Isolde Kurz
Die Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen
Isolde Kurz

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Drittes Kapitel

Kindesseele und Überwelt

Nah ist
Und schwer zu fassen der Gott,
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.
Hölderlin

Ich weiß nicht, ob mein Vater mit der Art, wie seine Gattin kraft ihrer Zurückeroberung jenes vorzeitlichen Mutterrechts die religiöse Frage für seine Kinder löste, indem sie sie kurzerhand abschnitt, innerlich durchweg einverstanden war. Da ich nie ein Wort darüber von ihm hörte, nehme ich an, er habe auch auf diesem Punkte wie auf allen anderen maßvoller, weniger umstürzend gedacht, aber doch im ganzen grundsätzlich ihre Haltung nicht mißbilligt. Meine Mutter aber, die im Grunde eine tiefreligiöse Natur war, verwarf lange vor Nietzsche, dem Pastorensohn, mit dem gleichen Nachdruck wie er das Christentum, und aus der gleichen Ursache: wegen der Vergewaltigung des Gewissens. Ich habe in meinem »Jugendland« erzählt, wie sie aus Anlaß der ersten Kommunion tagelang verzweifelt umherirrte in Gewissensangst, ob sie nicht 60 etwa den heiligen Leib unwürdig genossen habe, und wie sie, um die gleiche Qual ihren Kindern zu ersparen, diese solange wie möglich von der Bekanntschaft mit den Mysterien des Christentums entfernt hielt, was bei der Tochter, die keine Schule besuchte und außer dem Haus gar keinen Umgang hatte, leicht durchzuführen war.

Das Beispiel meiner Mutter ist mir ein Beweis, daß ganz unduldsamer Glaube und ebensolcher Unglaube nur eine winzige Spanne voneinander wohnen können: es fragt sich bloß, wohin der Wind die Flamme wehen wird. Dieselbe Frau, die ein gelehrter Freund die sancta athea nannte, hätte in sich auch das Zeug zu einer Fanatikerin des Glaubens, ja zu einer christlichen Märtyrerin gehabt. Aber der geistige Wind wehte nach der anderen Seite. Als die damalige Konfirmandin ihrem um vieles jüngeren Schwesterchen Ottilie ihre Zweifelsqualen anvertraute, zeigte sich's, daß das Kind schon durch die gleichen Nöte gegangen und zu demselben Nein gekommen war. Es soll dies nach Josephinens Schilderung ein stilles, sanftes, tiefgründiges Kind gewesen sein und von der Natur zu solcher Frömmigkeit angelegt, daß ihre rührende Erscheinung mir als das Urbild des frommen Estherchens in »Vanadis« vorschwebte. Sie wurzelte im Übersinnlichen und soll auch in ihren letzten Fieberträumen die Stunde ihres Todes vorausgenannt haben. Gleichwohl hatte die Stille, Zarte trotz ihres kindlichen Alters, ebenso wie ihre stürmische ältere Schwester und unbeeinflußt von dieser, das überkommene Dogma abgelehnt. Und was ist denn, um ein äußerstes Beispiel zu nennen, die Gottlosenbewegung in Rußland anderes als die Umkehrung des religiösen Orgiasmus, der diesem Volke eigen 61 war und der in Rasputin zuletzt noch seinen stärksten Ausdruck gefunden hat?

Ich war ein viel zu fürwitziges Kind, als daß ich nicht gesucht hätte, dem was mir vorenthalten wurde, auf anderem Wege nachzugehen. Neun- oder zehnjährig holte ich mir aus Vaters Bücherschrank heimlich die Lutherbibel und verbarg sie in meinem Bett, um darin zu lesen, so oft ich mich unbeobachtet sah. Im Alten Testament hielt ich mich nicht auf, seine harten und oft recht anfechtbaren Gestalten fanden neben der leuchtenden griechischen Mythe keinen Platz; es war wohl der Schutzgeist des unbewachten Kindes, der es so schnell an all den Bedenklichkeiten vorüberführte. Auf der Frühlingswiese des Neuen erging ich mich lieber und wartete, ob der himmlische Gärtner nicht auch zu mir komme. Aber ich hätte wie Semele gewollt, daß der Gott sich mir in seiner Göttlichkeit enthülle, daß er strahlend einhertrete und wie ein Bruder bei meinen anderen geliebten Göttergestalten stehe; und das geschah nicht. Mein Kinderherz war wohl willig, seine Lehre auch so aufzunehmen, allein es wußte nicht wohin damit. Das stete Reden in Gleichnissen befremdete mich und ließ meine Hände leer. Gleichwohl fuhr ich fort, mich als eine angehende Gläubige zu betrachten und nahm mir vor, auf diesem Wege zu beharren. Daß ich es so ganz verstohlen trieb wie eine heimliche Sünde, beklemmte mich zwar einigermaßen, bis ich auf die Mahnung stieß, der Fromme solle seine Frömmigkeit nicht zur Schau tragen, sondern nur ungesehen in seinem Kämmerlein beten. Obgleich dies auf meinen Fall nicht passen konnte, was mir auch leise bewußt war, beschloß ich doch den Wortlaut für gut zu nehmen und mich dabei zu beruhigen. Da 62 befand ich mich eines Tages in einem Kreis von freireligiös erzogenen Kindern, die Gehörtes mißverstehend sich über den Aberglauben der christlichen Lehre lustig machten. Gleich faßte mich ein kleines Rauschteufelchen, daß ich einstimmte und übermütig mit den Wölfen heulen mußte. Als ich mich wieder besann, erkannte ich mich mit Schrecken als eine Verworfene, mein Werben um den Gottmenschen fortan zwecklos und mein Heil für immer verwirkt. Nun wagte ich den Rückweg in die Gefilde des Glaubens, die ich mir selbst verschlossen hatte, gar nicht mehr zu suchen, und nahm mir nur vor, künftig ohne das alles in Tun und Reden ein besserer Mensch zu werden. Vielleicht gab es noch andere Wege, worauf einen das Göttliche finden konnte. Hätte ich in der Passionsgeschichte damals weitergelesen und wäre bis zu Petrus und dem Hahnenkraht gekommen, so würde ich wahrscheinlich aus dem bösen Beispiel des Apostelfürsten mildernde Umstände für mich selber abgeleitet haben. So aber blieb mir ein bitterböser, mich tief beschämender Eindruck haften wie immer, wenn ich mich auf irgendeinem Punkt nicht in Einklang mit mir selber fühlte, und ich nahm jahrelang das Buch der Bücher nicht mehr in die Hand, als ob ich es zum Schauplatz eines Verbrechens gemacht hätte. Aber war es wirklich nur Mangel an Bekennermut? muß ich mich nachträglich fragen. War es nicht auch zum guten Teil jene Scham des Herzens, die mich so oft abhielt, allzu werte Namen auszusprechen und mich lieber andere, unwichtigere vorschieben ließ, nur um nichts mir Heiliges zu entweihen? – Der Knabe Dante, der um die Neugier von seinem Gefühl für Beatrice abzulenken, einer Anderen, Gleichgültigen huldigte, fand bei mir ein offenes Verständnis.

63 Wenn ich es meiner Mutter zuweilen im stillen verargt habe, daß sie auf diesem Punkt wie auf manchem anderen im voraus über mein unmündiges Haupt hinweg für mich entschied, statt mich als Kind das Glück der Glaubensgemeinschaft mit den Altersgenossen kosten zu lassen und hernach meinem gereiften Denken anheimzustellen, was ich davon als wahr annehmen wollte und was nicht, so sehe ich jetzt, nachdem ich mich besser kennengelernt habe, daß sie mich mit meiner erregbaren Phantasie und dem empfindlichen Gewissen vielleicht vor religiösen Wahnvorstellungen oder dauernder Verdüsterung bewahrt hat. Mir will scheinen, daß nur Seelen, die durch den religiösen Alltag abgestumpft sind, an dieser Gefahr sorglos vorübergehen und sich an ihren Konfirmationsgeschenken erfreuen. Christus sprach es aus, er habe das Schwert gebracht und nicht den Frieden, und wahrlich dieses Schwert durchschneidet seit seinem Kommen das Herz der Menschheit. Luther soll – ich weiß nicht mehr wo – gesagt haben, es gebe Seelen, die gar nicht aus dem Fegefeuer herauswollen – ein qualvolles Wort, in dem alle Schauer des Gewissens zittern! Aber diese Schauer sind nur für die Guten, die großen Verbrecher haben ein besseres Ruhekissen.

Keine Religion hat es ihren Bekennern so schwer gemacht wie das Christentum, keine hat ihre Herzen so mit Schwertern zerfleischt. Wie sollte das wehrlose Kinderherz die Nacht in Gethsemane ertragen, die furchtbarste, die je über die Erde gegangen ist, wo dem Gottmenschen der Angstschweiß aus allen Poren bricht, während die Jünger, brave Leute, deren grobirdische Natur dem Schlaf nicht wehren kann, ihn seiner Not allein überlassen. Ich mußte von Jugend auf jeden 64 Verbrecher mit meinen Gedanken zum Richtplatz begleiten – ich tat es bewußt, weil es mir schmählich schien, der eigenen Ruhe zuliebe von dem Menschenbruder, auch dem verworfensten, in der letzten Angst die Augen wegzuwenden. Wie nun diesen so zu wissen! Und der unausdenkbare Augenblick, wo der irdische Zwilling, der dem Göttlichen zur Wohnstatt gedient hat, jetzt in der Marter sein Entweichen fühlt und ihm nachschreit: Warum hast du mich verlassen?

O wie konnte er ihn verlassen? Warum hat er ihm das getan, daß er ihn nicht bis zum Letzten stützte? Oft genug mag sich das in Geschichte und Einzelgeschick wiederholen, daß der stürmende Geist einen Sterblichen ergreift und ihn sich zum Zeugnis an den Abgrund reißt, wo er den Stürzenden grausam allein läßt. – Und Judas, wer denkt an ihn? Seit zweitausend Jahren verflucht die Menschheit den, der am Tage von Golgatha noch gräßlichere Qualen litt als der am Kreuz und dem doch auferlegt war, zu tun was er tat. Immer wieder wirft er den Anstiftern seines Verrats die Silberlinge vor die Füße und hört immer wieder ihr kaltschnäuziges: Da siehe du zu! Ob der Bericht wahr sei oder Sinnbild, das ändert nichts an der Tatsache, daß Judas war und ist und immer sein wird mit seiner Verzweiflung, die tiefer als alle Hölle ist, und daß ihm nicht einmal ein Schwamm mit Essig in seine Hölle hinuntergereicht wurde. Und daß auch der Alliebende dem Unseligsten von allen keinen Tropfen Labsal aus dem Riesenkelch seiner Verzeihung gespendet hat, nachdem er doch selber befohlen hat: Liebet eure Feinde, tuet Gutes denen die euch Böses tun. Warum Er selbst nur dem einen nicht, den die verzweifelte Reue sich zu ihrem eigenen 65 Urbild geprägt hat. O wie rätselhaft begann schon das Erlösungswerk!

Nein, ich danke es doch meiner Mutter, daß sie mich nicht in zarten Jahren diesen Widersprüchen ausgesetzt hat. So lernte ich die herzzerfleischende Lehre von der Passion Christi erst kennen, als ich schon mit den anderen religiösen Vorstellungswelten bekannt war und mir der Urverwandtschaft Aller als Spiegelungen einer und derselben ewigen unerreichbaren Grundwahrheit bewußt geworden. Das Christentum wäre aber schon dadurch vor allen anderen Glaubenskreisen geheiligt, daß seit seinem Bestehen alle Tränen der Menschheit da zusammenfließen. Ob wir uns zu seinen Dogmen bekennen oder nicht, es ist die Kulturluft die wir atmen und die uns allen die nicht zu brechende innere Formung gegeben hat. Christus konnte das blutige Lebensgesetz des Planeten nicht wenden. Er steht nur wie jener erschütternde Kruzifixus über dem Schlachtfeld, dem sie das stützende Kreuz im Rücken weggeschossen haben und der doch noch immer die gemarterten Arme ausgespannt hält, damit sich alle Not und Verzweiflung da hineinstürzen kann. Aus uralter östlicher Weisheit raunt eine Verkündigung herüber, daß der Lichtgeist mit jedem neuen Weltalter wiederkommen müsse um das Erlösungswerk ein Stück vorwärts zu tragen. Möge er bei seiner nächsten Kunft sich vor allem derer erinnern, die schwerer als der Mensch und unschuldiger als er an dem ersten Schöpfungsfehler leiden. Wer ohne den Stab der Überlieferung, die für mich abgerissen war, allein die Suche antritt aus Wust und Zorn und Gram der Welt nach dem liebeglühenden Gottesherzen, der fühlt wohl an dem zunehmenden Erwarmen des 66 eigenen, daß er ihm schrittweise näherkommt. Aber zugleich mit der wachsenden Liebe zu allem Geschaffenen wächst die Verzweiflung darüber, daß alles, was Tierleib trägt, zu der grausigen Marter der gegenseitigen Zerfleischung geschaffen ist, und daß wir selbst, wie wir auch zu schonen suchen, doch immer irgendwie aus der Vertilgung von Leben unser Leben ziehen. Solange aber der Mensch den Bruder Ochs mordet um sich an ihm zu sättigen, solange mordet er auch den Menschenbruder um anderer Gelüste willen, und solange bleibt die Erlösung ein schöner Traum. Vor diesem fürchterlichen, unlöslichen Zwiespalt legt der Wanderer zu Gott ratlos seinen Stab nieder.

 

Wenn es auch meinen kindischen Bemühungen nicht gelingen konnte, den Gottmenschen, nach dem ich suchte, zu finden, so fand ich dafür die Anlehnung an das Höhere in der Dichtung. Wir Kinder hatten an unsern Eltern das höchste Beispiel vor Augen, aber eine eigentliche ethische Unterweisung als abstrakte Lehre gab es für uns nicht, sie lag nur gleichsam in der Luft. Auch die zehn Gebote lernte ich erst kennen, als Alfred sie seltsam mißverstanden aus der Schule mitbrachte. Und doch bedarf die junge, suchende Seele einer Formgebung im Wort, wodurch das Erfühlte Körper wird. Dieses Bedürfnis befriedigten mir in der Kindheit die Gedichte Schillers. Nicht die »Glocke«, gegen die ich trotz meiner Abkunft aus der Glockengießerzunft eine unbesiegliche Abneigung hatte als allzu bürgerlich und verstandesmäßig, sondern seine philosophischen Gedichte, vor allem »Das Ideal und das Leben«, dieses von allen Schillerschen Gedichten mit der größten Flugkraft 67 ausgerüstete, dessen Dunkelheit mich ebenso andächtig stimmte wie mich sein Schwung mit emporriß. Ich entdeckte es für mich allein und bewahrte es als mein Geheimnis, wie alles was ich liebte. Ich trat da in eine von Silbertönen schimmernde Seelenlandschaft, worin sich die vielgeliebten Gebilde des griechischen Mythos vertraut aber feierlicher als sonst bewegen. Daß »oben in des Lichtes Fluren göttlich unter Göttern die Gestalt« wandelt, machte mich reich und selig. Ich wußte zwar nicht, wer die Gestalt war, aber das brauchte es nicht, sie war da, sie gab Gewißheit, und man mußte vor ihren stillen Augen bestehen können. Daß man »die Angst des Irdischen« (wie schwer wog dieses Wort für mich!) von sich tun und »hoch auf ihren Flügeln« schweben konnte, bewirkte in mir eine Art innerer Levitation. Ich begreife es, wenn Religion ihre heiligen Handlungen in eine Sprache kleidet, die der Gemeinde dem Wortlaut nach dunkel und nur dem Gefühl erreichbar ist. So wurde Schiller – Herakles, als der er sich selbst am Schluß in der Verklärung enthüllt, gewissermaßen der geistliche Führer meiner ersten Jugend. Seine Verse hoben und trugen mich durch ihren Rhythmus und durch die bloße Folge heller und dunkler Vokale. Daß ich mich danach mit meinen poetischen Kinderversuchen an ihn, an seine griechischen Balladen zu lehnen suchte, versteht sich von selbst. Ein von meinem begeisterten Mütterlein höchst geschätztes Bemühen, das sie bald selber zunichte machte, indem sie dem scheuen Kind seine Heimlichkeiten wegnahm und unter die Leute brachte, damit den voreiligen Trieb ertötend, was ihr zum Schmerz, mir aber gewiß zum Heile war. Goethe – Prometheus, ein Prometheus ohne Geier, wie ich mit dem 68 ganzen ehemaligen Deutschland meinte, trat erst für die Erwachsene auf den Plan, die erkannte, daß Erhabenheit auch außerhalb der erhabenen Töne wohnen kann. Daß er ebenso seinen Geier hatte wie jeder große Deutsche, den Geier des Unverstandenseins, das freilich blieb erst der selbständigen Einsicht der reifsten Jahre vorbehalten. Denn unsere Großen müssen immer wieder von der Nation verkannt sein, damit sie von den nachwachsenden Geschlechtern jeweils auf einer höheren Erkenntnisstufe neu erstiegen werden.

 

Das Leben dieses seltsamen Kindes und jungen Mädchens kann nicht verstanden werden, wenn man es nicht auf der Grundlage des vereinigten Griechen- und Germanentums liest, dessen Doppelmythos als dauerndes Wunderzeichen an meinem Jugendhimmel stand. Aus den Schicksalen meiner schönen, frühsterbenden Lieblingshelden, Achill und Siegfried, besonders des ersteren, des Halbgottes, der mit seinem unvergleichlich höheren Leben den Sieg der geringeren Waffengefährten erkauft, wußte ich schon als Kind, daß das Leben an sich tragisch ist, daß das Schöne kein Recht auf Dauer hat und das Große dem Gemeinen (das Wort im Sinne unserer Klassiker genommen) den Platz räumen muß. Aber ich wußte auch oder fühlte es, daß es eben der Sieg des Höheren ist, was durch seinen Untergang erkauft wird. Die Küste von Troja kannte ich, bevor ich noch eine ganze Straßenlänge über unseren Obstgarten in Obereßlingen hinausgekommen war, und im Heranwachsen lernte ich bald auch die Trümmerhaufen der Eddalieder kennen. Meine tiefste und dauerndste Liebe aber blieb für immer dem Sohne der Thetis, der dem 69 Wälsungensproß in eben dem überlegen ist, was wir geneigt sind, als unser besonderes Erbteil in Anspruch zu nehmen: der Treue und Wahrheit. Denn Siegfried, der in trunkener Jugendkraft nur sich selber sieht und kennt, verrät nicht nur die ebenbürtige Braut aus Götterstamm, er zwingt sie auch durch Betrug und Gewalt in die Arme des ihrer unwürdigen Mannes, um durch ihr Elend sein armseliges Stückchen Glück zu erkaufen. So ist sein Ende durch Sippenverrat wohl der Untergang heldischer Herrlichkeit, er ist zugleich aber gerechte Sühne eines Frevels, wie er ruchloser nicht vom Mann am Weibe begangen worden ist. Wenn Hebbel findet, daß durch diese Meucheltat »der alte Kampf ums Vorrecht (der Geschlechter) ausgekämpft« sei, so bleibe ihm diese Genugtuung überlassen. »Vorrecht«, ein armes Wort angewandt auf die tragische Verwicklung zweier Mächte, die nur in gleichschwebender Waage ihr höheres Sein erfüllen können. Es ist eine unausgesprochene, vielleicht noch nirgends beachtete Feinheit in der Siegfriedmythe, daß der Held aus der Ehe mit Gunthers Schwester nicht den Heldensohn gewinnt, den er aus Götterstamm hätte zeugen müssen, und ihm nur eine Tochter hinterbleibt, die, gleichfalls durch Sippenverrat, zu schaurigem Ende bestimmt ist. Aus dem mythischen Stamm des Achill dagegen erwuchs durch die zeugende Kraft des Ideals der historische Alexander.

Mit Trug und Hinterlist hat der Sohn der Meergöttin und Enkel des Zeus nichts zu schaffen: verhaßt ist ihm »wie die Pforte des Aïs, wer ein anderes spricht und ein andres im Busen beweget«. Der Unbesiegbare, der mit seiner Person allein das ganze Heer der Griechen aufwiegt, kämpft auch 70 nicht für sich, ihn treibt weder Gewinnsucht noch Ruhmgier, nur das Gefühl der Ehre. Er hat sich der Sache der Griechen verschworen, die ihn im Grunde nichts angeht, weil er ja gar nicht unter den Freiern der Helena war, und er kämpft für sie, obgleich er weiß, daß ihr Sieg nur durch seinen frühen Tod erkauft werden kann. Sein Leben und Sterben sind eine Darbringung: mit dieser Ausstrahlung des Göttlichen tritt uns der todgeweihte Halbgott schon bei seinem ersten Erscheinen entgegen. Und ob er im Zelt die Herolde empfängt, die kommen ihm die Brysëis wegzuführen – wer könnte sie ihm entreißen, hätte er nicht gelobt sich selber zu bezähmen! –, oder ob er weinend am Gestade sitzt, die göttliche Mutter anrufend in seinem Leid –, immer ist es um ihn wie eine leise schmelzende Musik, die alle seine Bewegungen begleitet. Wogegen um seinen germanischen Zwillingsbruder nur immer wieder die Jagdfanfaren der ungebändigten Jugendlust ertönen. Aber endlich, wenn das Maß voll ist, der geliebteste Mensch erschlagen liegt und Verzweiflung den Helden aufreißt, dann ist er nicht mehr Mensch, dann ist er Naturgewalt, ist uferlos, ist das Rasen seines mütterlichen Elementes selbst, das die Ebene von Troja mit Leichen überschwemmt, dann verfolgt er seine Feinde noch in das Bette des aufbrausenden Stromgottes wie das Meer, wenn es seine Flut stromaufwärts jagt.

Den ganzen homerischen Mythos umwogt das Meer als seine natürliche Begleitung; es singt vernehmlich mit seinem Anrauschen und Zurückwogen im Rhythmus des Hexameters, der auch seine tiefste Bedeutung verliert, wenn er auf binnenländische Gegenstände angewendet wird. Für das homerische 71 Epos eine andere Form zu suchen, ist darum ein unbegreiflich falsches Beginnen, seit der Hexameter durch das Ringen unserer größten Dichter der deutschen Sprache gewonnen ist, die dadurch allein vor allen anderen den Schlüssel zu dem heroischen Stil der Alten empfing. Wir sollen uns darum des philologischen Bedenkens ganz entschlagen, daß wir nicht wissen, wie der griechische Hexameter dem Ohr der Griechen geklungen hat: sicher ist, daß er für sie wie für uns den Rhythmus des Meeres in sich trug. – Die naturgegebene Form der Eddalieder dagegen ist der Stabreim, den ich auch schon als Kind liebte und mich so gerne von ihm auf seine kurzstoßenden Flügel nehmen ließ, wenn das Falkenhemd der Freya schwirrte, die Drachenschiffe der Nordlandsrecken aufeinanderprallten oder die Schildjungfrau ihren Erwecker, der sie später so schmählich betrog, Heilsegen und Siegsrunen lehrte.

Das traurig schöne Wissen um die höheren Lose, das mit dem Kinde ging und es innerlich noch einsamer machte, als es durch Geburtsstunde und Erziehung war, hatte in diesen Eindrücken seinen Ausgangspunkt. Aber es bedrückte sie nicht. Sie trug die Überzeugung in sich, daß es so sein mußte und daß es so schön war. Es zog mich, so frühe den Tod als etwas schmerzlich Herrliches anzublicken, und vielleicht war es mein vieles Denken an ihn, was ihn selber anzog, mir späterhin so oft in den Weg zu treten. In dem Gedicht »Aus der Kindheit«, in dem ich mir zuerst Rechenschaft ablegte, sind diese frühen Eindrücke in die Form geronnen:

– – O da erkannt' ich jene Mächte,
Vor denen Götter hilflos stehn, 72
Wenn sie für ihre alten Rechte
Das wilde Opferfest begehn.
Nicht blinde Wahl trifft eins von allen,
Das Haupt nur das am hellsten strahlt,
Das höchste muß, das schönste fallen,
Dann hat es für den Schwarm gezahlt.
Dann winkt der Sieg – – –

Und dann die Apotheose:

Nun aber treten sie heran,
Die seitwärts kummervoll gestanden,
Als sie den Liebling fallen sahn,
Und in ambrosischen Gewanden
Soll ihn von Götterhand die Glut empfah'n.
Dort bei den Schiffen, siebzehn Nächt' und Tage,
Bevor die Flamme sein Gebein gebleicht,
Schafft ihm der Menschen und der Götter Klage
Den Ruhm, dem keiner in der Zukunft gleicht.
Da ward mein Auge sehend – – –

Wer bezweifeln wollte, daß ein so kleines Kind so große Dinge erfaßt habe, dem müßte ich antworten, daß unsere Innenwelt mit uns geboren ist, und daß das Kind, bevor es mit der Sprache richtig denken lernt, schon lange mit dem Herzen gedacht hat. Denn das Kind ist noch kein empirischer Mensch, es hängt ihm noch ein Stück von dem Übersinnlichen an, aus dem wir stammen. 73

 


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