Isolde Kurz
Die Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen
Isolde Kurz

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Zehntes Kapitel

Durchbruch

Zu Anfang des Jahres, das auf diesen bewegten Herbst folgte, starb Althofen. Die Nachricht erreichte mich völlig unvorbereitet bei einem Aufenthalt in Rom.

Wieviel auch ein Mensch von Todesahnungen sprechen möge – solange er in der Fülle des Lebens dasteht, glaubt man ihm nicht, denn das Leben muß ewig den Tod verneinen. Daß ich dennoch tief innen dieses frühe Ende vorausgewußt hatte, stand auf einem anderen Blatt, es gehörte nicht in das wache Tagesbewußtsein. Jetzt verstand ich, daß die immer wiederholten düsteren Prophezeiungen keine bloßen Grillen gewesen waren, sondern daß der Tod selber aus dem vermessenen Zeichenstift neckte und scherzte, als er das frevelhafte Spiel mit dem Totenkopf, seinem eigenen, spielte. Auch daß er die gefühlsmäßige Überzeugung von der Kürze seines Lebens nur in Frauengesellschaft äußerte, am meisten da, wo er sich am unbedenklichsten gab, wurde klar, weil der Mann sein Inneres nicht leicht vor dem Geschlechtsgenossen enthüllt, von dem er nur in den seltensten Fällen ein Einfühlen in so schwebende 277 Zustände erwarten kann. Zugleich lösten sich noch andere Rätsel, mit denen diese problematische Natur sich umgeben hatte, und was Edgar später von dem behandelnden Arzt über den Fall erfuhr, legte den Gedanken nahe, daß der Tod vielleicht nicht das schlimmste der Übel war, die ihn bedrohten. Aber wie sinnlos alles Vorausdenken, Abwendenwollen, Plänemachen, wo doch jeden Augenblick die schwarze Kugel heranrollen kann, die alles ins Nichtgewesene verkehrt.

Wenn sich in ein Freundeszerwürfnis das Sterben mischt, so hat immer der Abgeschiedene das bessere Recht. Der Überlebende ist ja noch im Besitz und sieht den anderen um das verkürzt, was immer alles neugestalten und gutmachen kann: das Leben. Und gern vergißt er nun, was von der anderen Seite gefehlt wurde. Wie viele Störungen der Verstorbene auch in das freudige Einverständnis des Zusammenschaffens gebracht, er war doch das Werkzeug gewesen, dessen das Schicksal sich bediente, um mich zu mir selbst zu führen und mein flackerndes Streben zur Stetigkeit zu gewöhnen. War er auch nur wie eine starke Welle in meinem Leben angerauscht und schnell zerronnen, so hatte die Begegnung doch genügt, mein Schiff von der Sandbank, wo es festgefahren war, zu lösen. Es war auch ein tiefes Erbarmen um Schönes und Wertvolles, was zugrunde ging, und um einen Ehrgeiz, der jetzt nicht die kleinste Befriedigung mehr finden konnte. Ich habe mich nachmals lange bemüht – und die einflußreichsten meiner Freunde in Deutschland mit mir, voran mein alter Gönner Friedrich Theodor Vischer, der damals in Kunstsachen das erste Wort hatte, und ebenso sein kunstphilosophischer Antipode Ludwig Pfau –, für das Aquarellenwerk, an dem der Verstorbene mit 278 soviel Eifer gearbeitet hatte, einen Verleger zu finden, was er selber zu meinem Erstaunen versäumt hatte. Es gelang nicht, weil die farbige Vervielfältigung zu kostspielig gewesen wäre, und als gar die photographische Wiedergabe der Originale möglich wurde, war an eine Herausgabe nicht mehr zu denken. So blieb dem Grenzenloses Wollenden sogar der kleinste posthume Erfolg versagt! Mit dem Tode Althofens brach auch das Werk in Stücke, das ich mit soviel Liebe und Ausdauer untermauert hatte. Stöße von Manuskript warteten auf die Fortsetzung, aber die Hand, die den bildnerischen Teil zu gestalten hatte, moderte im Grab. Ich klopfte bei Erwin an, ob er dafür zu haben wäre, an die Stelle des Verstorbenen zu treten. Als guter Bruder, der er war, sagte er zu, aber mit Seufzen, denn der Vorschlag war ihm fremd und erweckte keinen inneren Anteil. Er hatte recht, er war ja kein Graphiker, er war Bildhauer, außerdem hatte er für Geschichtliches so wenig Sinn wie sein Lehrer Hildebrand, wenigstens zu jener Zeit; später hat er die Lücken auf diesem Gebiet durch unermüdliches Lesen ausgefüllt. Nein, das Unternehmen, auf dem meine Hoffnung durch dritthalb Jahre gestanden, war nicht zu retten. Ob es nicht auch ohne das Zeichnerische ginge, diese Frage warf sich mir gar nicht auf, so fest war mir von Anbeginn der Gedanke an den Bildschmuck eingebrannt. Neben dem Grabe, das soviel Begabung und Ehrgeiz verschlungen hatte, lag ein zweites, unsichtbares, in das ich hilflos hinunterstarrte. Der Tod war jetzt überall, denn er war in meinem Werk.

Aber die Hilfe kam; sie kam aus meinem eigenen Inneren. Schon bei den biographischen Entwürfen waren mir 279 ungerufen novellistische Eingebungen durch den Sinn gegangen, die zurückgedrängt werden mußten. Jetzt meldeten sie sich stärker; aus dem Trümmerhaufen drang es wie leises Glockenläuten, aber es waren keine Trauerglocken mehr: die »Florentiner Novellen« brachen ins Leben.

Hier zeigte sich's nun sogleich, daß erfundene Vorgänge und Gestalten meine Feder ganz anders beschwingten als das Weitertasten im Erforschten, dem ich nichts Eigenes hinzubringen durfte; geschichtliche und kulturgeschichtliche Gegebenheiten waren jetzt nur das hochwertige Plasma, um Menschengeschick daraus zu formen; Zeit und Ort gaben einen Rahmen, der wirkungsvoller nicht zu denken war. Und die Modelle samt ihrer Redeweise und ihren Gesten fand ich unter den lebenden Florentinern, die mir jeweils Züge ihres Wesens lassen mußten um die Züge ihrer Vorfahren zu bilden, denn es war das Reizvolle dieser alten, nicht abgerissenen Kultur, daß die menschlichen Typen sich erhalten hatten.

Die Geschichte der lebendig bestatteten und wieder auferstandenen Ginevra degli Amieri, die des Nachts aus dem Dom, aus der Umgebung der mitbeigesetzten Pestleichen flieht und zuerst im Haus ihres Vaters als Gespenst ein tödliches Entsetzen erregt, dann bei dem ungeliebten Gatten die gleiche Abweisung erfährt, bis sie im angstvollen Umherirren ihrem Frühgeliebten, der gleichfalls trostlos umherirrt, ihren Tod bejammernd, in die Arme läuft, und wie nun ein weiser Magistrat wider alles Erwarten die Sache zum guten Ende führt, indem er die vollzogene Todesurkunde für gültig und die Ehe durch den Tod für gelöst erklärt, wonach die Liebenden zum Altar schreiten können, diese alte, in Florenz nie vergessene 280 Überlieferung war mir zuerst durch ein Puppenspiel bekannt geworden, das bei der Derbheit der Aufführung und der Unwahrscheinlichkeit der Handlung sowie auch durch das lebhafte Mitspielen der einfachen Zuschauer eine komische Färbung erhielt. Seit ich aber aus den Annalen von Florenz den wütenden Haß zwischen »Popolanen« und »Granden«, den aufstrebenden Zünften und dem kriegerischen Feudaladel, kannte, verstand ich erst den historischen Hintergrund der Sage und daß der salomonische Spruch des Rates, wodurch ein »Großer« seiner Gattin verlustig ging und der bürgerliche Bewerber sie als Verstorbene davontrug, nichts war als ein freilich groteskes Beispiel der vielen parteilichen Entscheidungen, wodurch damals die stolze städtische Ritterschaft rechtlos und wehrlos gemacht wurde. Die wiederholten, blutig niedergeworfenen Aufstände des Adels gaben Gelegenheit, die Geschicke der Liebenden mit den tragischen Geschicken anderer historischer Häuser zu verflechten, wodurch sich ein reiches Zeitbild gestalten ließ. In den damals noch stehenden Resten der Altstadt, dem kaum betretbaren, weil zum Diebsviertel herabgesunkenen Centro, war auch der Schauplatz der Vorgänge noch erhalten: der alte trutzige Palast der Amieri, um den der Kampf sich verdichtete, das Kirchlein des heiligen Andreas, von mir zum Treffpunkt der Liebenden gemacht, die Loggia degli Agolanti, wo die zwei alten Ritter die unglückliche Verlobung ihrer Kinder anzetteln. Das enge Gäßlein, durch das die erwachte Scheintote den Heimweg gesucht haben soll, heißt noch immer die Via della Morte. Eine weitere Anregung gab die aus dem Dekamerone bekannte Pestzeit, in der die Erzählung spielt, für mich durch die jüngst 281 empfangenen eigenen Eindrücke von einer Seuchenpanik noch mehr verlebendigt, aber auch schon vor Jahren beim ersten Besuch der Uffizien den schaudernden Sinnen eingeprägt durch ein Gemengsel wächserner Leiber, das als eine Art trionfo della morte unter Glas gezeigt wurde. So entstand die »Vermählung der Toten« als erstes Stück der »Florentiner Novellen«. Ich sandte sie an »Kröners« Gartenlaube, wo sie auch bald danach gedruckt erschien. Die Arbeit hatte eingehende Studien über die Pestzeit nötig gemacht, und diese zogen dann eine zweite Novelle über das gleiche Thema »Anno Pestis« nach sich; nur daß diesmal statt des späten Mittelalters die niedergehende Renaissance zum zeitlichen Rahmen gewählt war. Eine geschichtliche Überlieferung lag in diesem Falle nicht vor, außer dem neuen Ausbruch der Seuche. Die Fabel von der betrogenen Frau, die an dem Zerstörer ihres Lebens Rache nimmt, indem sie ihm durch eine Liebesnacht die Pest, von der sie schon ergriffen ist, überträgt, war eigene Erfindung; sie war zum Schlußstein des Ganzen bestimmt und sollte als Gegensatz gegen die noch patriarchalisch gebundenen Zustände in der ersten Erzählung die orgastische Stimmung der Lebensgenießer angesichts des Todes und die wilde Auflösung der sittlichen Begriffe, die auf den sacco di Roma gefolgt war, zum Ausdruck bringen. Zwei Novellen aus den Blütetagen der florentinischen Renaissance hatten zwischen dem Anfangsstück und dem Schlußstück, Aufgang und Niedergang, die Brücke zu spannen. »Anno Pestis« fand keinen so bereiten Willkomm wie die »Vermählung«; man war damals noch äußerst ängstlich auf erotischem Gebiet, es gelang mir aber doch, die kleine Novelle in »Nord und Süd«, der 282 fortschrittlichsten unter den damaligen Zeitschriften großen Stils, unterzubringen. Heyse tadelte die Furchtbarkeit des Stoffes; das konnte aber nur für den Gegenstand, nicht für die Behandlung gelten. Auch vergaß er, daß die zeitgenössischen Novellen des Bandello die Zeit mit ebensolchen Weltuntergangsfarben malen. – Freund Fasola machte später eine vorzügliche Übersetzung von »Anno Pestis«, streng im Stil der Zeit und in dem des Originals, die einzige wahrhaft gelungene Übersetzung aus einem meiner Werke.

Danach ging ich an die »Humanisten«, einen Gegenstand, den ich längst schon liebend und weiterforschend mit mir herumtrug, seitdem ich durch Burckhardt jene von Rom und Hellas trunkenen Apostel des Geistes und der Schönheit kennengelernt hatte, die wie weiland die Kreuzritter zur Eroberung des Heiligen Grabes in die östlichen Lande zogen, um unter tausend Gefahren – friedliche, weichgewohnte Gelehrte die sie waren – die Herrlichkeiten des griechischen Genius für die Menschheit zu retten. Ich ersann mir ein sehr verwickeltes Gespinst um ein verlorenes, nur im Namen erhaltenes Werk des Cicero, sein heiteres liber jocularis, nach dem ich die florentinischen Gelehrten unter teils tragischen teils komischen Umständen mit glühendem Verlangen fahnden ließ, und brachte dieses Fahnden in Beziehung zu dem im Jahre 1482 stattgehabten Besuch des Grafen Eberhard von Württemberg und seines Gefolges am Hofe des Lorenzo Magnifico, weshalb ich die Erzählung ursprünglich »Die Schwaben in Florenz« betiteln wollte. Mit dem angeblichen Fund und der nachfolgenden gänzlichen Vernichtung des berühmten ciceronianischen Kodex führte ich auch den gelehrten 283 Freund Wilhelm Hertz irre, der sich bei mir erkundigte, was es denn mit jener Entdeckung für eine Bewandtnis habe.

Diese Geschichte schrieb ich jedoch nicht in der Arnostadt, im eigenen Villino, das mir längst keine Sicherheit gegen häusliche Störungen mehr bot, sondern in Stuttgart, wo ich mich vorübergehend in einem stillen luftigen Zimmer an der Hölderlinstraße eigens zu diesem Zweck niedergelassen hatte. Es waren köstliche Frühlingstage; der lange nicht gesehene deutsche Lenz mit dem kindlich zarten Grün der Laubbäume und den jungen Fransen der Nadelhölzer setzte mich in einen Rausch der Heimatliebe, und diese Heimat im Geist mit meiner zweiten, der toskanischen, zu verbinden, war mir eine tiefe innere Befriedigung. Das Schwabenland feierte gerade ein dynastisches Fest; zu diesem Anlaß dachte ich mit den »Schwaben in Florenz«, unter denen der gepriesenste Vorfahr des Herrschers obenan stand, dem Lande ein Gastgeschenk von besonderer Art zu bringen, und bot die Erzählung einer großen, in Stuttgart erscheinenden illustrierten Zeitschrift an. Aber die Wege der Schriftleitungen sind unergründlich; ich erhielt das Manuskript, das gerade das zeitgemäßeste war, was sich denken ließ, mit der trockenen Bemerkung zurück, daß der Gegenstand »zu weit abliege, um Interesse zu erwecken«. Nach diesem glanzvollen Fehlschlag versuchte ich es kein zweitesmal, die »Humanisten«, die jetzt ihren richtigen Titel bekamen, in einer Zeitschrift unterzubringen, sondern nahm sie mit mir nach Florenz, wo ich mich nunmehr unabgeschreckt an die letzte der vorgesetzten Aufgaben, den »Heiligen Sebastian«, wagte.

Nach dem Erscheinen der »Florentiner Novellen« wies mein 284 Landsmann Ludwig Laistner in der »Augsburger Allgemeinen Zeitung« mit viel Gelehrsamkeit und Scharfsinn die Herkunft des Motivs dieser Novelle (Liebe zu einem Bild) aus dem Pantschatantra – den ich nicht kannte – nach und verfolgte seine Wanderungen durch die Jahrtausende bis zu seiner Wiedergeburt in meinem »Heiligen Sebastian«. So gelehrt war es in der Wirklichkeit nicht zugegangen; der Stoff war aus dem Leben, und auf dem kürzesten Weg, aus meinem eigenen, geholt. In meinen frühsten florentinischen Jahren, vor der Bekanntschaft mit Althofen, als ich mit dem Wunschbild der großen Griechenkunst im Herzen mich von dem niederländischen Realismus des Quattrocento angefremdet fühlte, war ich bei einsamen Streifen durch die Kunsttempel auf den heiligen Sebastian des Sodoma gestoßen und stand entzückt vor der lange gesuchten Wundererscheinung vereinigter Leibes- und Seelenschönheit. Lange Zeit galten meine Gänge in den Pitti einzig ihm. Der Adel des hinsinkenden, nur von den Stricken aufrecht gehaltenen Körpers, die Schönheit des Gesichts, die mehr einem Engel als einem Menschen zu gehören schien, und der feuchte, nach oben gerichtete Blick, das waren Dinge, die mich nicht losließen, die ich aber ganz still für mich behielt, damit mir nicht irgendein Krittler die Freude an den. Bild verdürbe. Ich konnte mir also leicht eine fromme junge Florentinerin aus den großen Tagen der Kunst vorstellen, die sich in das ebenso schöne Sebastiansbildnis eines von mir erfundenen Malers verliebt. Vertieft wurde diese Vorstellung durch ein liebenswürdiges kleines Erlebnis mit einer jungen, bildhübschen Pflegenonne von den englischen Blue sisters, mit der ich einmal gemeinsam bei einer Frischoperierten 285 meines Bruders, die wir, weil nahe befreundet, als Gast im Hause pflegten, wachte. Die Liebliche erzählte mir in der stillen Nacht unter ihrem Nonnenschleier so recht zutraulich wie ein Backfisch dem andern von ihrer tiefen schwärmerischen Liebe zum heiligen Michael, dem herrlichsten der Erzengel, den sie sich zum Schutzpatron erbeten hatte: He is so very much like a man, you know. Die eingeflochtenen Sonette, die ursprünglich Terzinen waren, hatten gleichfalls zu meinem eigenen Gebrauch gedient, bis ich der Sitte jenes künstlerischen Zeitalters auf die Spur kam, neugeschaffene bewunderte Werke durch angeheftete anonyme Sonette zu feiern. Ich goß also die Terzinen in eine andere Form und gab ihnen die weibliche Hauptperson der Geschichte zur Urheberin. Auch die Bestürzung und ausweichende Scham des Künstlers vor seinem ersten starken Erfolg und vor dem Lob der mediceischen Tafelrunde hatte so etwas wie ein Gleichnis im eigenen damaligen Erleben, da ich sowohl in Deutschland wie in dem Freundeskreis von San Francesco, der an Erlesenheit kaum hinter dem mediceischen zurückstand, auf eine mich überwältigende Weise wegen meiner unterdessen erschienenen Gedichte gefeiert wurde. Und noch eine Parallele hatte ich in die Dichtung gebracht: ich litt von klein auf an einer gegenstandslosen, mir vielleicht schon angeborenen aber durch die Erziehung gesteigerten Gewissensangst: der Furcht, irgendeinmal ahnungslos einen Schritt zu tun, der für einen andern tödliche Folgen haben könnte, oder daß ich Zeugin eines Verbrechens werden müßte, ohne den Mut oder die Möglichkeit, dazwischen zu springen; Ängste, die mir oft genug die Nacht durch furchtbare Träume verdüsterten. Von dieser Zwangsvorstellung entlastete ich 286 mich einigermaßen, indem ich sie in dem unglücklichen Maler vergegenständlichte, der ungewollt seinen schönen, ihm zum Rivalen gewordenen Bruder an die Mörder verrät und unwissentlich der Wegschaffung des Opfers beiwohnt. – Die Worte des großen Lorenzo an den Gramgebeugten: »Vergiß das Vergängliche und freue dich, daß du am Dauernden mitschaffen darfst«, waren die Wiedergabe einer Mahnung, die einmal in dunkler Stunde der immer vorwärts deutende Hildebrand an mich selber gerichtet hatte. So strömte bald da bald dort ein Stück gelebten Lebens mit hinein und umgekehrt erweiterten diese Gebilde durch ihre innere Nähe mir den eigenen Lebensraum.

Den »Florentiner Novellen« war auch äußerlich ein schneller und durchschlagender Erfolg beschieden. Ein unternehmender junger Verleger, der die alte Firma Göschen gekauft und nach Stuttgart verlegt hatte, brachte das Buch heraus und war begeistert von dem glückhaften Griff: am liebsten hätte er gleich einen zweiten Band »Florentiner Novellen« gedruckt. Der Empfang bei der Kritik war der günstigste, man ging sogar von der damals noch weitverbreiteten Gewohnheit ab, jede Besprechung eines Buches aus Frauenfeder mit Erörterung der Frage von dem weiblichen Hirngewicht einzuleiten und günstigen Falls eine ehrenvolle Ausnahme festzustellen. Ich war ja schon im Vorjahr bei der Herausgabe meiner Gedichte mit offenem Visier erschienen, statt mein Geschlecht nach damals noch geübtem Brauch hinter ein männliches Pseudonym zu verstecken, ein Brauch, aus dem bei der verschiedenen Einstellung der Geschlechter sich leicht etwas Hermaphroditisches ergibt, denn der Mann sagt ich, wo die Frau 287 du sagt. Und wie hätte ich den Namen meines Vaters verleugnen können, durch den ich mich zu der strengsten Forderung an mich selbst verpflichtet fühlte.

Als die Freude meines jungen Verlegers und meine eigene auf dem Gipfel war, wurde dem Armen ein kalter Guß Wasser verabreicht. Auf der Königstraße in Stuttgart trat ihn, wie er mir betroffen mitteilte, ein »Herr I.« (den vollen Namen nannte er nicht) mit dem Vorwurf an, wie er so etwas Unmodernes wie die »Florentiner Novellen« habe drucken können; so groß wie sie als Fortsetzung der Tradition seien, so klein seien sie als modern. Der Einwurf machte ihm schwer zu schaffen und zerstörte sichtlich die Hälfte seines Glücks. Er knüpfte die ernstliche Mahnung daran, mich lieber doch zu ändern und von jetzt an in modernem Stil zu schreiben. Ich sagte zu mir selbst: Was ist modern? Das Wort kommt von Mode. Mode ist, was einen Tag glänzt und am nächsten alt wird. Und was ist Stil? Läßt er sich ändern? Mein Stil kommt aus meinem Blutkreislauf und dem Rhythmus meines Lebens. Ich werde ihn wohl behalten müssen, solange ich da bin. Dem Verleger gab ich – in anderer Fassung, versteht sich, – die Antwort Mörikes, als ihn ein Rezensent ermahnte, sich doch ja eine Tendenz zuzulegen, weil es anders nicht ginge: Will mir gleich einen Knopf in mein Sacktuch machen.

Aber im stillen wurmte mich's doch gewaltig, daß mein Sosius, dessen Begeisterung ich für Kunstverständnis gehalten hatte, bei dem ersten Zwischenruf umgefallen war und sich einreden ließ, eine eben herrschende Stilform, die allerdings für die Darstellung von Berliner Hinterhäusern sich als die rechte erwies, könne ebenso auf italienische Fürstenhöfe des 288 Quattro- und Cinquecento angewendet werden. Fiedlers, die sich damals in Florenz aufhielten, trösteten mich, die »Florentiner Novellen« würden noch lange gelesen werden, wenn von »Herrn I.« kein Lied, kein Heldenbuch mehr melden würde. Ich gab nun acht, ob vielleicht am schwäbischen Dichterhimmel ein Gestirn mit dem Anfangsbuchstaben I. aufsteige, entdeckte aber nichts dergleichen, und so schöpfte ich die Hoffnung, daß meine Freunde wohl recht behalten und die Konjunkturpropheten zuschanden werden dürften.

Auch eines Fehlurteils der offiziellen Kritik soll hier gedacht werden, das unzählige Male widerlegt, sich dennoch nicht nur in den Köpfen der Laien, sondern auch in Literaturgeschichten festgesetzt hat. Ich meine das immer wieder einmal auftauchende Mißverständnis, das mich wegen der ähnlichen Stoffwahl eine Schülerin Konrad Ferdinand Meyers nannte, ohne zu beachten, daß ich durch meine florentinische Umgebung, in der ich wie gefangen saß, zu dieser Stoffwahl geradezu gezwungen war. Es half nichts, daß ich auf den großen Unterschied zwischen meinem angeblichen Vorbild und meinem eigenen Wollen hinwies: daß der Schweizer Dichter die Geschichte selber darstellte, während ich die Geschichte nur zum Rahmen für frei erfundene Gestalten und Vorgänge machte, die ich zu der Höhe des Geschichtlichen hinaufsteigerte. Es half auch nichts, daß ich wiederholt versicherte, die Renaissancenovellen C. F. Meyers gar nicht gekannt zu haben, als ich die meinigen schrieb (mit einer einzigen Ausnahme: der »Versuchung des Pescara«, die mir zu kurzem Durchblättern geliehen wurde, als ich schon am Abschluß meiner Sammlung stand). Wie viele auch nach mir zu Renaissancestoffen griffen, 289 keinem wurde Abhängigkeit von dem Schweizer Erzähler nachgesagt, einzig die »Florentiner Novellen«, die so offenbar den Stempel ihrer grundverschiedenen Herkunft wiesen, hatten sich immer aufs neue gegen den Irrtum zu wehren. Ich darf es hier aussprechen: ich war niemands Schülerin, nur immer Schülerin der Natur und des Lebens. Wer dem Wildwuchs meiner Entwicklung gefolgt ist, wird dies ohne weiteres einsehen.

Das Wunderlichste bleibt der Umstand, daß niemand darauf verfiel, der Schweizer und die Schwäbin könnten aus der gleichen Quelle getrunken haben, einer Quelle, die stark und hell vor aller Augen sprudelte, der »Kultur der Renaissance« Jacob Burckhardts. So schwer fällt es der menschlichen Bequemlichkeit, eine aufgegriffene falsche Lehrmeinung selbständig umzudenken. Nicht ein Schweizer Dichter hat die »Florentiner Novellen« beeinflußt, sondern ein Schweizer Denker gab mit seiner Stimmgabel den Ton an, worin für unsere Ohren zum erstenmal die dämonische Größe jener Tage wieder aufklang. – Daß mir Gobineaus »Renaissance« erst viele Jahre später durch einen Freund, der mir das köstliche Buch schenkte, zu Gesicht kam, sei nebenher bemerkt: es erneuerte das alte Bedauern, damals in Tübingen den mir eigens zugedachten Besuch des Verfassers versäumt zu haben.

Höchst eigen und rührend war die Stellung meines guten Mütterleins zu den Geschöpfen meiner Einbildungskraft: sie nahm sie ganz und gar in ihr Herz und verkehrte mit ihnen wie mit lebenden Familiengliedern. So oft sie durch die Via della Vigna nuova ging, sah sie auf der Loggia dei Rucellai, die ihr wie in meiner Erzählung mit gelben Schlingröschen gleich 290 denen unseres Gartens umrankt schien, die schöne Tochter des Hauses stehen, ihren Ritter vom Nordland erwartend. Ebenso zärtlich liebte sie den schönen jungen Kardinal Orsini aus dem »Heiligen Sebastian«, für den ich mir einzelne Züge von dem historischen Kardinal Ippolito de' Medici lieh, den ich später in den »Nächten von Fondi« selber darstellte. So sehr liebte sie diese erfundenen Personen, daß sie sogar in ihre Seele hinein eifersüchtig wurde auf etwaige Nachfolger, die ihnen den Rang streitig machen könnten, und ungern die Bewerbungen verschiedener Verlage um ein neues Buch aus dem gleichen Stoffgebiet sah. Auch mir selber lag es gänzlich ferne, diesen Wünschen Rechnung zu tragen, denn ich wußte wohl, daß ich auf diese Weise zwar buchhändlerisch aber nicht künstlerisch weiterkommen konnte. Vielleicht war es doch eine Welle der Zeitströmung, die mich so weit streifte, daß ich mich gedrungen fühlte, meine nächsten Stoffe unter den Lebenden, den kleinen Leuten zu suchen, aus deren Mund der Naturlaut vernehmlicher klang als aus dem der Gebildeten. So entstand nach und nach der Band »Italienische Erzählungen«, der erst fünf Jahre später erschien als sein Vorgänger, zwar im gleichen Göschenschen Verlag aber nicht bei dem gleichen Verleger, da der seitherige Inhaber überraschend weggestorben war.

 

Daß die »Florentiner Novellen« nicht meine Erstlinge im Buchhandel waren, ist schon gesagt worden: die »Gedichte«gingen ihnen im Erscheinen um ein Jahr, im Entstehen um mehrere Jahre voran – man fertigte damals Bücher nicht mit so wirbelnder Schnelligkeit wie heute. Wenn je die oft von jungen 291 Lyrikern abgegebene Versicherung, ihr Buch sei auf dringenden Wunsch der Freunde gedruckt worden, zutraf, so war es hier der Fall. Meiner Natur widerstrebte die Herausgabe. Nicht nur von dem Hildebrandschen Kreise in Florenz, auch von den mir in Stuttgart und München lebenden Freunden, die ab und zu ein Stück davon zu Gesicht bekommen hatten, wurde mir lebhaft zugesprochen. Aber alles in mir sagte nein; ich brachte es nicht einmal über mich, die Gedichte für die schwarze Hand des Setzers abzuschreiben. Die verwöhnte Frau Mary Fiedler übernahm das Geschäft und schrieb den ganzen späteren Band Stück für Stück mit flüssiger Hand auf Büttenpapier. Es fehlte aber viel, daß er gleich das Licht der Öffentlichkeit hätte erblicken können, es fehlte nichts Geringeres als der Verleger. Wie lange es noch gedauert hat und an wieviel Türen die Freunde geklopft haben, weiß ich nicht mehr, bis es zuletzt doch Adolf Kröner war, der die »Gedichte« zur Betreuung übernahm. Die erste Auflage erschien jedoch nicht unter seinem Namen, sondern unter dem einer Schweizer Firma. Das kam davon, daß sich ein schwarzes Schaf unter der Herde befand, mit dem man sich nicht gerne sehen ließ, das man aber ebensowenig ausstoßen konnte, weil es eine zu erlauchte Gönnerschaft besaß. Ich meine das »Weltgericht«, das mir einmal während einer mehrtägigen Bindehautentzündung, als ich am Lesen und Schreiben verhindert war und mich genötigt sah, mit einem grünen Augenschild einherzugehen, ganz ungerufen in den Schoß fiel. Absichtslos, ohne Plan, von einem unschuldigen Mutwillen eingegeben, der sich's erlaubt, auch einmal wie die mittelalterlichen Mysterien mit den drei höchsten Personen Scherz zu treiben, 292 entstanden die drei Teile des Gedichts – im ersten der Schöpfungsentwurf Gott-Vaters, der durch die professorale Kritik des herbeigerufenen Satans so vergrämt und zornig wird, daß er den Klugschwätzer, von dem er sich außer seinen Denkfehlern schließlich noch den Mangel an Moral vorwerfen lassen muß, kopfüber aus dem Himmel schleudert, sich selber aber für immer von dem fehlgeschaffenen Werk abwendet, – im zweiten die heroische Liebestat des Sohnes, die gleichfalls an der Mangelhaftigkeit des Stoffes scheitert, – im dritten die Anstalten beider, nunmehr die ganze Mißgeburt zu zertrümmern, worüber jedoch der Heilige Geist aus seinem Mittagsschläfchen erwacht, der ihnen mit Hegelscher Weisheit »Ich zeig es euch durch Logik fein, was ist, das muß vernünftig sein« ihr fragwürdiges Werk entschuldigt und sie zur Nachsicht mit seinen Mängeln bekehrt. Das Gedicht spann sich ohne mein Zutun ab, wie von der Sprache selber Vers für Vers vorangetragen, so daß ich am Ende über den Zusammenhang und die scheinbare Abgewogenheit des Ganzen mich selber wunderte. Es erregte im Freundeskreis stürmischen Beifall, ging von Hand zu Hand, wurde in »Nord und Süd« gedruckt, von dem großen Tragöden an der Wiener Hofburg, Joseph Lewinsky, öffentlich vorgetragen und fand in Friedrich Theodor Vischer einen Gönner, der es mit sich in der Tasche trug, um bald da, bald dort ein Stück davon vorzulesen, auch allerlei schnurrige Varianten ersann, die er mir jeweils nach Florenz sandte, und der sogar in der Antwort auf meinen Geburtstagsgruß zu seiner Achtzigjahrfeier, dem letzten seiner Gedichte, noch einmal in meinem »Weltgericht« einhakte.

293 Anderseits waren die »Frommen« – ich meine jene Bürgerlich-Orthodoxen, die in dem höchsten Wesen einen eifersüchtigen, humorlosen, jeden Verstoß gegen das Zeremoniell jähzornig rächenden Gott Zebaoth sahen, – höchlich entrüstet und riefen Zeter über mich, wogegen aber wiederum ein wahrhaft Frommer, der Dichter-Prälat Gerok, der Verfasser der »Palmblätter«, sein gewichtiges Wort in die Schale warf und erklärte, er finde keine Schuld an dem Gedicht. Dem poetischen Gemüt machte der glühende Liebeshymnus des sterbenden Gottessohnes an die Erde, seine süße Braut, den Mutwillen der beiden anderen Teile gut. Das Ja und Nein stand also in gleicher Waage, aber die Vorsicht überwog: die Gedichte erschienen mit anderem Firmennamen in Frauenfeld.

Allein wie es zu gehen pflegt, wenn man allzuviel nach dem Urteil der anderen fragt, also, um mit der Fabel zu reden, »den Esel trägt«, daß sich dann plötzlich einer erhebt und wissen will, warum das Grautier nicht auf eigenen Beinen gehe, so erhob nunmehr der »Staatsanzeiger für Württemberg« seine beherrschende Stimme und fragte, wie es komme, daß ein Buch, das der Heimat zur Ehre hätte gereichen können, in einem ausländischen Verlag habe erscheinen müssen. Man wäre auf den Grund begierig. – Dies hatte die angenehme Folge, daß die nächste Auflage in der Cottaschen Buchhandlung mit Verlagsort Stuttgart, die im Jahre 1888 in den Besitz Adolf Kröners übergegangen war, erscheinen konnte.

Die Wirkung der Gedichte in der Öffentlichkeit war fast noch stärker als ein Jahr später die der »Florentiner Novellen«. Aus allen Pressestimmen ging hervor, daß etwas Überraschendes geschehen sei. Noch zu meinem achtzigsten Geburtstag 294 erinnerte eine berufene Stimme daran, wie die Menschen damals aufhorchten bei dem neuen Ton. Man weiß ja heute gar nicht mehr, daß die Frauenlyrik in jenen Tagen noch gebundener war als das Frauenleben selbst. Aus den Goldschnittbänden damaliger Lyrikerinnen klang das Gefühlsleben des Weibes nur wie das schwache Zirpen eines unflüggen Vogels; stärkere Töne wären als unweiblich verworfen worden. Wer kann sich solche Drosselung heute noch vorstellen, nachdem die Blocksbergorgien entfesselter Weiblichkeit den deutschen Parnaß durchrast haben mit Überbietung aller männlichen Blocksbergsprünge nach der Hexenregel: »Geht es zu des Bösen Haus, / das Weib hat tausend Schritt voraus«. Aber bevor das erdrückte Geschlecht sich mänadenhaft vertobte – Mänaden leider ohne die Weihe ihres Gottes –, hatte eigentlich nur der männliche Dichter das Amt und den Auftrag, weibliches Fühlen, so wie er es verstand, der Welt zu verdolmetschen, und das geschah nach einem angenommenen Kanon falsch verstandener, zuckersüßer Weiblichkeit. Die Frau selber hatte, wie auf allen anderen Gebieten, auch auf diesem ihrem eigensten, zu schweigen. Saß doch auch die große Annette mit dem kühnen Weitblick ihres Geistes wie ein gefesselter Adler auf ihrem Hochsitz, die ganze Glut ihres Frauenherzens ins Religiöse verströmend. Da war es freilich verwunderlich, daß auf einmal Eine kam, die unverfälscht und unschuldig die natürliche Sprache ihres Geschlechtes sprach, ohne den Kanon zu befragen. Wer am meisten aufhorchte und den stärksten Widerhall gab, war die Männerwelt. Theobald Ziegler, der Philosoph an der Straßburger Hochschule, war einer der wärmsten Sprecher; es war wie die Antwort des männlichen Geistes 295 an den weiblichen, nur daß ihm der Fehlschluß mitunterlief, einer so ausgesprochen lyrischen Begabung jede epische Ader abzusprechen, eine Behauptung, die schon im Folgejahr von den »Florentiner Novellen« widerlegt wurde. Ein anderer zugeneigter Gönner legte in der »Ulmer Post« gläubiges Zeugnis für mich ab und trat zugleich in seinem Eifer vorgreifend zwischen mich und den Tadel Philistäas, indem er versicherte, aus bester Quelle zu wissen, daß ich mich nicht nur auf das Dichten verstünde, sondern auch auf Nähen, Sticken, Strümpfeflicken und andere löbliche Verrichtungen, was gewiß sehr gut gemeint, auch einigermaßen richtig war, aber ein wenig komisch wirkte, wennschon sehr bezeichnend für die Zeit. Von nah und fern wo Deutsche wohnten, auch von Übersee, selbst von der Insel Haiti, brachte die Post freudige Zurufe, gereimte und ungereimte Grüße. Die Anthologien stürzten sich auf die Verse, auch in Schulbücher gingen sie über, die Jugend nahm sie mit Liebe auf. Es war eine Zeit reicher Erfüllungen, nur daß die fertigen Dinge schon nicht mehr mein, sondern bereits von mir abgefallen waren, daß es mir schien, als gälten alle die Lobsprüche nicht mir, sondern einer, die eben hinausgegangen wäre. Ich selber aber stünde beschämt mit leeren Händen, weil mir der Vogel entflogen war und nichts übrig das mir allein gehörte.

Es ist eine eigene Sache um lyrische Dichtung, der Maßstab gut und schlecht reicht für sie nicht aus. Viel schlechter als ein schlechtes Gedicht ist ein unnötiges. Jedes Gedicht, das einmal auf Menschenherzen gewirkt hat, ist zuvor schon im Bedürfnis dagewesen; wenn es niemands Bedürfnis war, so ist es besten Falles ein Kunststück. Freilich muß das echte 296 Gedicht aus der Wurzel des Persönlichen gewachsen sein, aber es muß seine Blätter und Blüten weit hinaus in die Lüfte der Allgemeinheit breiten, nur noch durch ein leises Aroma an seinen Ursprung erinnernd. Denn der Dichter muß Sprecher sein für viele, er muß ihnen das Wort, das sie suchen, aus dem Munde nehmen, sie müssen sich in ihm erlöst fühlen. Am schönsten tönte mir der Widerhall aus einem herrlichen englischen Gedicht meines Freundes Grant, worin er meine Lieder als die Sturmvögel besang, die über dem Wogenaufruhr schweben und mit ihren Stimmen den Sturm durchtönen; ich habe es leider bei einem der unzähligen Umzüge meiner späteren Jahre eingebüßt zusamt dem ganzen Pack seiner durchaus bedeutenden Briefe. Ich muß mich anklagen, die Reliquien dieses mich so tiefliebenden Freundes, der sich immer mühte mir hilfreich zu sein, zu wenig sorgsam behütet zu haben. Seinen Manen möge es einen schwachen Dank bedeuten, wenn ich hier aus der Erinnerung seine Übersetzung eines kleinen Liedchens aus meiner Frühzeit, das mit in die Sammlung der »Gedichte« gekommen war, niederlege.

              For thee

What broke sleeps magic sphere asunder,
Where love appears?
Why was my pillow wet, I wonder,
At dawn with tears?

I know not to what picture growing
That dream might be.
I only know, those tears were flowing
For thee, for thee!

297 Was das kleine Lied bei dem Umguß an Einfachheit verlor, das hat es durch das schöne Bild von der magischen Kugel an Schmuck gewonnen.

An dieser Stelle sei eines Unfugs der Lesewelt gedacht, gegen die von je die Dichter, aber vergeblich, sich verwahrt haben. Ich meine die öde Sucht, aus dem Gedicht seinen Wirklichkeitskern herauszubrechen, das was die Poesie aus der irdischen Schwere in überirdische Leichtigkeit, in Glanz und Ton und Rhythmus verwandelt hat, in seinen nunmehr verbrauchten, nicht mehr vorhandenen Rohstoff zurückverwandeln zu wollen, dabei die zärtlichste, verbotenste Stelle des Dichters, wo die Verwandlung vor sich geht, verletzend. War da einmal Wirklichkeit? War es nicht immer Vision? Wen geht es an, wenn der Nächstbeteiligte es nicht mehr weiß? Diese Poesielosen, die sich lieber mit Statistik als mit Dichtung befassen sollten, gleichen sie nicht den Kindern, die ein empfangenes Geschenk besser zu genießen meinen, wenn sie es in seine Teile zerbrechen, um zu sehen, woraus es gemacht ist?

So las ich irgendwo von Byron, daß ihn einmal ein Unberufener nach dem Urbild seiner Thyrza gefügt habe – der schönsten, geliebtesten Gestalt seiner Lieder, die er aus dem frühen Grab in den kristallenen Sarg seiner Dichtung gerettet hat. Und der Dichter, hieß es, sei in fassungslose Erregung geraten – um die tote Geliebte, meinten die Alltäglichen. Nein, nicht um die Geliebte, die längst durch seine Gedichte in ein überirdisches Gebilde verwandelt ist, wovor er in Andacht und seligem Schmerze kniet, wie er vor nichts Irdischem knien kann. Daß sie kommen, das Unberührbare stumpf und täppisch mit Fragen betasten: Wer war sie? Wie hieß sie? 298 Wer die Eltern? Und würde der Dichter sie zur Lady Byron gemacht haben, vorausgesetzt, daß ihre Mitgift ausgereicht hätte, um seine Schulden zu zahlen? Das mußte ihn außer sich bringen – seine Wutanfälle waren ja bekannt, und gewiß war keiner gerechter. Das Äußerste aber, was Seelenroheit vermochte, wurde eines Tages in Tübingen an dem kranken, wehrlosen Hölderlin verübt, als ein Häuflein Studenten bei ihm eindrang und ihn schlankweg nach Diotima fragte. Nach Diotima! Und kein Wunder geschah, um die Zunge des Fragers zu lähmen. Der Unglückliche mußte sich selber schützen; und er fand dafür nur die unerhörte Form, daß er einen gemeinen Dialekt, den er gewiß nie zum Gebrauch gesprochen hat, in dem sich nur die Roheit der Frage spiegelte, zwischen sich und den Frager schob, ihn mit einer Flut von wirrem Unsinn übersprudelnd, um damit die schnöde Neugier aus dem Tempel seines Hyperion hinwegzutreiben.

Sollte nicht um jedes Heiligtum der Dichtung eine »Zone des Schweigens« vorgeschrieben sein wie um das Grab Dantes in Ravenna? Man hat im Lauf des Lebens zu soviel Unleidlichem schweigen gelernt; solche Dinge aber, die immer wiederkehren und gerade die zartesten Herzen aufs tiefste verletzen, müssen einmal gerügt werden.

Ich stand jetzt allein Aug in Auge mit dem unsichtbaren geflügelten Freund und verlangte sonst weiter nichts vom Leben. Er machte mich glücklich und unglücklich, je nachdem es ihm einfiel, wie es ein irdischer Geliebter an seiner Stelle auch getan hätte. Ich nannte ihn meinen »Anderen«. Er war der Helfer und Tröster, der große Leidverwandler, aber er war auch der Eifersüchtige, Vielverlangende, der mich ganz für 299 sich allein wollte. Wenn ich ihn beim Glühen der Esse am stärksten in mir fühlte, kamen Augenblicke, wo die irdische Brust das Glück nicht mehr halten konnte und ich ins Freie stürzen mußte, damit die Fibern nicht rissen. Dann wieder quälte er mich durch seine sich überstürzenden, durcheinandergewürfelten Einfälle, die ich nicht schnell genug zu Papier bringen, entwirren konnte, oder er sandte sie mir zu in Augenblicken, wo ich durchaus verhindert war sie aufzufangen, etwa an einem Reisetag, im Augenblick des Aufbruchs mit Mama, die sich beim Reisen über die Maßen aufzuregen pflegte. Wenn ich aber nur einen Seitenblick auf die Verlockungen des Lebens fallen ließ, so verschwand er. Und alsbald verlosch aller Daseinsglanz, die Sonne ohne ihn war keine Sonne mehr. Erst wenn ich dann genug gedarbt hatte, kam er wieder und bewarf mich mit Blumen. Am wenigsten vertrug er sich mit meinem armen Mütterlein, das ihn doch schon vor meiner Geburt für mich herbeschworen hatte. Er entfloh, wenn sie eintrat. Sie liebte zwar glühend die Gestalten, die ich schuf, und nahm sie wie Enkelkinder an ihr Herz, aber das Werdende zu schonen und zu fördern war ihr nicht gegeben. Wie gut sie die Eingebung, das eigentlich Dichterische mitempfand, so sehr fehlte ihr der Sinn für die Ausgestaltung, für das Handwerkliche, das Ringen um Maß und Einordnung und die letzte Feile. Wenn sie mich ein angefangenes Manuskript verwerfen oder viele Blätter eines laufenden in den Papierkorb wandern sah, weil entweder an einer Stelle die Lösung nicht geglückt war oder weil ein Zuviel nach einer Seite das Gleichgewicht des Ganzen gestört hätte, so klagte sie, daß ich eben niemals fertig würde.

300 Auch die Brütezeit, in der ich einen Stoff in der eigenen Seele vorwärmen mußte, bevor er in der Arbeit zum Schmelzen kam, war ihrer Natur fremd; sie meinte, wenn ich nicht die Feder in der Hand hatte, daß ich jetzt müßig sei und zum Gespräch zu brauchen. Sie selber schüttelte ihre Eingebungen von sich, Gelungenstes und Mißlungenes unbedenklich mischend, weil ihr das Feilen nicht lag und sie ihr Talent zu niedrig einschätzte, um es ernstlich zu pflegen. Zwar hatte sie bei meinem Vater das gleiche Ringen mitangesehen und es ängstlich behütet. Aber er war ein Mann und gehörte dem Werk. Die Frau war immer Frau, Hüterin und Helferin, bei der man Schutz und Schonung sucht, ohne ihr selber solche zu gewähren, denn das war ihr natürliches Amt: wenn sie Manneswerk tat, so mußte es nebenher geschehen, ohne die dem Mann zustehenden Rücksichten und Rechte, und wenn ihr das Wunder gelang, so wurde es von niemand als ein solches angerechnet. Das war allen Geistern so tief eingebrannt, daß keinen einzelnen deshalb ein Vorwurf trifft. Das meiste, was ich in jüngeren Jahren Zusammenhängendes schrieb, ist zwischen Koffern wie auf der Flucht geschaffen. Sobald ich das geliebte mütterliche Haupt in guter Obhut wußte, reiste ich weg, und es war jedesmal ein unbeschreibliches Aufatmen, dem unruhevollen Haushalt entronnen zu sein. Ich wollte dann nichts, gar nichts, als die Gesellschaft des Einen. Stockte einmal die Eingebung doch, so konnte es genügen ins Freie zu gehen, daß sie zurückkam; gelegentlich erhaschte ich auch aus dem Munde Vorübergehender ein Zufallswort, das als Stichwort wirkte und ein fehlendes Motiv erschloß: so fand ich auf der Straße unerwartete Mitarbeiter. Was jener Eine mir war, ist nur in 301 Worten seiner eigenen Sprache auszusprechen, Prosarede vermag es nicht. Es war in einer der schönsten toskanischen Landschaften, daß ich an einem Waldrand sitzend mit dem Blick auf die weite, vom Silberband des Flusses durchzogene Arnoebene und die rauchenden Meiler von Vallombrosa, ihm an aufeinanderfolgenden Tagen ein langes Liebeslied »Immer zu Zweien« sang:

Mich hält der Freund in königlicher Haft
Und Einsamkeit, die keine Schrecken schafft.
Er baut ein Haus mir in kristallnen Räumen,
Von Stimmen tönend und besucht von Träumen,
Malt bunte Scheiben drein mit Künstlerfleiß,
Umtürmt mich rings mit blauem Gletschereis
Und hat mich über all sein Gut gesetzt,
Denn Königin von Traumland bin ich jetzt,
Schmück' mich für ihn mit diamantenen Zinken
Und Perlenschnüren, die wie Tränen blinken.
So lieg ich fest im Liebesnetz versponnen,
Ich merk' es kaum, wenn neu ein Jahr verronnen.
Ich seh' nicht mehr der Bäche trägen Lauf,
Doch jede stärkere Welle schlägt herauf,
Denn unten flutet groß und ernst die See.
—   —   —   —   —   —   —   —   —
Dann sprechen wir von den Versunkenen viel
Und von des Meeres immer gleichem Spiel,
So sitzend bis verbleicht des Tages Schein.
Am Abend laden wir Gesellschaft ein:
Die Besten all von Lebenden und Toten, 302
Der Freundliche hat sie für mich entboten,
Er führt die Gäste festlich angetan
Ins Haus und zündet alle Lampen an. – – –

Kam ich von einer solchen Flucht mit einer neuen Gabe des Freundes, sei es in Versen, sei es in Prosa zurück, so war Mütterleins Jubel unendlich. Mein Zimmer war in einen Blumentempel verwandelt; wenn es die Jahreszeit erlaubte, stand sogar ein Blütenast, dick wie ein Baum, in der Ecke hinter dem kleinen Kanapee. Nach diesem blinzelte ich aber nur mit scheuen Augen: ich wußte, was mich dort erwartete. Die Gastliche pflegte in meiner Abwesenheit junge Menschenwesen von auswärts, die gern ein paar Wochen Florenz genießen wollten, in meinen Räumen zu beherbergen. Waren sie männlichen Geschlechts und gewohnt, spät und nicht mehr ganz helle nach Haus zu kommen, dann lehnten bei meiner Rückkehr zerbrochene Stuhlbeine, abgeschlagene Tischecken und ähnliches an der Wand hinter dem Kanapee: je heftiger es im Zimmer blühte, desto größer wußte ich den Schaden da hinten in der Ecke. Mein Mütterlein nahm solche Gegebenheiten für etwas Unwiderrufliches und glaubte, alles Nötige sei geschehen, wenn die Opfer der gesteigerten Gastfreundschaft den Blicken entzogen waren. Mir blieb die prosaische Aufgabe, den Schreiner zu rufen, den unsichtbaren Freund auf die Seite zu stellen und das erneute Familienleben mit lauter Wiederaufbau zu beginnen.

 

Es ist für einen Autor immer gefährlich, wenn seine Laufbahn mit einem schnellen und durchschlagenden Erfolg, wie es bei 303 den »Florentiner Novellen« der Fall war, anhebt. Entweder durch das dem Menschen innewohnende Trägheitsgesetz, das ihn leicht verleiten kann, auf der mit Glück eingeschlagenen Straße zu bleiben, die je länger er darauf geht, um so bequemer wird, – oder durch das Verlangen der Leser, die ihn nach dem gleichen Trägheitsgesetz auf dem Weg, wo sie ihn zuerst gesehen haben, immer wieder antreffen möchten, ein Verlangen, das der Buchhandel feinhörig aufnimmt und in verlockenden Verlagsangeboten an den Schaffenden weitergibt. Die erstere Versuchung war für mich keine: die »Florentiner Novellen«, die ich aus dem Trümmersturz des zuerst geplanten Werkes heraufgeholt hatte, fortzusetzen, konnte mir nicht einfallen, sie bedeuteten für mich den, wie ich meinte, endgültigen Abschluß einer Lebensspanne. Jetzt kam es darauf an, das Werkzeug selber womit ich schuf zu verbessern. Daß ich dennoch ein halbes Menschenalter später zu den Trümmern umkehren und sie mit besseren Mitteln neu aufbauen würde in der »Stadt des Lebens«, hat mir damals kein Vögelein gesungen, so völlig war ich abgewandt von den Bildern der Vergangenheit. Dafür machte ich nun die Erfahrung, was es auf sich hat, wenn man die gefundene sichere Krippe verläßt und nach ganz neuen Weiden sucht. Ich hatte einmal als junges Mädchen in dem Münchner Dichterkreis Wilhelm Hertz äußern hören, nichts werde dem Dichter schwerer verziehen als Vielseitigkeit. Ein mir unverständliches Wort, denn was könnte, so schien mir, erstrebenswerter sein, als sich nach vielen Richtungen aufgeschlossen und schaffensstark zu erweisen? An den »Italienischen Erzählungen«, die ich zunächst den »Florentiner Novellen« folgen ließ, sollte ich die 304 Wahrheit des Wortes erproben. Indem ich diesmal die Stoffe aus der lebendigen Umwelt holte, zeitlose Vorwürfe, wie sie sich unter einfachen Menschen immerzu ereignen und die nur der Deutung harren, konnte ich unmittelbarer erfassen, was das Menschenherz bewegt. Ich wußte, daß ich damit einen entscheidenden Schritt über die »Florentiner Novellen« hinaus tat und der Gefahr ausgewichen war, den einmal erhaschten Faden nur weiter in die Länge zu spinnen. Die Lebensmächte an sich darstellen ohne blendenden äußeren Rahmen und auch an Geschicken wie denen eines armen Dienstmädchens zeigen, daß es in der Dichtung nicht Hohes und Niederes gibt, wenn nur das Hohe im Niederen kennbar wird und eins wie das andere Symbol ist, das war die Aufgabe, die ich mir dabei stellte. Eigentlich war ich damit einer Forderung der Zeit entgegengekommen; auch gab ich insofern ein grundsätzlich Neues, als die »Italienischen Erzählungen« dem damals noch geübten literarischen Brauch widerstritten, alles Italienische in einen romantischen Nimbus zu kleiden, der dem starken Wirklichkeitssinn dieses Volkes gar nicht entsprach. (Daß gerade solche Darstellungen in Italien selbst gefielen, ändert an diesem Umstande nichts; wer sieht sich nicht gerne einmal phantastisch aufgeschmückt in einem fremden Spiegel!) Aber der innere Fortschritt wurde nicht durch äußeren Erfolg belohnt: das Beharrungsvermögen der Menschen wollte mich lieber an dem Platze finden, wo man mich zu Anfang gesehen hatte. Es war als müßte ich meine Laufbahn von vorn beginnen, so schwer war es, die neue Sammlung im einzelnen wie im ganzen durchzubringen. Der seitherige Inhaber des Göschenschen Verlags war schon vor der Drucklegung weggestorben, 305 und der Nachfolger stellte sich so kühl und geschäftsmäßig zu dem neuen Verlagswerk, daß sich danach die Beziehungen völlig lösten. An der Kritik lag es nicht, wenn der neue Band sich viel langsamer durchsetzte als der erste; die künstlerische Würdigung blieb nicht aus. Richard Weltrich, der sich in die tragische Unschuld meiner armen kleinen Pensa verliebt hatte, stellte diese Liebende in einer großen Münchner Tageszeitung geradezu an die Seite der zartesten Shakespeareschen Mädchengestalten.

Der gleiche Vorgang wiederholte sich bei meinen nachfolgenden Büchern: daß ich immer wieder nach neuen Gegenständen und neuen Lebenskreisen griff, wie es meinem eigenen vielgestaltigen Dasein entsprach, und daß diese sich immer aufs neue bei einer Lesergemeinde einzuführen hatten, die mich an einem früheren Platz erwartete, als wo ich stand.

Einmal im Lauf dieser kämpfereichen Jahre wollte mir ein heller Glücksstern aufstrahlen, der meine Geschicke mit einem Mal hätte wenden können. Daß ich ihm nicht nachging, daß ich ihn ungenützt versinken ließ – war's durch eigene Torheit oder durch Zusammenwirken dämonischer Hemmungen, oder wollte mein Schutzgeist selber mich fern von dem großen literarischen Strom? – ich weiß es nicht und stehe vor einer der Unbegreiflichkeiten meines eigenen Lebens. Der berühmte Tragöde Joseph Lewinsky vom Burgtheater in Wien hatte sich öffentlich mehrfach in Wort und Schrift warm für meine Gedichte eingesetzt – nicht ohne den Mitläufern der damaligen naturalistischen Bewegung Ärgernis zu geben –, weshalb ich mir das Herz nahm, ihm ein Drama zur Prüfung vorzulegen; Lewinsky schrieb – o Wunder! –, daß er das Stück 306 im Burgtheater aufführen wolle; es war ein Gegenwartsstück, um eine Liebesverwicklung aufgebaut und in Venedig spielend. Ich müsse mir's aber gefallen lassen, daß ein übrigens ganz kurzer und nicht streng mit dem Gang der Handlung verwachsener Akt völlig ausgelassen werde, wodurch das Stück an Geschlossenheit gewinnen und bühnenwirksamer werden würde. Heute sehe ich ein, daß ich hätte jubeln und unbedingt ja sagen müssen und die mir mit Wärme entgegengebrachte Gunst eines so mächtigen Gönners über alle anderen Gesichtspunkte setzen. Aber die Forderung ging mir aufs stärkste gegen das Gefühl: der beanstandete Akt – eigentlich konnte man ihn so kaum nennen, denn es war fast nur ein vorüberziehendes Bühnenbild zu symbolhafter und stimmungbereitender Andeutung des Ausgangs – war mir als traumhaft wirkender, das Tatsächliche poetisch untermalender Zug mehr ins Herz gewachsen als das ganze Stück. Natürlich war der alte Bühnenpraktikus im Recht, vor allem wegen des damaligen, ganz auf Wirklichkeit gestellten dramatischen Verfahrens. Ich meinerseits glaubte aber auch nicht im Unrecht zu sein, wenn ich an die Beispiele aus der großen dramatischen Dichtung dachte, wo ein symbolischer Vorgang das rein pragmatische Geschehen vorübergehend begleitet. Und später kam ja eine Zeit, wo überhaupt das strenge dramatische Gefüge gerne in eine Reihe loser Bühnenbilder gelockert wurde. Ich war zu theaterfremd, um zu wissen, daß die Spielleiter auch dem Größten unbedenklich Stücke vom Leib schneiden. Mir lag an der Aufführung gar nichts mehr, wenn eben der Teil, an dem meine Künstlerfreude hing, der gewöhnlichen Spannung zuliebe fallen mußte. Vielleicht hätte ich durch einen weltkundigen 307 Ratgeber zu dem Schritt überredet werden können in Anbetracht der unabsehlichen Möglichkeiten, die sich auftun zu wollen schienen. Aber ich war allein und gewohnt, dem eigenen inneren Antrieb zu folgen. In dieser Klemme faßte ich einen Groll gegen mich selbst, daß ich die vielleicht einmalige Glückslage des vergangenen Winters in München, wo ich für Monate allein mir selbst gehörte und das Theater nach Lust besuchen konnte, nicht besser ausgenützt hatte. Warum meine Muße an einen bürgerlichen Stoff wenden, der, wie Lewinsky richtig urteilte, keine starke dramatische Spannung besaß –, ich hatte ihn sogar zuerst als Roman gedacht und mich nur durch die Nähe des Theaters verleiten lassen, ihn in die Form des Dramas zu gießen. Ich war mir bewußt, daß meine Novellen großenteils einen starken dramatischen Einschlag enthielten. Warum hatte ich nun nicht für den Bühnenversuch einen von vornherein dramatisch gedachten und zugleich einer höheren Ordnung angehörenden Gegenstand gewählt, wie ich deren mehr als einen mit mir herumtrug? Ein geschichtlicher, der schon in sich die dichterische Würde gehabt hätte, durfte es bei der herrschenden Richtung, deren Sterne Ibsen und Sudermann waren, nicht sein, aber da gab es märchenhafte, mit unseren alten Mythen verwachsene, heitere und tragische, mit denen ich zuweilen in ungetrübten Stunden Liebesblicke wechselte. Warum habe ich es nicht mit einem solchen versucht? Ich rang in mir, was ich Lewinsky antworten sollte. Auf seinen Vorschlag einzugehen vermochte ich ebensowenig wie ihm zu schreiben, daß ich lieber auf mein Stück ganz verzichte. Ich erwog in mir, ihm einen völlig neuen Vorschlag zu machen, dem es nicht an Spannung fehlen würde. 308 Dafür aber hätte ich ein paar neue Wintermonate ohne Druck und Zwang wie die des vorigen gebraucht. Und meine Zeit war abgelaufen, innere und äußere Umstände drängten zur Heimkehr. Ich schwankte, was beginnen. Warum ich mich aber durch eine reine Äußerlichkeit, eine militärische Einquartierung, die über Nacht in meine ländliche Einsamkeit eindrang und mich jählings aus meinem stimmungsvollen, mit Sternen wie Gewitternächten gleich vertrauten Turmzimmer in Dachau vertrieb, zur schnelleren Abreise aus Deutschland bestimmen ließ, das hat mir mein Dämonium nachmals nie enthüllen wollen. In der steten Hoffnung, dem Gönner mit einer neuen Tat zu antworten, beging ich damals den größten Fehler, den ich begehen konnte, indem ich gar nicht antwortete. Und das Bewußtsein dieses falschen Verhaltens brachte noch ein Irrationales hinzu, das jede Willensregung nach dieser Seite lähmte. Traurig, daß wir so oft gar nicht selber leben, sondern von den Umständen und unseren Schwächen gelebt werden. Nur die Lehre trug ich davon, daß wenn ich über krasse Unterlassungssünden anderer klagen höre, mein Herz mir sagt, wie sie gelegentlich zustande kommen. 309

 


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