Isolde Kurz
Die Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen
Isolde Kurz

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Neuntes Kapitel

Die Villa mit dem Granatbaum

Unsre schöne Wohnung mitten im Grün der alten Festung von San Giovanni war mit Edgars wachsender Klientel immer enger geworden und konnte der Doppelaufgabe, dem Beruf und der Familie zu dienen, schon lange nicht mehr genügen. Aber es war schwer, eine geeignete größere Mietwohnung in guter Lage zu finden, besonders weil er unterdessen Pferd und Wagen angeschafft hatte und nun auch Stall, Schuppen und Kutscherzimmer nötig geworden waren. Ich meinerseits befand mich in noch größerer Raumbedrängnis: mein schönes Zimmer, für das ich den bescheidenen Mietbetrag in die Haushaltkasse legte, ließ sich von dem lärmenden Betrieb nicht freihalten und wurde immer weniger mein; kam dann gar noch ein auswärtiger Besuch, wie unsere Hedwig Wilhelmi aus GranadaEine Gestalt aus meinem »Jugendland«, die sich in der Erinnerung an die unbegrenzte Gastfreundschaft unseres Hauses in Tübingen nicht damit abfinden konnte, in Florenz ein Stockwerk höher in einer Pension zu schlafen, so blieb mir nichts übrig als zu 248 weichen. Ich mußte mein Zimmer abtreten und mich in der Nachbarschaft einmieten. Dabei hatte ich aber von dem vorübergehenden Alleinsein und der Stille in dem fremden unwirtlichen Raum keinen Gewinn, weil sich dorthin doch nur Fronarbeit mitnehmen ließ; zwischen die kahlen getünchten Wände, wo fast nur für das italienische Riesenbett und den Waschtisch Platz war, mochten die Musen nicht gerufen sein. Und wenn ich gelegentlich über solche kritischen Zeiten nach San Francesco oder in das Guerrierische Freundeshaus eingeladen wurde, so genoß ich wohl den Zauber einer feinen geistigen Geselligkeit, aber zur Vertiefung in ein stilles schöpferisches Tun war dabei erst recht nicht zu gelangen. Einmal hatte ich mich im Vorfrühling in einer schönen, oberhalb der Stadt gelegenen Villa eingemietet, wo ich eine Zeitlang ganz allein bei Krokus und Anemonen zu hausen gedachte. Da fiel ganz unerwartet Schnee, Schnee in Menge; sämtliche Räume des nach Norden blickenden Hauses waren nach guter alter Florentiner Sitte unheizbar, und als ich einige Tage eigensinnig am Schreibtisch gefroren hatte, bis mir die Finger erstarrten, trat ich einen enttäuschten Rückzug an. Da fand ich zu meiner Überraschung mein Zimmer und Bett von einer lieben Bekannten, einer feinen Holländerin, eingenommen, die mein Mitgast im Hause Guerrieri gewesen und der ich oft meine Not wegen meines Zimmers geklagt hatte. Sie war nervenleidend und hatte vor wenig Tagen bei einem Besuch im Sprechzimmer ihres Arztes einen Nervenzusammenbruch erlitten, weshalb meine Mutter sie gleich in mein Bett gelegt und seitdem da gepflegt hatte. Décidément, vous n'aurez jamais votre chambre, sagte sie mit melancholischem Lächeln, 249 als ich vor dem Schneegewirbel heimgeflüchtet kam. Ähnliche Vorfälle wiederholten sich in der Tat so oft, daß man sie für verhängt ansehen konnte, und ich war jedesmal beschämt, daß wir kein Gastzimmer anzubieten hatten. Es wurde mir weh zumute, als ich die Kranke, von dem Marchese selber abgeholt, durch zwei Männer auf einem Stuhl die Treppen hinuntertragen sah, ich hätte ihr so gern die Nähe ihres ärztlichen Helfers gegönnt, denn gewöhnlich meinten Edgars Patienten, und mehr noch die Patientinnen, schon von der Luft, worin er atmete, gehe das Heil aus.

Weil alles Suchen nach der passenden Wohnung vergeblich war, tauchte der Gedanke auf, ein eigenes Haus zu kaufen. Bevor der Entschluß aus der Raumnot reifte, ereignete sich noch ein wunderlicher Zwischenfall: nichts Geringeres als ein Zusammenstoß mit dem damaligen preußischen Thronerben, dem späteren Kaiser Wilhelm II.

Kamen da eines frühen Nachmittags, als Mama sich allein auf der den Zimmern vorgelagerten Diele befand, die in den praxisfreien Stunden auch der Familie zum Aufenthalt diente, zwei jüngere Herren angefahren und verlangten stürmisch nach dem Doktor. Mama hatte ihnen selbst geöffnet und sie in das kleine, freilich sehr kleine Wartezimmer zwischen den Doktorsräumen und meinem Zimmer geführt. Der scharfe preußische Akzent der Herren, der den Norddeutschen eigene stoßende Sprechrhythmus und die straffen, wie am Draht gezogenen Bewegungen erregten sofort den inneren Widerspruch ihres antipreußischen Herzens, und da einer der beiden ungeduldig hin und herlief, alle Türen aufriß, auch die meinige, die ich sogleich höflich wieder schloß, ging ihr dieses Gebaren 250 so auf die Nerven, daß sie den heimkehrenden Sohn mit der Nachricht empfing, es seien zwei unausstehliche Preußen da, die rücksichtslos durch alle Zimmer tobten. Der gleichfalls nervöse Edgar, der schon den ganzen Tag auf Krankenbesuch gewesen war und noch nichts zu sich genommen hatte, trat auf diese Mitteilung hin schon geladen in die geladene Atmosphäre des Warteraums. Dort wurde er gleich mit dem Vorwurf empfangen, daß man eine halbe Stunde auf sein Erscheinen gewartet habe. Er bemerkte wohl, daß einer der Herren ihm Zeichen zu machen und den anderen, ungeduldigen, zu beschwichtigen suchte, so daß er hinter diesem eine hochgestellte Persönlichkeit vermuten konnte; er entgegnete jedoch trocken, zum Warten sei das Wartezimmer da. Als ihm nun angekündigt wurde, daß der Wagen unten stehe, um ihn sofort zu einer kranken Dame ins Hotel mitzunehmen, antwortete der junge Arzt, der begriff, daß er es nicht mit einem schweren Fall, nur mit einem verwöhnten Kunden zu tun hatte, einen Wagen besitze er selbst, er habe aber zunächst seine Sprechstunde abzuhalten, danach mache er seine Krankenbesuche, und zwar nach der Reihe, immer die schweren Fälle zuerst. Sein Ärger über den hochfahrenden Ton des Fremden milderte sich aber, als er an dem Bette einer hübschen und liebenswürdigen jungen Frau stand, die wie viele Italienfahrer in dieser Jahreszeit an unvorsichtigem Obstgenuß erkrankt war, sich indessen schon in der Besserung befand. Der junge Ehemann wollte wissen, wann die Weiterreise nach Rom stattfinden könne, worauf der Arzt gelassen antwortete, sobald es gewünscht werde, wenn nötig, noch am selben Tag, aber besser am nachfolgenden. Es war seine Art, kleine Übel so obenhin zu 251 behandeln, wie er es bei sich selber hielt, und darin machte er für niemand eine Ausnahme. Auf der Treppe trat ihm der Direktor des Hotels, dem schon ein Vöglein diese Unterredung zugesungen hatte, mit Vorwürfen entgegen: Doktor, Doktor, was haben Sie mir angestellt! Ist Ihnen denn gar nichts an dem Herrn aufgefallen? Edgar antwortete, es sei ihm freilich aufgefallen, daß der Herr einen verkürzten Arm habe, und er könne sich auch denken, welchem Hohenzollern der Arm gehöre. – Wie konnten Sie ihm dann raten, abzureisen? Jeder andere hätte mir die junge Frau auf ein paar Wochen ins Bett gelegt. Wenn Sie Ihre Praxis so auffassen, werden Sie es nie zu etwas bringen.

Unterdessen hatte Edgar schon sein Auge auf die hübsche kleine Stadtvilla in der Via delle Porte nuove zwischen der Porta al Prato und den Festungsanlagen geworfen, einen anmutigen Bau mit langgestrecktem Mittelstück und zwei vortretenden Seitenflügeln, durch einen wohlbewachsenen, von hohen Lorbeerwänden umschlossenen Garten von der Straße geschieden. Der Preis war nicht zu hoch, betrug aber doch das Doppelte von seinen verfügbaren Ersparnissen. Er wandte sich an einen Stuttgarter Jugendfreund um ein verzinsliches Darlehen; aus der zurückhaltenden Antwort sprach aber so viel Bedenken, daß der Leichtverletzte darin den Vorwurf eines unbesonnenen Wagestücks zu lesen glaubte, den er nach den Proben, die er von sich gegeben, nicht erwartete. Er brach sogleich die Verhandlungen ab und hatte die Genugtuung, schon im nächsten Brief melden zu können, daß er das Geld nicht mehr brauche, weil seine Schwester ihm ihr eigenes Kapital zur Verfügung gestellt habe. Es war dies eine kleine 252 Erbschaft, die auf dem Umweg über meine Mutter zu mir gekommen war, als Vergütung für die lange wirtschaftliche Benachteiligung, die ich im Elternhaus erfahren hatte. Das Geld war auf Heyses Rat in Berlin bei einem in Häusern spekulierenden Philosophieprofessor angelegt gewesen, für dessen Sicherheit Heyse, der ihm auch sein eigenes anvertraut hatte, unbedingt einstehen zu können glaubte. Der Ertrag hatte bei dem hohen Zinsfuß für eine Reihe von Jahren einen sehr willkommenen Zuschuß zu meinen unsicheren Einnahmen und Mamas kleiner Pension gebildet, als plötzlich das Häusergeschäft wankte! Mir in Florenz enthüllte sich die Gefahr ganz zufällig bei einem Gespräch mit Heinrich Homberger, dem Schriftsteller und Dichter, der mir vom Hause Guerrieri her befreundet war und der sich entsetzte, als er erfuhr, daß dieser Abgrund auch nach mir den Rachen auftat. Seinem freundschaftlichen Zuspruch und schnellem Eingreifen gelang es – obwohl ich mich in meiner Einfalt schämte, dem erschütterten Gebäude der spekulativen Philosophie noch eine, wenn auch kleine, Stütze wegzunehmen –, das Meine noch eben vor dem Einsturz unversehrt herauszuretten. In Anbetracht meiner Unerfahrenheit und großen Abneigung, von Geld überhaupt zu sprechen, konnte man diesen Ausgang als einen wunderhaften ansehen, um so mehr, als ich noch hatte zu dem mir peinlichen Schritte überredet werden müssen. Die Rückzahlung des Geldes fiel gerade mit Edgars Entschluß zum Hauskauf und mit der Abweisung, die er aus Stuttgart erfahren hatte, zusammen; da ließ ich mich leicht für seinen Vorschlag gewinnen, durch zinslose Überlassung des Betrags gleichberechtigte Mitbesitzerin der Villina zu werden. Ich sah ja, sein 253 Herz hing an dem Hause, und woran das seine, daran hing auch das Herz der Mutter. Wir besichtigten zusammen die Räume: das Obergeschoß mit der langen Veranda, hinter der eine Reihe großer, heller, schöngeschnittener Zimmer lag, war von unaufdringlicher Vornehmheit und für einen Arzt wie geschaffen; im Erdgeschoß, das mir gehören sollte, waren jedoch die Räume schlecht verteilt und ermangelten zumeist des Lichtes. Nur ein vortretender Gartensalon zur rechten Hand mit hohen Glastüren, über zwei Stufen erhöht, erfüllte meine Erwartung, sollte jedoch wegen der Nähe der Küche auch zum gemeinsamen Speisezimmer für die Familie dienen. Hinter der langen Glashalle des Mittelstücks, die der darüber liegenden Veranda entsprach, lag ein großer Saal von gleicher Länge, schön geformt, aber am Tage kaum zu gebrauchen, weil der gedeckte Raum davor ihm das Licht beeinträchtige. Mit entsprechender Einrichtung konnte er jedoch ein herrlicher Empfangsraum für abendliche Geselligkeit werden. Im übrigen war schlecht für mich gesorgt: der linke untere Flügel enthielt nach der Gartenseite nur zwei kleine Zimmer, die wohl ursprünglich eines gewesen waren, mit so ungeschickter Beleuchtung, daß das vordere nur von einer seitlich verschobenen Glastür nach dem Garten, das anstoßende von einem in der Höhe angebrachten viereckigen Ausschnitt Licht erhielt. Dahinter lag dann freilich noch ein großes Zimmer, aber es hatte sein Fenster gegen eine enge und lärmende Straße, die Via San Jacopino, denn die Villa war ein Eckhaus. Ich hatte wohl mit Mama noch die zwei Zimmer eines Oberstocks nach der Straßenseite zur Verfügung, der von dort seinen eigenen Eingang besaß und mit der Gartenvilla nur durch 254 eine freistehende Holztreppe in Verbindung stand, aber diese Räume hatten gleichfalls den Nachteil des Lärms und Straßenstaubs. Ein paar Monate später wurde dann auch noch eine darüber liegende, bisher vermietete Kleinwohnung frei, wo Erwin mit Frau und Kind einziehen konnte. So war wieder die Familie beisammen, aber gut untergebracht konnte sich außer Edgar doch niemand fühlen. Daß die meisten dieser Räume zunächst noch unheizbar oder nur mit kleinen Kaminen versehen waren, wird keinen Kenner der damaligen italienischen Verhältnisse wundernehmen.

Da der Hauskauf mein beigebrachtes Kapital restlos aufgezehrt hatte, konnte ich meine Räume nur gerade schlecht und recht mit dem Notwendigsten ausstatten, in der Hoffnung auf künftige Einnahmen. So sehr waren auch Edgar die Mittel ausgegangen, daß ich den Kutscher aus meinem Taschengeld und eigenhändig mit Wäsche aussteuern mußte. Ich sehe mich noch unter mächtigen Ballen grober Leinwand sitzen und die Riesenbettücher säumen, an welche italienische Dienstboten einen Anspruch haben, weil sie gewohnt sind (oder waren), sich in der Tracht des Paradieses eng wie Mumien hineinzuwickeln. Manches Tröpflein Blut ist von meinem Finger in den harten Stoff geflossen, und manchen Traum von herrlichen Überlandfahrten, die ich mir mit meiner Arbeit zu verdienen glaubte, habe ich mit hineingenäht. Aber das Schicksal wollte es, daß ich nicht ein einziges Mal, soweit ich mich erinnere, zu der Mitbenutzung des Wagens kam, weil er immer bis zur Ermüdung des Pferdes mit seinem Herrn unterwegs war. Auch mein schöner Saal mußte für mich eine Fata Morgana bleiben, denn bevor ich in der Lage war, ihn einzurichten, 255 befand er sich schon in anderen Händen, die mich Schritt für Schritt aus dem Meinigen verdrängen sollten.

Ich ließ mich durch die vorgefundenen Übelstände keineswegs ernüchtern. Was besagten diese Mängel gegen die Freude, daß wenige Schritte vor meiner Tür ein Granatbaum stand, mein Lieblingsbaum, der Baum der Schönheit und der Mythe, der sich nun in jedem Frühjahr für mich mit korallenroten Rosen schmücken würde. Und die Nachtigall! Es war kein poetischer Wahn – sie sang wirklich des Nachts auf dem Granatbaum dort! Sich nun sagen dürfen: das alles ist unser: der große Magnolienbaum in der Mitte, dessen Riesenblüten im Sommer die ganze Straße mit der südlichen Gewalt ihrer Düfte überschwemmten, die früchtereiche japanische Mispel, der Kamelienstrauch und andere Zierstauden, daneben auch die heimatlich anmutenden Lilien- und Rosenbeete, die man selber pflegen konnte; Grund genug, sich immer neu zu freuen.

Wenige Wochen nach unserem Einzug trat der Tod über die Schwelle des neuen Hauses. In ihre Betten eingepackt, hatten wir die arme Josephine hergeführt, die wie ein Licht im letzten Glimmen war, und an einem frühen Novemberabend saß ich an ihrem Bett und hielt ihren schwächer werdenden Puls, bis ihr leiser Schlummer in den ewigen übergegangen war. Dann erst machte ich der Familie die Mitteilung, weil Mama, die an der Hüterin ihrer Kindheit wie an einer Mutter hing, mit einer fertigen Tatsache sich leichter abfand, als mit dem, was erst vor ihr lag. Ich erinnere mich noch, wie ich meinen weißen Morgenüberwurf brachte, um die Verblichene darein zu hüllen, und wie ein abergläubisches Anwesendes mich zurückhalten wollte, weil an diesem selbstgetragenen Stück die 256 Tote mich nachziehen könnte; aber so etwas tat unsere Fina nicht.

Als Ablenkung von dem neuen Leid, das sich so rasch an das um unsern Balde schloß, diente unserer guten Mutter der kleine venezianische Gast, Alfreds Stiefsohn, den dieser ihr noch in der alten Wohnung nach Baldes Tod gebracht hatte. Er hieß Guglielmo, wurde in der Familie scherzweise Gugl genannt und war ein schönes Kind von etwa acht Jahren mit langbefransten dunklen Augen, die aus einer schwermutsvollen Tiefe herauszublicken schienen, war aber in Wirklichkeit ein leichtsinniger kleiner Nichtsnutz. Meine Mutter war jedoch mit ganzem Herzen dabei, weil sie wieder ein junges Wesen zu betreuen hatte, mit dem sie »schulmeistern« konnte, wie sie sich ausdrückte, ihm die ersten Sprachbegriffe beibringen und von dem Trojanischen Krieg, der für sie der Anfang aller Dinge war, erzählen. Der Kleine lernte so gut wie nichts, war gänzlich unaufmerksam, da er überhaupt nicht gelernt hatte aufzumerken, trieb Unfug aller Art und hatte den Kopf voller Flausen und Ausreden, denn die Wahrheit zu sagen, war ihm zunächst an sich unmöglich. So unerschöpflich wie seine Unart war die Geduld meiner Mutter. Wenn ich fand, daß man notwendig die Zügel fester anziehen müßte, antwortete sie entschuldigend: Laß ihn gehen, er ist ein armer Teufel. Dieses rettende Zauberwort merkte sich der Kobold, und als ich ihm einmal, da er gar zu ungezogen war, eins auswischen wollte, streckte er flehend beide Hände gegen mich: Laß mich gehen, ich bin ein armer Taif! Er machte unsern Umzug aus dem Viale Margherita mit und blieb dann noch ein oder mehrere Jahre im Hause. Die Erziehungsergebnisse fielen 257 nicht glänzend aus, doch war das Beispiel des ihm vorgelebten Lebens nicht verloren und wurde später durch Erwin verstärkt, der ihn in München zu sich nahm, im Auge behielt und in eine ersprießliche Laufbahn brachte. Der kleine Italiener wurde zum Deutschen und begriff es später wohl, was Gutes an ihm geschehen war, denn in der schlaffen Luft Venedigs und im Hause Alfreds, der kein Erzieher war und auch keine Zeit für ihn hatte, wäre er zugrunde gegangen.

Waren meine Blütenträume von dem großen Gesellschaftssaal auch nicht gereift, so fehlte es doch nicht an edelster Geselligkeit. Da kamen außer Hildebrand und Böcklin, den der phantasievolle Maler Zurhelle zu begleiten pflegte, andere Spitzen der deutschen Kolonie: der gefeierte Essayist Karl Hillebrand und sein Freund Heinrich Homberger. Die beiden pflegte man zusammen zu nennen, weil sie in der gleichen Anschauungswelt lebten und den gleichen geistigen Acker bebauten. Bei näherem Hinschauen waren sie sich jedoch sehr unähnlich. Zu dem feinen Weltmann Hillebrand fühlte ich einen unüberbrückbaren Altersunterschied, der nicht von der Zahl der Jahre abhing. Im Auftreten an den Pariser Salons gebildet, jeder Rest von Kante oder Eigenart weggeschliffen, sehr verbindlich in der Form bei viel natürlichem Wohlwollen, alle Kultursprachen mit gleicher Eleganz und Vollkommenheit sprechend, hätte er seinem Äußern nach ein hoher Diplomat sein können. Auch so war er bei seiner gesellschaftlichen Stellung ein glänzender Vertreter des Deutschtums im Ausland und trotz seiner französischen Vergangenheit, seiner englischen Gattin und seiner Wahlheimat Italien mit jeder Herzensfaser deutsch. Aber er war der völlig fertige, im Denken ein 258 für alle Male festgelegte, sich in nichts mehr wandelnde Geist, der seine Schranken geschlossen hatte und der auch dem einsamen, um Verständnis anpochenden Zarathustra die Tür nicht mehr auftat. Das ließ in mir trotz der schönen Menschlichkeit kein Gefühl der Befreiung in seiner Nähe aufkommen. Daß er von meines Vaters Werken nur die »Heimatjahre« schätzte und mit dem mächtigen »Sonnenwirt« nichts anzufangen wußte, bewies, daß er geistig an eine bestimmte literarische Spanne gebunden blieb, jenseits deren er nicht mehr mitging. Seine Werke, einst viel gelesen, stehen in meinem Bücherschrank; sie bieten eine weite, vielleicht etwas flache, den Geist seiner Epoche spiegelnde Überschau über Zeiten und Menschen, deuten aber nicht in fernere Tage hinüber. Das macht, er war nur Beschauer, nicht Seher und Dichter.

Mir bot er unverdientermaßen die Mitarbeit an seiner zweisprachigen Zeitschrift »Italia« an, in der deutsche und italienische Gelehrte sich über die großen Menschheitsfragen äußerten. Ich stand jedoch dieser ehrenden Aufforderung ratlos gegenüber, denn ich hatte noch nicht so viel selbständig nachgedacht, um eine eigene Stellung zu den Dingen zu haben, und Fremdes mir aneignen und weitergeben lag nicht in meiner Art; ich mußte zu dem allem erst durch das Leben kommen.

Besser verstand ich mich mit Homberger, in dem sich mit dem Denker ein Poet verband. Er nannte es die größte Gunst, die das Schicksal einem Sterblichen erweisen könne, wenn es ihn durch sein Werk Zeugnis ablegen lasse von seinem Wert. Ihm selber wurde diese Gunst nur in beschränktem Umfang zuteil: er litt an schweren inneren Hemmungen, die er auf den schlechten Stand seiner Gesundheit zurückführte, und die ihm 259 nur wenig von dem reifen ließen, womit er sich beschäftigte. Aber seine dichterische Anlage ließ ihn nicht erstarren, und wenn auch seine formschönen Gedichte reine Gedankenlyrik waren, so warfen sie doch wärmere Lichter über die Dinge als die kühle Hillebrandsche Verstandeshelle. Nur hatte auch er nichts Unbewußtes in sich, er weckte es fort und fort auf, um sich Rechenschaft zu geben; so ließ der Denker dem Dichter keinen Raum. Dagegen brachte er aber auch nicht wie jener stets ein Fertiges, schon zu Ende Gedachtes, denn keineswegs stand ihm schon alles fest, er trat selber als Fragender den Fragen, die ihn erfüllten, gegenüber und fühlte sich durch Zustimmung aus fremdem Munde bestärkt und beglückt, besonders, wenn es der Mund Adolf Hildebrands war, dessen unbekümmerte Unmittelbarkeit ihn bezauberte. Zu Hause saß er dann vor seinem Gedankenwebstuhl und wob, was durch Gesprochenes und Gelesenes in ihm angeregt war, vollends in der Stille zu Ende. Aber – lag der Grund in ihm oder im Weltlauf? – es fiel ihm das fast unbegreifliche Los, daß er bei unausgesetzter geistiger Tätigkeit am Ende doch nur für seinen Nachlaß gearbeitet hatte, einen Nachlaß, der erst Jahrzehnte nach seinem Tod von seiner Witwe herausgegeben und von seinem Schwager Georg Karo feinsinnig eingeleitet wurde, aber wenig in die Öffentlichkeit drang. Ein so tiefes philosophisch-ästhetisches Schürfen wie etwa seine Untersuchungen über das berühmte Tagebuch des Genfer Philosophen Amiel dürfte weit und breit nicht seinesgleichen haben. Aber Hombergers Zeit war niemals und wäre es heute, wo alles in einem Sturm des Werdens und Vergehens fiebert, weniger denn je. Nur wenn gelegentlich ein abseitiger Grübler noch in 260 irgendeiner Privatbibliothek auf ein Buch von Homberger stößt, so mag er sich wundern, was alles in einer windstillen und tatenfernen Zeit ein so fein unterscheidender Geist über Gedachtes zu denken fand. – Für die Wärme, mit der er die Erstausgabe meiner Gedichte in der von ihm geleiteten Wochenschrift »Die Nation« begrüßte, bleibe ich Hombergers Schatten für immer verpflichtet.

Ganz persönlich und mit vollem Herzen mir zugewendet war mein englischer Freund Charles Grant. Er lebte ständig in Deutschland als Lektor der englischen Sprache, verbrachte aber seine Ferienzeit in Florenz, wo er abwechselnd in den ihm nahe befreundeten Häusern Hildebrand und Hillebrand zu Gaste war. Mittelgroß, untersetzt, höchst temperamentvoll, mit schwarzem Haar und Bart und afrikanisch dunklem Gesicht, das zugleich stark gerötet war, schien er immerzu innerlich zu brennen. Sobald er zu reden anhob über Gegenstände, die ihn erfüllten, schlug es auch in der Tat wie Flammen aus ihm. Es hieß, sein Vater habe als britischer Missionar in Indien seine Mutter zuerst im Sarge gesehen, habe eine Leidenschaft für die Tote gefaßt und hernach die Wiedererweckte zur Frau genommen. Der zarten und phantasievollen Art des Sohnes traute man gerne einen solchen besonderen Ursprung zu. Er brachte mir die neueren englischen Lyriker wie Dante, Gabriel Rossetti und Swinburne, die er leidenschaftlich liebte, wenn auch als selbstwillige Neuerer, die sie damals waren, mit etwas schlechtem Gewissen: I am afraid, I like them more than I ought, sagte er mit einem schalkhaften Seufzer, wahrscheinlich im Hinblick auf Hildebrand, den ästhetischen Diktator des Kreises, der diese Poesie ablehnte. Ich teilte 261 Grants Bewunderung, besonders für Swinburne, in dem bei unwiderstehlicher Formgewalt etwas von der kalten Glut des gefallenen Engels zu lodern schien. Grant war im ganzen Umkreis der einzige, dem die Unwägbarkeit der lyrischen Dichtung Lebensluft bedeutete, wo die andern sich mit Literatur befaßten! Seine eigenen Gedichte, deren er nur ein schmales Bändchen drucken ließ, waren von außerordentlicher Zartheit und Seelentiefe bei großer Schlichtheit der Form, blieben aber mit ihrer Wirkung auf den engsten Freundeskreis beschränkt.

Grant besaß nahe Freunde im englischen Hochadel, die ihn zuweilen auf Reisen abholten, und es ehrt diese Glieder einer höchst bevorrechteten Kaste, daß sie den geistströmenden Dichter trotz seiner großen Armut nicht nur völlig als Gleichen behandelten, sondern sich auch in allem nach seinen Wünschen richteten. Sie hatten ihm ein dauerndes Zusammenleben vorgeschlagen, das er jedoch ablehnte, weil er seiner Armut und völligen Ungebundenheit treu bleiben wollte.

Unter den Besuchern des Hauses muß hier auch Edgars unzertrennliches, wiewohl ihm sehr unähnliches zweites Ich eingeführt werden, sein italienischer Kollege Dr. Carlo Vanzetti, mit dem er sich auf Gedeih und Verderb gegen die feindselige Rückständigkeit der damals noch halb im Mittelalter steckenden einheimischen Wissenschaft zusammengeschlossen hatte. Dieser trat jedoch erst später deutlich in meinen Lichtkreis; um jene Zeit kannte ich ihn zu wenig, um ihn nach Geist und Charakter richtig einzuschätzen. Äußerlich war er eine Augenweide, von athletischer Kraft und Geschmeidigkeit, nicht nur als glänzender Fechter bekannt, sondern ebenso jeder Art von Gymnastik leidenschaftlich huldigend und sie auch zu 262 Heilzwecken verwendend, was jene Zeit noch als ganz absonderlich belächelte. Es ging ihm der Ruf großer Ritterlichkeit voran, weil er unter den einheimischen Ärzten der erste und einzige war, der es wagte den damaligen grausigen Übelständen der städtischen Spitäler in einer langen Zeitungsfehde zu Leibe zu rücken, sich damit heimlichen Verfolgungen und Gefahren aller Art aussetzend. Das paßte gerade seiner Draufgängernatur; er nahm sich einen ehemaligen Carabiniere, einen verwegenen und gewitzten Burschen, zum Diener, in dessen Gesellschaft er mancherlei Husarenstückchen ausführte. Im gesellschaftlichen Rahmen aber erschien er zunächst nicht zu seinem Vorteil. Er war in so viele Abenteuer mit der Weiblichkeit, besonders der unteren Stände, verstrickt, daß er weder Zeit noch Gelegenheit zum Umgang mit gebildeten Frauen fand und sich solchen gegenüber nicht zu geben wußte. Ich hielt ihn zu Anfang wegen der vielen Floskeln, die er ins Gespräch zu mengen liebte, für ausgemacht einfältig und begriff erst, als er anfing natürlich zu reden, was mein anspruchsvoller Bruder an diesem Genossen hatte, der alles besaß, was ihm fehlte, vorab die Wendigkeit und nachsichtige Liebenswürdigkeit im Menschenverkehr und eine strahlende, durch nichts zu trübende Laune. Er war wie von magnetischen Wellen umgeben, die die andern mithoben, daß es auch dem Mißmutigen unmöglich war, in seiner Nähe verstimmt oder trübselig zu bleiben, und daß auch gleich, wo er erschien, sich jung und alt, Mensch und Tier zu ihm herandrängte. Mit Hildebrand teilte er diese magisch-magnetische Eigenschaft, den Augenblick wahrhaft seiend zu machen, aber bei ihm kam sie nicht wie bei jenem aus der höheren Geisteswelt. Vanzetti 263 stand ganz im Zeichen des Erdgeists: um das richtig zu erfahren, mußte man sich mit ihm im Boot auf dem Meere oder im Hochgebirg befinden, wo seine Nähe wie die einer wohlgesinnten Naturgottheit Sicherheit verbreitete. Man konnte keine so großen Dinge mit ihm reden wie mit den oberen Göttern, aber es fiel zuweilen ein unerwartetes Streiflicht aus seiner Sinnenwelt in die geistige, sie von einer ganz anderen Richtung her neu und überraschend beleuchtend. In allem, was außerhalb der Naturwissenschaften und seiner eigenen Naturerkenntnisse lag, war er bodenlos unwissend, was ihn nicht im geringsten störte; er sprudelte so von Einfällen und schnellen Eingebungen aus der Sphäre der Natur und des Lebens, daß die Gelehrten still wurden und zuhörten, wenn er begann.

Eine Persönlichkeit wie die Vanzettis wäre im heutigen Italien ebenso undenkbar wie in irgendeinem anderen Kulturland; zu eng liegen die Maschen staatlicher Ordnung heute über allen Lebensäußerungen. An der Zeitgrenze, wo er stand, wurde er noch verstanden. Er gehörte nach seiner innersten Natur zum Schlag des edlen Räuberhauptmanns: der Trieb, den Menschen zu helfen, war in ihm ebenso groß, wie der, es auf Kosten des Gesetzes und der Ordnung zu tun. Gesetze und öffentliche Einrichtungen hatten für ihn nur den Sinn, daß er ihnen zum Spaß Schnippchen schlagen konnte, wobei er, wenn der Streich entdeckt wurde, die Lacher auf seine Seite zog; mit solchen Streichen umkränzte er sein ganzes Dasein wie mit lachenden Arabesken; wenn sie gelegentlich ins Gefährliche gingen, nur um so besser. Meist aber blieben sie in der Sphäre des Studentenjuxes. So ging er eines Tages in Begleitung seines höchst martialisch aussehenden Dieners und 264 Faktotums Carlo über den Lungarno, als sie in einen Auflauf gerieten, in dessen Mitte ein Mann unbarmherzig auf seine Frau losdrosch, ohne daß die Umstehenden es wehrten. Vanzetti trat ohne weiteres auf den Rohling zu: Im Namen des Königs! Ich verhafte Sie. Und zu den Anwesenden sagte er: Ich bin Delegierter der publica sicurezza, was schon in Anbetracht seines Begleiters, den alle für einen Polizisten in Zivil hielten, von niemand bezweifelt wurde. Die zwei nahmen den Missetäter in die Mitte, um ihn, wie der Herr »Delegato« sagte, zur Quästur zu führen, während der Verhaftete jämmerlich bat, ihn freizulassen, unter den heiligsten Versprechungen, daß er sich bessern wolle. Der falsche Beamte ließ sich denn auch nach längerem Marsch erweichen, nahm dem Zerknirschten noch zum Schein seine Personalien ab und schickte ihn unter strengsten Ermahnungen nach Hause. Volkstribun ohne öffentlichen Auftrag, sah man ihn stets beschäftigt, die Sache der Schwachen und Unterdrückten zu führen, Mängel der irdischen oder der himmlischen Vorsehung mit den allerwillkürlichsten Mitteln zu berichtigen.

Einmal – es war in etwas späterer Zeit – begleitete er mich auf einem Gang am Africo, als ein Gefährt von hinten an uns vorüberrollte, dessen Lenker sinnlos auf das arme Pferd einschlug. Vanzetti, der ein großer Tierfreund war, verwies ihm die Roheit; da verdoppelte der Unhold seine Hiebe und rief ein gemeines Schimpfwort zurück. Nicht lange, so fanden wir auf seinen Spuren weitergehend eine schöne, nagelneue Pferdedecke mitten im Straßenstaub liegen. Mein Begleiter hob sie auf, schüttelte sie aus und legte sie in Erwartung des Besitzers zierlich zusammengefaltet auf den Arm, als ob er 265 einen Damenschal trüge. Richtig kam gleich darauf der Wagen im Galopp zurück, der grobe Fuhrmann schrie uns an, ob wir keine Pferdedecke gefunden hätten. Ein stummes Nein Vanzettis und ein mißtrauischer Blick des Fuhrmanns auf den vorgeblichen Schal, der in der Dämmerung nicht mehr recht zu erkennen war, dann sauste er fluchend weiter. Ich fragte den unehrlichen Finder, was er denn mit der Diebesbeute zu tun gedächte. Sie dem ersten armen Teufel schenken, der morgen früh in die Sprechstunde kommt. Meine Bedenken fand er natürlich philisterhaft.

Es begreift sich, daß dieser irrende Ritter der Gerechtigkeit mit seiner ausladenden Silhouette sich bei den niederen Schichten einer glühenden Beliebtheit erfreute. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, sich aus seiner Anhängerschaft eine Stufe zu äußeren Ehren und Ämtern zu bauen, aber nichts lag ihm ferner; er war außerstande, einen Plan aufzustellen und mit Bestimmtheit zu verfolgen, alles war Regung des Augenblicks, ohne Fortgang und Stetigkeit. Ich versprach ihm einmal in späteren Jahren, wenn er mir fleißig seine Abenteuer beichten wolle, so würde ich seine Lebensgeschichte schreiben. Aber obgleich die Bekenntnisse nichts zu wünschen übrig ließen, sah ich doch bald, daß sie nur als Rankenwerk verwertbar waren, ohne einen Lebenslauf zu ergeben, weil nur aus Episoden, Anekdoten bestehend. Dagegen lieferte er mir lebendige Einzelzüge für Gestalten meiner späteren Novellistik, wie den frechen, aber nicht unedlen Rocco Fontana in »Unsere Carlotta« und den liebenswürdigen Militärarzt, an den die arme kleine Pensa ihr Herzchen so tragisch verliert.

Wir werden seiner Gestalt noch oft auf diesen Blättern 266 begegnen, denn er verwuchs immer fester mit der Familie seines Freundes und übertrug die Treue für ihn auf alle Glieder des Hauses. Als Norditaliener hatte er für deutsches Wesen viel Verständnis und bildete so die natürliche Brücke zu dem umgebenden italienischen Element. Nicht minder stand er als Vermittler zwischen den Geschwistern selbst: wenn die erregbaren Geister aufeinanderprallten, stellte er sich brüderlich als Puffer dazwischen, lenkte ab, verglich, und indem er jedem einzelnen recht zu geben schien, befriedigte er alle und beschwichtigte das ängstliche Mutterherz. Für solchen Eiertanz waren die leichten italienischen Füße wie geschaffen. An allen unseren Schicksalstagen war er helfend und teilnehmend oder mittrauernd zugegen, und man kann wohl sagen, daß ohne ihn dem Familienleben geradezu ein Rad gefehlt hätte.

Dies war unser ständiger Menschenkreis in der Via delle Porte nuove. Späterhin trat noch ein anderer Norditaliener, Freund Carlo Fasola, der Professor für deutsche Sprache und Literatur an der florentinischen Hochschule, mit seiner strebsamen, aus München geholten Gattin hinzu. Mir als Sprachforscher ein besonders willkommener Zuwachs, weil er einen Bereich mit mir gemein hatte, auf den seit den Tübinger Tagen meines Ernst Mohl niemand mehr eingegangen war. Aber glücklicherweise war auch er kein Buchgelehrter, sondern ein großer Naturfreund, er brauchte die Nähe der Scholle und den Umgang mit Tieren um sich wohl zu fühlen und lebte darum immer außerhalb der Stadt. Wenn er auf seinem lustigen Eselswägelchen angefahren kam, so brachte er in seiner großen Ursprünglichkeit und studentischen Unbekümmertheit eine Welle von Landluft mit, die erquickend war.

267 Mit dem Frühjahrsstrom kamen dann die alten Freunde aus der Heimat: Paul Heyse mit Frau, die Familie von Hornstein, mir von München her befreundet, und andere Spitzen; ferner Edgars in Rom lebende Freunde, der treffliche Dr. von Fleischl und der ritterliche Maler und Marées-Schüler Karl von Pidoll, der später auf tragische Weise aus dem Leben schied. Von Frauen sei besonders zweier gleichfalls aus Rom durchreisender Meteore gedacht: der als Schriftstellerin, aber noch mehr als Freundin großer Männer bekannten Malwida von MeysenbugIn der Lebensgeschichte meines Vaters hatte ich einen Vergleich zwischen meiner Mutter und Malwida von Meysenbug als zwischen zwei gleichgesinnten Sprößlingen alter Adelsgeschlechter gezogen, die beide ihren Standesvorrechten entsagt hätten, um sich der Sache des Volks zu widmen. Ich wurde jedoch von unterrichteter Seite darauf aufmerksam gemacht, daß ich mich im Irrtum befände, weil Malwida nicht wie meine Mutter aus altem Adel stamme, vielmehr sei ihrem Vater wegen persönlicher Verdienste um den Kurfürsten von Hessen von diesem an Stelle seines bürgerlichen Namens Rivalier Name und Titel des erloschenen hessischen Freiherrngeschlechtes von Meysenbug verliehen worden. Ganz entgegen dem Verhalten meiner Mutter, die eine Freiherrnkrone ablegte und sich Bürgerin Brunnow nannte, behielt Malwida den neuverliehenen Adel bei, auch als ihre Familie sie bei ihrer revolutionären Propaganda ersuchte, sich für diese, ihre Angehörigen schädigende Tätigkeit ihres ehemaligen bürgerlichen Namens zu bedienen. Der Fall lag also umgekehrt, und ich mußte dem Gewährsmann versprechen, den Irrtum zu berichtigen, damit die große Natur meiner Mutter durch die falsche parallele nichts von ihrer Einzigartigkeit einbüße. Doch ist gewiß Malwida durch Weiterführung eines Adelsprädikats, das zu jener Zeit noch mehr Glanz verlieh als heute, ihrer Sache nützlicher gewesen, als wenn sie ihr als schlichtes Fräulein Rivalier gedient hätte, und das mag ihr Verhalten mit erklären. und der geistreichen, erst im Frühjahr 1932 hochbetagt in München gestorbenen Auguste von Eichthal, 268 beides Damen, denen eine kulturelle Bedeutung zukam, weil sie, eine jede auf ihre Weise, die Geistesgrößen aus Politik, Literatur und Wissenschaft in ihrem römischen Heim um sich zu sammeln wußten. Auch Gisela Grimm, die Tochter der Bettina und Gattin Hermann Grimms, steigt aus jenen Tagen in meinem Gedächtnis auf, eine schöne, stattliche, schon ältere Frau, ihrer Mutter in dauernder Hochspannung und mancher äußeren Eigentümlichkeit nachstrebend. Mit ganz verblassenden Erinnerungsfarben kann ich auch noch die Erscheinung des Grafen Schack erkennen, des berühmten Übersetzers, Sammlers, Reisenden und Mäzens. Was strömte nicht alles damals in Florenz zusammen. Im Hause des jungen Doktors, der neben seinen vorzüglichen Leistungen auch durch seine tiefe Menschlichkeit und durch den Dichter in ihm so viel Vertrauen erweckte, daß er ebenso als Beichtvater wie als Arzt gesucht war, wurde man mit den mannigfachsten menschlichen Schicksalen bekannt. Stoff zu Tragödien wie zu Komödien, Stoff zu Romanen: bald eine Künstlerlaufbahn, die an einer verrückten Liebschaft scheitert, bald eine unglückliche Frau, die vor ihrem wildgewordenen Ehemann flüchtet, oder ein heimlich zur Welt gekommenes Kind, das untergebracht werden muß, bis seine Eltern sich vor dem Standesamt zu ihm bekennen dürfen, –und was alles die Phantasie der verborgenen Schicksalsweberinnen sich an Lebens- und Liebesverrenkungen auszudenken vermag. Edgar war der verschlossenste Mensch und erzählte nie aus seiner Sprechstunde, aber die Verstürmten fanden von selbst den Weg an das große Herz der Mutter, und ihres war auch das meinige. Da sah ich in Wirrungen hinein, von denen ich mir nie hätte träumen lassen, und wurde 269 frühe so mit seelischen Merkwürdigkeiten übersättigt, daß ich manchesmal bei Fällen, worüber sich die öffentliche Meinung aufregte, mir meinen Mangel an psychologischer Neugier vorwerfen lassen mußte, denn es war »alles schon dagewesen«.

Anderseits strahlte aus den beruflichen Kämpfen Edgars, der immerzu mit der Eifersucht anderer Fremdenärzte und mit dem damaligen medizinischen Schlendrian der Einheimischen zu ringen hatte, auch so viel Unruhe in das persönliche Leben herüber, daß man mitunter freundschaftliche Beziehungen plötzlich zerstört sah, ohne zu wissen, warum. Dies trug auch stets aufs neue dazu bei, mich vom geselligen Verkehr abzuschneiden, aber ich hatte meine Arbeit, und mitten unter den Gestalten meiner Einbildungskraft berührten mich die Verluste weniger.

Aber was hilft es, die Blätter der Erinnerung umschlagen, um die Spuren des eigenen Lebens darin zu finden! Unsere wahre Geschichte steht nicht auf diesen Blättern. Vielleicht lebt kein tieferer Mensch seine wahre Geschichte. Die äußeren Vorgänge sind es ja nicht, sie werfen höchstens ihre Schatten herein. Unser wahres Leben geht im Unausgesprochenen und Unaussprechbaren, von uns selber nicht Gewußten vor. Wie wahr sagt Rilke: »Mit kleinen Schritten gehn die Uhren / Neben unsrem eigentlichen Tag.« Wo scheint unser eigentlicher Tag? In der inneren Heimat oder nirgends. Wie der wachsende Menschenkeim in dem umhüllenden mütterlichen Fruchtwasser, so wohnt und reift unsere Seele in einem von oben mitgebrachten Element, das sie schützend und absondernd umgibt. Woraus es besteht, ist uns selber nicht bekannt. Es wirkt nur als Gewähr einer höheren Verwandtschaft und als 270 tröstliches Gefühl ihrer Nähe. Aber die äußere Entsprechung dafür wäre mehr, als der Mensch an Glück ertrüge, darum müssen den Tiefsten ihre irdischen Freuden immer aufs neue genommen werden.

 

Ich verbrachte immer noch meine Tage auf der Biblioteca nationale, wälzte Folianten und häufte Auszüge auf Auszüge. Denn je weiter ich kam, desto mehr begriff ich, daß genug noch nicht genug war, und daß man ein Menschenleben über diesen Studien verbringen konnte. Die Bibliothekare gingen mir freundlich zur Hand, wenn sie mich so unentwegt meinen Platz am Damentisch einnehmen sahen, wo sonst nur ab und zu ein junges Mädchen auftauchte, schnell einen heimlichen Brief hinkritzelte und wieder verschwand. Pasquale Villari, der angesehene Historiker, dem ich zuweilen im Haus Guerrieri begegnet war, las in der Sapienza öffentlich über diese Gegenstände, und ich schrieb gewissenhaft nach, hatte aber nicht viel Gewinn davon, denn was er las, war mir sachlich schon bekannt, zum Teil aus seinen eigenen Werken, und mit seinen etwas bürgerlich-moralischen Maßstäben befand ich mich nicht in Übereinstimmung: die überschauende Größe Burckhardts ließ mich das Außerordentliche jener Zeiten und Menschen doch in anderem Lichte sehen. So fühlte ich mich mit meinem Text nur langsam vorwärts. Ich war meinem abwesenden Mitarbeiter dankbar, daß er mich nicht drängte. In dem Sommer, der auf unseren Hauskauf folgte, kam er nicht nach Florenz; seine Briefe enthielten wieder viel Mißmut und Weltverneinung unter dunklen Andeutungen, die man auf schlechten Gesundheitszustand beziehen mußte. Aber 271 gemeinsame Bekannte wollten ihn in guter Verfassung gesehen haben; das brachte eine neue Unstimmigkeit in vieles andere Mißstimmende, das schon in die Freudigkeit des ersten Anlaufs gefallen war. Auch das Mitgefühl für Ungreifbares war überdehnt, aber einen Zweifel an dem Fortgang der Zusammenarbeit ließ ich nicht in mir aufkommen: indem ich unbeirrt das meine tat, glaubte ich mir ein Recht auf das Gelingen verbürgt.

Die heißen Tage verlebte ich wieder in San Terenzo am Fuß des alten Felsenkastells in den köstlich urtümlichen Verhältnissen meines alten Seemanns Giacomino, der mich wie ein Vater umsorgte, wie ein Mädchen für alles bediente, auf den Fischfang mitnahm und mir auf langen Bootsfahrten die bunten Matrosenabenteuer seiner Jugend erzählte. Ich habe damals dem vortrefflichen Mann und seinem ganzen Felsendorf, den grundeinfachen und grundehrlichen Dorfbewohnern, die nicht einmal Riegel an den Haustüren kannten, in den dort geschriebenen kleinen Meernovellen Frutti di mareZuerst bei Hermann Seemann, Leipzig, erschienen, dann von Cotta Nachfolger übernommen, 1928 unter dem Titel »Aus frühen Tagen« in der Vaterländischen Verlags- und Kunstanstalt, Berlin, vermehrt herausgegeben. ein Denkmal gesetzt, auf das er mit dem ganzen Ort stolz war. Doch den vollen Zauber jener Sommertage habe ich erst Jahrzehnte später in der Novelle »Die Allegria« aus bewegter Erinnerung zurückgespiegelt. Das freilich hätte mir nicht beikommen sollen, das zauberhafte Idyll, um das noch ein Laut von Shelleys dort gedichteter »Himmelslerche« schwebte, in viel späterer Zeit, nach mehr als vierzig Jahren wieder 272 sehen zu wollen und zu finden, daß es unterdessen in Schmutz und Elend völlig ertrunken ist.

In jenem Sommer nun, von dem ich reden will, war ich sehr zeitig gekommen, und Mama, die sich selten eine Ausspannung gönnte, hatte die ersten vierzehn Tage in großer Glückseligkeit dort mit mir verlebt. Dann war ich allein in meinem hohen Turmzimmer zurückgeblieben, um das die Wellen brandeten und das mir bei Nacht, wenn das Meeresleuchten anhob, die Vorstellung eines zwischen zwei gestirnten Himmeln hinsegelnden Schiffes gab. In San Terenzo fand ich meinen alten Bekannten von Rimini her, den Senator Mantegazza wieder, der sich eine hochgelegene Villa über dem Meer gebaut und mit üppiger fremdländischer Flora umrahmt hatte; er sandte mir zuweilen Früchte und Blumen herüber. Kletterte ich in dem Felsengarten des alten Kastells herum, so kamen die zwei dort aufgestellten Marinesoldaten von ihren Posten herunter, gute große Kinder, und leisteten mir achtungsvolle Gesellschaft. Begab ich mich an die Marina, so ließ sich wohl dieser und jener von den Badegästen mir durch meinen Hauswirt vorstellen, und ich konnte sicher sein, daß er seine Leute kannte und nur vertrauenswürdige Personen in meine Nähe kommen ließ. Das Schönste aber war doch immer, mit meinen stillen Eingebungen, die niemand störte, sinnend und spinnend allein zu sein.

Jenes Mal aber sollte sich der Auszug nicht so friedlich gestalten, wie es der erwartungsfrohe Einzug gewesen. Gegen Ende August, als die Sommerfreuden der Badewelt auf ihrem Gipfel waren – ich nahm wenig teil daran, aber ich freute mich wenn die Tanzmusik an meinem Fenster heraufklang oder 273 wenn ich des Nachts farbig beleuchtete Boote mit Gesang und Gitarrenklang vorüberfahren sah –, da griff ein furchtbares Gespenst herein. In dem benachbarten Spezia brach ganz plötzlich die Cholera, die schon seit längerer Zeit heimlich umherschlich, aber der Badegäste wegen vertuscht wurde, mit pestartiger Heftigkeit aus. Bevor wir in San Terenzo das geringste erfuhren, fielen schon in der Nachbarstadt die Menschen tot auf der Straße um. Ein Arbeiterschiff aus Toulon, das weit draußen auf dem Meer in Quarantäne lag, hatte die Seuche mitgebracht, ein verbrecherischer Gastwirt, der mit Hilfe eines ebensolchen Stewards die zum Verbrennen bestimmten Matratzen der Gestorbenen für seine Gäste heimlich aufkaufte, hatte sie in die Stadt geschleppt. Die Badegäste stoben auseinander; nur eine kleine Anzahl, wozu ich gehörte, nahm sich die Not der um ihre Sommerernte betrogenen Einwohner von San Terenzo und ihre Verlassenheit zu Herzen und versprach zum Troste der Ansässigen standzuhalten, solange bis die Maßregel einer militärischen Absperrung das Bleiben zu einem Unrecht gegen die eigenen fernen Angehörigen machen würde. Als die Bevölkerung erfuhr, daß Mantegazza selbst, der noch eben im Lokalblättchen gegen die Furcht vor Cholera als ihre wirksamste Helferin gepredigt hatte, in der Stille verschwunden war, brach eine große Erbitterung aus, die sich an seinen noch zurückgebliebenen Söhnen tätlich vergriff. Ich trotzte also den sich steigernden Hiobsposten aus Spezia, sowohl um den Einheimischen Mut zu machen als um mich nicht aus meiner stillen Seligkeit losreißen zu müssen. Da stürzte mir des Mittags der jüngste Mantegazza mit dem Schreckschuß ins Haus, daß bereits 274 alle Ausgänge aus dem Golf durch Militär gesperrt seien und nur die Magrabrücke bei Sarzana noch für Stunden frei; er habe schon in einem Wagen aus Lerici einen ihm selber angebotenen Platz für mich belegt. Ich schwankte, ob ich das ritterliche Anerbieten annehmen dürfe, ließ mich aber durch seinen und meines Hauswirts Zuspruch doch aus Rücksicht auf die ängstlichste und liebevollste aller Mütter dazu bewegen. Als ich nach heißem Aufstieg in der Mittagsglut mit Giacomino die steile Höhe erreicht hatte, wo ich den Wagen aus Lerici erwarten sollte, zeigte sich's, daß dieser schon eine halbe Stunde vor der angegebenen Zeit in wilder Eile durchgefahren war und sich an dieser Stelle aller seiner Gepäckstücke entledigt, dafür aber meinen schon früher dort wartenden Ritter mitgenommen hatte. Jetzt war guter Rat teuer, denn die Magrabrücke noch vor Abgang des Zugs von Sarzana zu Fuß zu erreichen, war ein Ding der Unmöglichkeit; auch strömten bereits von dort andere Flüchtlinge wieder zurück, weil die Brücke schon besetzt und ohne Gesundheitsbescheinigung des Amtes von Lerici die Durchfahrt nicht mehr gestattet war. Das machte die Lage vollends verzwickt und scheinbar hoffnungslos, denn dieses Papier jetzt noch zu beschaffen, kam bei der großen Entfernung gar nicht in Frage. Ich setzte mich am Weg auf meinen Koffer und wartete auf den rettenden Deus ex machina, mit dem ich sonst schon gute Erfahrungen gemacht hatte. Dabei verkürzten mir die Prozessionen flüchtender Bauernfamilien, die mit Vorräten in das höhere Gebirge hinaufzogen, die Zeit. Besagter freundlicher Genius erschien auch in der Tat in der Gestalt eines Familienvaters aus Carrara, der mich von Ansehen kannte, und sobald er meine 275 Verlegenheit erfuhr, mich in seinen Wagen steigen ließ. Wie es ihm durch Überrumpelung der verdutzten Wache gelang, mich trotz meiner auffallenden Blondheit unter seinen dunkelhaarigen Angehörigen als überzählige Fünfte auf sein Schriftstück durchzuschmuggeln, wie sich auf der ereignisreichen Weiterreise noch fernere glückhafte Zufälle zusammenfanden, um mir aus allen Fährlichkeiten immer wieder herauszuhelfen, bis ich am Abend halb geröstet von der Hitze und gründlich durchschwefelt von den Räucherungen, denen man alle aus seuchenverdächtigen Gegenden gekommenen Reisenden unterzog, in Florenz auf dem Bahnhof stand, wo meine beiden ärztlichen Brüder, denen sich Vanzetti angeschlossen hatte, seit Stunden warteten, um mich selbdritt der Quarantäne zu entreißen, weil sie infolge eines an mich gesandten Telegramms, das aber gar nicht in meine Hände gelangt war, mit Sicherheit auf mein Kommen rechneten –, das alles habe ich damals warm vom Neuerlebten in der »Gartenlaube« geschildertSpäter dem Bändchen »Aus frühen Tagen« ergänzend einverleibt..

Glückselige Jugend, deren Kräftequell nicht auszuschöpfen ist, wie ähnlich sehen sich doch ihre Freuden und ihre Schmerzen. Alles muß ihr zum Wachstum dienen: Verwicklungen sind ihr ein Gewinn, Gefahren ein Spiel, und auch das herbe Todesleid nimmt sie an ihre Brust und singt es zärtlich wie ein Kind zur Ruhe. 276

 


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