der mich lebenslang am besten verstanden hatte, wußte jenes Tages nicht mehr, was er von mir denken sollte, als er mich die Buchenstämme des Teutoburger Waldes umarmen sah und immerzu den Frieden anrufen hörte, den er doch nirgends gefährdet wußte. Den Frieden wie die Gesundheit preist man ja nur, wenn man sie nicht mehr hat. Ich glaube, es war die gerettete Sprache selbst, die jenes Tages in mir singen und jubilieren mußte.

Und jetzt wollte ich den Befreier suchen, ihm danken für das ungeheure Geschenk, das er auch mir, der späten Enkelin, hinterlassen hatte. Solche Schwärmerei war zu jener Zeit äußerst unmodern, ja man lief Gefahr, sich damit ein wenig lächerlich zu machen. Aber wir hatten zwei Jahre zuvor auf der attischen Ebene den Kämpfern von Marathon unser Dankopfer für die Rettung von Hellas dargebracht; sollten wir nicht auch im Teutoburger Wald unseren eigenen Rettern dasselbe tun? Es geschah mir damals wie des öftern in meinem Leben, daß lang vergangene Dinge und Menschen mit einer Gegenwärtigkeit vor mich traten, die an Besessenheit grenzte. In jenen Tagen war ich von dem Befreier besessen. Ich meinte, jedes Kind müßte einen Reim von ihm singen, jeder Vorübergehende von ihm sprechen. Damit war es natürlich nichts. Zu tief sind die Überlieferungen in den tausendmal umgeackerten Grund verschüttet. Und als wir andern Tages auf dem Weg 539 zum Hermannsdenkmal oberhalb Altenbeken eine Anzahl waldiger Erhebungen liegen sahen, konnte keiner der mitfahrenden Cherusker uns auch nur sagen, welche die mit dem Namen Varusberg bezeichnete sei. Dann erstiegen wir durch Wiesen und Waldung den Kleinen Hünenring, einen hohen rundumlaufenden Rasenwall mit Rampe und einer abgeflachten baumlosen Kule im Innern. Dieser, der mit dem höher gelegenen Großen Hünenring ein System altgermanischer Befestigungen bildet, das zusammen im Volksmund die Grotenburg genannt wird, hat jetzt die Ehre für die eigentliche Teutoburg zu gelten, den Waffenplatz des Arminius, wo er die heimlich gesammelten Volksmassen verborgen hielt, um mit ihnen das Sommerlager des Varus zu überfallen. Aber oben auf dem Gipfel der Grotenburg, wo die gelichtete, eingeebnete Kuppe das Denkmal trug, welche Enttäuschung! Der ungefüge Hurrahkoloß auf den schwächlichen Beinen. Das die Darstellung des Löwenkühnen, des Schlangenwendigen, der als Zögling der römischen Kriegskunst ihnen das Lehrgeld zahlte, indem er mit ordnendem Geist seine unhandlichen, schlecht bewaffneten Völkermassen gegen die Unbesiegbaren führte und den Welteroberern in der dreitägigen Riesentragödie den Väterboden entriß? Daß doch so selten die große Kunst und der große Gegenstand sich begegnen. Ich mußte die Augen abwenden und schleunigst das Weite suchen.

Nein, um Römer zu schlagen, da brauchte es mehr als nur die Faust, es brauchte Führersinn und Feldherrnblick. Der junge Landesfürst und römische Ritter, der sich lächelnd und sorglos im Römerlager bewegte, den eitlen Varus mit Tigertritten umgehend, bis er plötzlich in tödlicher Verwandlung vor ihm 540 stand und Roms räuberische Adler in den Boden trat, der war eine völlig andere Gestalt. »Nur ein glücklicher Bandenführer, nicht mehr, aber auch nicht weniger«, urteilt Mommsen von ihm. Der römische Todfeind hat ihn höher eingeschätzt: liberator haud dubie Germaniae. Und welch ein bitteres Heldenlos war das seine. Der Verlust von Frau und Kind sein Lohn für die Rettung der Heimat, und für den Versuch, aus den zersplitterten Stämmen ein Volk zu machen, der Tod durch Verwandtenmord! Der Name, womit ihn seine Landsleute riefen, ewiger Vergessenheit überliefert, daß wir uns mit seinem römischen behelfen müssen, der immer noch besser ist als der falsch erfundene »Hermann«. Aber ansprechend ist die Vermutung Schierenbergs, daß die in Rom zur Schau gestellte Cheruskerin gar nicht die echte Thusnelde gewesen sei, weil selbst ein Landesverräter wie Segest niemals die Verworfenheit so weit treiben konnte, seine eigene Tochter mit seinem ungeborenen Enkel im Schoß aus Liebedienerei dem Feinde auszuliefern und in Rom von einem Ehrensitze aus ihrem Einzug in Ketten zuzuschauen.

 

Einen Ort gab es noch, dessen geheimnisvoller Name etwas Besonderes zu wissen schien. Es war ein kleiner Berg – was man so im Osning, wo alle Erhebungen niedrig sind, einen Berg nennt – und er hieß Velmars Tood. Der Weg dahin führte von den Externsteinen, wo wir diesmal in einer kleinen, an den Fels gelehnten Gaststätte Mittag machten, unter Eichengrün weit am Rande des Silberbaches hinauf, und erstieg einen prachtvollen hochstämmigen Tannenwald ohne Schwüle und Insektenplage, ein köstliches Labsal in der 541 heißen Stunde. In dem Wirtsgärtlein der Silbermühle, wo der Silberbach sich zu einem kleinen See staute, fragte Mohl einen Einheimischen, ob der Name Velmars Tood auf einen geschichtlichen Vorgang bezogen werde. Jawohl, war die Antwort: Feldmarschalls Tod. Wir sahen ihn an, ob er seinen Scherz mit uns treibe, aber so ein Cherusker scherzt niemals. Augenscheinlich hatte irgendein Scheffel-froher Wanderer ihm diesen Bären aufgebunden. Übrigens fiel uns auf, daß die Einheimischen die Velmars Tood sprechen. – Wir ließen die gewagte Schierenbergsche Hypothese, daß Armin und Siegfried eine Person seien und daß Velmars Tood den des großen Wälsungen oder Falen bedeute, auf sich beruhen und überschauten von der erstiegenen baumlosen Gipfelfläche, die dem Fuß durch weichen weißen Meersand schmeichelte, beglückt den weiten Umkreis der feingestimmten, edel gegliederten Landschaft, bevor wir nach Feldrom abstiegen, dessen Name, der aus den ältesten Zeiten beglaubigt ist, irgendein, wenn auch noch so bescheidenes Erinnerungsmal zu versprechen schien. Wir fanden aber nur ein langgezogenes Dorf, das eine unsichtbare Grenzlinie in zwei Hälften, eine lippische und eine preußische, schied. Auf unsere Frage nach etwaigen Ausgrabungen, wies man uns in ein Bauernhaus, wo wir mit der jungen wohlgetanen Bäuerin in großer Helgoländer Haube um einen Jungen als Führer verhandelten. Diese blonde Frau war ein Urbild ihrer Rasse, schweigsam, langsam im Begreifen und Reden, fast teilnahmslos, aber plötzlich fuhr sie mit ausbrechendem Jähzorn unter ihre Kinder, ihre blauen Cheruskeraugen schossen Blitze, gleich darauf stand sie wieder unbeweglich, die Blicke auf ihren schwangeren Leib gesenkt; 542 es war unmöglich, nicht an Thusnelda zu denken, so wie man sie sich vorstellt. Als Ausgrabung wurde uns der sogenannte Mönkeborn gewiesen, wo man eine Anzahl schichtweise begrabener Menschen- und Pferdeknochen entdeckt hatte – über jeder Schicht eine Lage blauer Tonerde; der schauerliche Fund wurde nicht auf Kriegsereignisse sondern auf eine ehemalige Räuberhöhle bezogen, wozu aber die getöteten Pferde nicht stimmten. Der lichte Sommertag schien endlos, es war freilich auch der längste des Jahres, wir ließen uns noch von seinem strahlenden Lächeln durch hohes Wiesengras mit merkwürdig leuchtenden Blumen, die ihre Köpfe strecken mußten, über einen steilen Wiesenhang nach der Bielsteinhöhle locken, einem tiefen natürlichen Schacht in den nur mit Leiter und Licht und auch so nicht ohne Schwierigkeit eingestiegen werden konnte. Auf was für einen Fund ich noch hoffte, wüßte ich nicht zu sagen, es war bloß der unerfüllte Wunsch, der mich nicht scheiden lassen wollte. Alle unsere alten Götter waren an jenem zauberschönen Sonnwendtage unterwegs und segneten die Fluren; sie hielten mir die Ermüdung des nicht endenden Marsches über Knüppeldämme, durch Wiesengründe, wundervolle Eichen- und Tannenwälder fern, bis die späte Sonne von tief unten herauf ihren letzten Goldblick durch die Zweige schickte, bis der Weg sich senkte und endlich die äußersten Häuser des unerreichbar scheinenden Kohlstett erreicht waren. Von dort führte die Straßenbahn uns in der Dämmerung noch einmal an unseren alten Externsteinen vorüber nach unserem ständigen Nachtquartier. Wem ich wohl will, dem wünsche ich solch eine Nacht mit silbernem Mondschein überm Teutoburger Walde. Ein Häslein saß geruhig mitten 543 auf den Schienen, es hatte noch Zeit, in den Wald zu entspringen. Friede, seliger Friede! – –

Jetzt blieb uns noch ein berühmtes geschichtliches Wahrzeichen zu besuchen übrig, der Bullerborn. Oberhalb Altenbeken, wenige Schritte vom Weg, entspringt er murmelnd aus einem höher liegenden Tannengrund, verschwindet und kommt aufs neue zum Vorschein. Von ihm ist überliefert, daß Karl der Große ihn einstmals bei quälender Wassernot aus dem Felsen gebetet habe, um sein verdürstetes Heervolk zu erquicken. Mit dem Wunder dürfte es seine Richtigkeit haben. Der Bullerborn war im Mittelalter ein aussetzender Quell, der je und je zu bestimmter Zeit versiegte und dann nach berechenbarer Pause unter mächtigem Kollern und Bullern wieder hervorbrach. Ein Landeskundiger mochte leicht den Kaiser bei Ausnützung des Phänomens beraten haben. Und wenn das Gebet vor dem Heer geschickt zwischen zwei Ausbrüche fiel, mußte wohl die Wirkung auf die ermatteten Mannen ungeheuer sein. Später wurde der Bullerborn durch ein Erdbeben verschüttet, und als er wieder zutage trat, hatte er seine unterirdischen Hindernisse weggeräumt, denn er bullert seitdem nicht mehr und fließt gleichmäßig und dauernd.

 

Ein Tag wurde noch zugegeben, um von den Externsteinen, die mich immer aufs neue magisch anzogen, und ihren hochwüchsigen Hütern festlichen Abschied zu nehmen. Während der Freund nach eingenommener Mahlzeit sich einer kurzen Mittagsrast überließ, füllten wiederum die unsichtbar Gegenwärtigen den ganzen Raum, der ihnen gehörte. Und weil denn kein lebender Mund und kein steinernes Runenzeichen 544 mir von dem Befreier hatte sprechen wollen, stellte ich mich mit meiner Frage unter die höchste der Eichen, daß sie als älteste Landesbewohnerin mich ihres Wissens um den Großen, Namenlosen teilhaft mache:

Eiche, sprach ich, Eiche von Cheruska,
Lange stehst du, viel hast du gesehen,
Was du selbst nicht sahst, dir sang's als jungem
Reis die Ahne zu, die hier gestanden.
Sieh, mich trieb Verlangen unbezwinglich
Her, von deines Landes Heldensohne
Einmal ein lebendiges Wort zu hören.
Ihn, den Rächer mein' ich, den Erretter,
Den wir nur vom Lob des Feindes kennen,
Weil die Lieder seines Volks verstummt sind,
Der so herrlich strahlt in Feindesmunde,
Wie er spielend im verschlossenen Busen
Trug den Blitz der Tat, die uns befreite.
Alle die Wälder hab ich nun durchwandert
Wo des Varus Legionen schlafen,
Ob ein Sang noch sein gedenkt, ein Schatten
Seines Wesens geht auf roter Erde,
Ob vielleicht in einem Kinderreime,
Ob in eines Orts entstelltem Namen
Noch ein Nachhall unbewußt ihn nenne.
Auf dem Winfeld friedlich ästen Hirsche,
Glashell rann zu Tal die Berlebeke,
In Feldrom da weideten fette Herden,
Von Arminius ward mir keine Kunde. 545
Eiche, sieh, zu deinem Stamme tret ich,
Drein Cheruskas Heldenkraft gebannt ist.
Auch in meinen Adern rinnt ein Tropfe
Sachsenblut und diesen Boden lieb ich
Ehrfurchtsvoll wie den, der mich geboren.
Kurz ist das Gedächtnis ja der Menschen
Und sie ehren nur, was ihren Augen
Nah, doch du und ich wir pflichten nicht der
Zeit und weiter gehen unsere Blicke.
Was sind tausend Jahre und abertausend
Vor dem Zoll des Dankes, den wir ihm schulden,
Vor der Treue, die wir ihm bewahren.
Ja, mich kränkt's, daß ich zu spät geboren,
Seines Auges blauen Blitz zu sehen,
Den der Römer schaudernd sah – und rühmte.
Eiche, sprich mir von Armin, dem Helden.

Was mir ihr Laubgesäusel zur Antwort gab, war so dunkel, daß ich es erst Wochen später verstand, als Deutschland wie ein einziger Arminius aufstand, um mit dem halben Erdkreis um unsere Erhaltung zu ringen.

 

War es die Neuheit der im deutschen Norden gesehenen Dinge oder war es der Gegensatz zu dem darauffolgenden furchtbaren Weltgeschehen, der mir alle jene Reisetage so unvergeßlich glanzvoll gemacht hat? Einer der schönsten war der Tag in dem köstlichen Worpswede, das nicht umsonst das Paradies der Maler hieß. Wie eine Oase lag es inmitten der sonst völlig öden, morastigen Niederung mit dem unsagbar 546 zarten Farbenschmelz seiner Landschaft, dem stolzen Baumwuchs, der reizenden Pflasterung der Dorfstraßen – einer Mosaik aus bläulichen, roten und gelben Steinen –, mit dem leuchtenden grün und roten Anstrich der großen Gehöfte, den der blassere Himmel gerne litt. Um die geschnitzten Pferdehäupter auf den Firsten spann germanische Vorwelt. Diese niedersächsischen Bauernhöfe mit ihren überraschenden Ausmaßen, edel von Eichenhainen umgeben, machten mir einen starken Eindruck, da ich bisher nur die winzig aufgeteilten Bauerngütlein meiner schwäbischen Heimat gekannt hatte und die von ländlichen Colonen auf halb und halb bewirtschafteten toskanischen Herrschaftsgüter, woran die arbeitende Hand kein Eigentumsrecht hat. In Höfen wie diesen mochten voreinst auch die Edelinge und Stammeshäupter des Volkes gesessen haben. In den schönsten von allen traten wir ein und wurden von dem Besitzer, einem ernsten hochgewachsenen Manne, mit nahezu königlichem Anstand empfangen, aus dem der höfliche Stolz uralten Besitzes sprach. Er führte uns durch eine lange Diele, wo in Ständen rechts und links das trefflich gehaltene Vieh zur Seite stand und wo in früheren Zeiten der Rauch vom Vorplatz durchzog. Der Vorplatz prangte mit prächtigen geschnitzten Schränken, alten Uhren, Geschirr und Gläsern und aufgehängten Kränzen dazwischen, vieles vom Besitzer und seinem Vater gesammelt, das meiste von je im Hause. Der Garten mit seinen herrlichen Bäumen, seinen Blumen und einem Sumpfweiher voll Wasserlilien war mehr ein Park zu nennen. Wir mußten auch unsere Namen in ein Buch eintragen, und beim Abschied überreichte er mir eine Photographie seines Vorraums mit den fast 547 feierlichen Worten: Das mögen Sie haben; ich bewahre sie noch heute auf. Er riet uns auch einen seiner kleineren Höfe zu besuchen, wo die Einrichtung noch altertümlicher sei. Dort fanden wir die Diele ähnlich gebaut, nur kleiner, im Hintergrund eine schön mit Kacheln eingelegte Wand und auf niedrig aufgemauerter Feuerstelle einen großen, an Eisenketten hängenden Kessel, dessen gleichen ich öfters in Oberitalien und in den Dolomiten schon gesehen hatte. Würste und Schinken, letztere in weißes Zeug verhüllt, hingen zum Räuchern herum, und die Decke um die Feuerstelle her war blinkend schwarz von Glanzruß (Die Frauen trügen, sagte man mir, des Rauches wegen meist schwarze Kleider.) Der Mann, der uns führte, sah todestraurig aus, und als er uns mitteilte, daß er jetzt allein lebe, weil die Kinder fort seien und die Frau tot, kämpften seine harten Gesichts- und Halsmuskeln mit dem unterdrückten Weinen. Wir gingen schleunig, denn solch ein einsamer, hart gewordener Schmerz leidet keinen Zuspruch. Bodenverwachsener noch als anderwärts, aber auch schicksalgebundener erschien mir hier das bäuerliche Leben. Und hatte mich zuvor als Städterin ohne eigene Scholle deutschen Bodens dem reichen Erbbauern gegenüber fast ein Gefühl von Beschämung beschleichen wollen, so sagte ich mir jetzt vor der tiefen Hilflosigkeit der Ungeistigen, daß wir mit den frühe überkommenen Schätzen der deutschen Geisteswelt doch den besseren Teil des Vätererbes erlost hatten. – Bevor wir schieden, erstiegen wir noch den Stolz von Worpswede, den schön mit Eichen und Fichten bewachsenen »Berg«, der mitten aus der tellerflachen Landschaft aufragt, aber freilich nur etliche Meter hoch ist. Ungemein freundlich mutete mich auch die 548 im Freien in einem Holzgestühl aufgehängte Dorfglocke an und weckte die dämmernde Erinnerung an jene irgendwo gehörte Mär von dem in Not geratenen Grautier – oder war's ein Pferd? –, das an der aufgehängten Dorfglocke Hilfe herbeiläutete.

Auffallend war mir, im deutschen Norden die gesamte Lebenshaltung, auch bei gesichertem Wohlstand, unendlich karger zu finden als in dem sinnenfrohen Süden; auch die Küche, wenigstens in den kleineren Gaststätten und auf dem Lande viel dürftiger bestellt und häufig unter Verwendung von minderwertigem Fett, so daß ich mir gleich den Magen verdarb und trotz der Reisestrapazen manchen Tag bei strengem Fasten verbrachte, ja selbst auf der unruhigen Überfahrt nach Sylt nichts genossen hatte als einen recht fragwürdigen Morgenkaffee. Aber ich ließ mich durch nichts Persönliches anfechten, benommen wie ich war von dem Wunder Deutschland, das zu seinem farbenreichen Süden einen solchen großartig herben Norden hinzubesaß, und daß beide ungleiche Hälften zusammenpaßten wie die einer Eierschale, weil keine einem anderen als dem deutschen Volk angehören konnte.

Im Hamburger Hafen hatte ich eine Stunde tiefer Genugtuung. Ja, wir waren ein großes Volk. In langen Wasserstraßen lagen sie da Bord an Bord, die Nachkommen unserer alten Hansa, riesige Überseedampfer, und sie fanden draußen eigene Häfen wie die der andern großen Völker. Denn unterdessen war es zur Wahrheit geworden, was ich mir in jüngeren Jahren so brennend für mein Volk ersehnt hatte: auch wir besaßen überseeische Kolonien. Nicht als hätte ich mich viel um unsere Handelsbelange gesorgt, von denen ich nichts verstand; 549 es ging mir um Freizügigkeit und Weltweite, um die Lüftung unserer Lebenssphäre, um eine Schule der Tatkraft und Selbstverantwortung für unsere Jugend, die ich allzu staatlich gegängelt sah. Diesen Schiffen, die mir schon vom Hauch der Entdeckungen und der Abenteuer umwittert waren, gab ich den Dank an unsere stolze Nordsee und alle Segenssprüche für die Fernfahrt mit:

Weitoffnes Fenster nach dem Weltmeer, laß
Den Atem ein der ungemessenen Weite,
Die Dünste treibend aus der Deutschen Haus
Und alles was uns schwach und klein gemacht;
Wie Briten stolz doch menschlicher als sie
Fahr, deutsche Jugend, nach den fernsten Küsten.
Im Wagnis reife du, der Kaufmann suche
Gewinn und Abenteuer der Soldat.
Von eurem Erbteil ewiger Gedanken
Scheidet ihr Kühnen nie, mit leisem Tritt
Geht ungeseh'n auf den bewegten Planken
Die Muse Deutschlands mit.

Wurde diese Strophe eines langen Liebesliedes an Deutschland – meine ganze Reise war ein solches – auch erst zu Anfang des Weltkriegs niedergeschrieben, so war sie doch bei der beglückenden Schau im Hamburger Hafen unmittelbar empfangen.

 

Aber die Krone alles Erlebens war die Insel Sylt. Hier gingen die Worte aus. Von Europa war nichts übrig, nicht einmal die Vorstellung, alle Weite zusammengezogen in das 550 kleine Stück Festland, das wie ein aufgeschossener Pilz auf dem Wasser schwamm und in nichts den südlichen Inseln meiner alten Liebe glich. Ein seltsam enger Horizont friedet es völlig ein, und der Himmel wölbt sich darüber wie ein rundgespanntes blaues Gezelt oder eine lichte Glocke, die im Meere aufsteht. So hatte ich mir einst Thule gedacht als letzten fernsten Ausläufer des Geschaffenen. Lange Dünenzüge, kühn geformt wie Gebirge und mit harten Strandgräsern bewachsen, durchzogen das Innere, dahinter brandete die Nordsee, verebbte das Watt und nirgends etwas Festes, auch das rote Kliff, das Festeste, was es gab, aus Meersand geballt. Wie der Raum, so war auch die Zeit verschwunden, der nordische Tag schien gar nicht niederzugehen, um zehn Uhr abends konnte ich noch im Freien einen Brief lesen. In dem Brief stand, wann ich denn endlich nach Forte zu kommen gedächte, wo mein Haus, das Meer, die Freunde mich erwarteten. Aber Forte war mir jetzt so fern. Über meinem Haupt glänzte hoch und hell der Polarstern, der zu dieser Stunde nur matt und tiefgeneigt über meiner Terrasse am südlichen Meere stand. Herrlich, so alles Irdische abgeworfen zu haben und nur noch mit den Sternen zu denken. Das seltsame übergroße Glücksgefühl wurde so mächtig in mir, daß ich die ganze Nacht schlaflos lag und meinte, das Herz wolle mir vor eitel Freude zerspringen.

Wir mieteten uns für ein paar Tage in Westerland ein. Dort besuchten wir den »Friedhof der Heimatlosen«, denen Carmen Sylva einen gemeinsamen Spruch gestiftet hatte. Ich entzifferte jeden Namen auf den Steinen, manche waren unbekannt geblieben und man las nur den Tag, wo das Meer den Toten anspülte. Ein frommer Christ mag vor diesen 551 Gräbern ein stilles Gebet sprechen, ich tat was ich konnte, indem ich jedem der namenlosen Schläfer einen tröstlichen Gruß aus dem Lande der Lebendigen nachzusenden suchte. Ich habe Sylt nicht wiedergesehen, kann aber nicht ohne Schauer denken, zu welchem Umfang diese Ruhestätte der Gescheiterten im Weltkrieg angewachsen sein muß. Hoffentlich ist der ehrfurchtlos nahe herangebaute Tennisplatz bei der Erweiterung verschwunden. – Das Hünengrab inmitten des weiten blühenden Heidegrunds, eine hohe Rasenumwallung. in die wir mittels einer Leiter einstiegen, enthielt zwar keine Fundstücke, brachte mich aber in meine eddatrunkenen Kindertage zurück, da ich mit dem Bruder Edgar ein Eiland im Nordmeer zusammenfabelte, um das Drachenschiffe kämpften und Walküren flogen und wo wir unseren Herrschersitz aufschlagen wollten, wenn wir erst groß wären. Dieses Grab, allen Schmuckes beraubt und namenlos, hatte dennoch ein königliches Ansehen, daß ich es mir nur als das des gewaltigen Helge, des Hundingtöters, denken konnte, bei dem seine trauernde Walküre allabendlich des toten Helden Rückkehr aus Walhall abwartet, um ihn in ihren Armen wieder zu wärmen.

Ein Frösteln überläuft mich wie ich's denke.
Ist es der Schauer vor der Toten Nähe?
Sind's Abendlüfte, die mich kühler mahnen?
Ist es die Schönheit unserer Heldensage?
– O nein, ich weiß, mich traf ein jähes Ahnen
Von altem Leid, das neu geboren wird,
Von Heldensterben, das in Lüften irrt,
Und neuer Witwenklage.

552 Als wir in Hamburg den Fuß wieder an Land setzten, traf uns wie ein Blitzstrahl die Nachricht von der am selben Tage erfolgten Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares in Serajewo. 553

 


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