Isolde Kurz
Die Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen
Isolde Kurz

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Elftes Kapitel

Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen

Zwischen dem Erscheinen der »Florentiner Novellen« und dem der »Italienischen Erzählungen« lagen fünf volle Jahre. Ich möchte sie gerne in irgendeiner Felsenkluft verschlafen haben, daß ich nichts mehr von ihnen zu wissen brauchte; aber dafür war die Krise zu lang und zu verhängnisvoll.

Der bange Spuk meines Daseins, daß mir stets aufs neue der Lebens- und Arbeitsraum streitig gemacht wurde, hatte durch die plötzliche Heirat Edgars eine äußerste Steigerung erfahren. Er war ja von Natur Junggeselle und länger als seine jüngeren Brüder in diesem Stande geblieben. Aber seine reiche Persönlichkeit zog die Frauen mächtig an, und Leidenschaften, die er erweckte, hatten um seine ganze Jugend eine Sturmzone gelegt, aus der heraus er sich endlich nach Ruhe sehnte; in einer deutschen Ehe hoffte er sie am ehesten zu finden. Jedoch kein Glücksstern wachte, als er auf den Rat wohlmeinender aber seelenunkundiger Freunde in der Heimat die Augen auf eine junge Landsmännin warf und nach einer Bekanntschaft von nur wenigen Wochen das feingesichtige Steinbild Rosa 310 mit den leeren weißen Augen ins Haus führte. Von einer weisen Frau und echten Dichterin, Marie von Ebner-Eschenbach, stammt der ewig gültige Ausspruch, daß es nichts Unvernünftigeres gebe als eine Vernunftheirat. Edgar hatte von seiner Ehe nichts gefordert als Frieden und häusliches Gestilltsein von der Unruhe, die ihn verzehrte. Allein er war bei seinem Idealismus kein Menschen- oder gar Frauenkenner und erlag wie so mancher andere dem unfaßbaren Wahn jener Tage, nach der Innenwelt der Frau nicht zu fragen, wenn nur das Äußere befriedigte, als ob diese Innenwelt in der des Mannes, sobald sie nur erst seinen Namen trug, restlos aufgelöst würde. Im letzten Augenblick vor dem verhängnisvollen Schritt muß ihn noch ein warnendes Blitzlicht getroffen haben, denn er fragte den Bekannten, der die Anstalten besorgte, ob es kein Zurück mehr gebe. Allein die Familie der Braut hatte ihn schon, bevor er sich dessen versah, mit gesellschaftlichen Stricken gebunden; er konnte sich nicht mehr lösen, ohne das Mädchen vor der Welt bloßzustellen. Die Ritterlichkeit siegte: als ich von einer Reise zurückkehrte, auf der er mir eben erst brieflich seine Verlobung mitgeteilt hatte, fand ich ihn zu Hause schon als Ehemann. Er hatte mir seine Braut als ein schmiegsames, anspruchsloses Wesen geschildert, das aber in der geistigen Entwicklung nicht weiter sei als eine Vierzehnjährige, weshalb er alles von meinem Einfluß erhoffe. Von diesem Charakterbild stimmte allein der Punkt, der sich auf das Geistige bezog, nur daß auch kein höheres Bedürfnis vorhanden oder zu erwecken war. Sie hatte die schön geschnittenen Züge einer griechischen Gemme, aber es fehlte ihrer Jugend alles Frische, Blühende, und man sah nicht gern auf den 311 Grund ihrer Augen. Ich erschrak vor dem Strom von Kaltluft, der von ihr ausging und der mir die bedrückte Stimmung, die ich im Hause vorfand, erklärte. Nicht umsonst war eine alte Patientin meines Bruders, die ihren Arzt zärtlich liebte, beim Anblick des Steinbilds in Tränen ausgebrochen. Das innere Zurückweichen war gegenseitig, man konnte nur hoffen, sich nebeneinander einzurichten. Aber bevor ich kam, hatten schon die Dämonen ihr Werk begonnen: dem unerfahrenen Wesen war der leibhaftige Geist der Zwietracht in Gestalt ihrer eigenen Mutter nachgefolgt, in deren verbitterndem Treiben damals niemand die schwere, viel zu spät erkannte seelische Erkrankung ahnte, so daß sie gleich in die ersten Ehetage hinein ungestört nach beiden Seiten Mißtrauen und Unfrieden säen konnte.

Nach der mir mitgeteilten Verabredung sollte durch die Heirat an den häuslichen Verhältnissen nichts geändert werden und mir, wie sich's versteht, meine Rechte vollauf gewahrt bleiben. In seiner stolzen Unbekümmertheit hatte Edgar die Frau genommen, wie sie ging und stand, ohne nach dem Wirtschaftlichen zu fragen. Er hatte aber nicht bedacht, daß die Gründung einer neuen Familie und das Zusammenleben mit der alten in dem durch ungeschickte Raumverteilung beengten Hause, das ohnehin größtenteils durch seine Praxis belegt war, sich nicht ohne ständige Opfer von der einen Seite und Reibungen von der anderen durchführen ließen. Vor allem sah er auch gar nicht, wie sehr ich schon bei dem Hauskauf im Nachteil gewesen war, weil ich mich nie über Unwiderrufliches beklagte, wie es auch stets undenkbar geschienen hätte, innerhalb der Familie über das Mein und Dein zu verhandeln. In 312 Italien ist es vielfach üblich, daß die Neuvermählte, die in einen geschlossenen Familienkreis eintritt, nicht Herrin sondern Tochter vom Hause wird; vererbtes Brauchtum legt in solchen Fällen seine bestimmten Gesetze auf. Ein ähnlicher, auf deutsche Begriffe nicht übertragbarer Zustand mochte Edgar vorgeschwebt haben, als er in meiner Abwesenheit und ohne vorgängige Abgrenzung der Befugnisse eine Lage schuf, in der nur Engel einträchtig hausen können, wo aber unter Menschen jederzeit die stofflichere Natur obsiegt. Nichts war naheliegender – aber zugleich von ihm unvorgesehener –, als daß diese mit der natürlichen Selbstsucht der Primitiven vor allem daran ging, sich auf meine Kosten Raum und Bequemlichkeit zu schaffen, während ich mich bestrebte, sie in nichts zu beengen und wenigstens häusliche Zusammenstöße zu vermeiden. Aber ich befand mich auf einer gleitenden Ebene.

Zunächst – und dies ließ sich wegen der gemeinsamen Küche gar nicht umgehen – war mir der einzige wertvolle Raum des Untergeschosses, das erhöhte Gartensälchen, als Speisezimmer für das junge Paar abgenommen worden. Das war während meines Fortseins belanglos, denn Mama bestritt ihre Ernährung mit einem Schälchen Milch, die sie sich auf Spiritus kochte, und einer Semmel. Aber jetzt, da man sich wieder einrichtete, mußte das Essen für uns beide bei jedem Wetter durch den Garten in mein kleines Studierzimmer getragen werden, was mich bald bewog, die Hauptmahlzeit auswärts zu nehmen. Eine Bedienung kam auch nicht mehr in Frage. Auf ihrer letzten Reise nach Deutschland hatte Mama, bei deren Nachsicht alle italienischen Dienstboten ausarteten, ein junges Mädchen aus bürgerlicher Familie geworben, daß sie 313 ihr die Hausgeschäfte abnehme; aber als diese ankam, stand sie nicht mehr der gütigen Nonna, bei der sie eine haustöchterliche Stellung gefunden hätte, sondern ausgesucht einer früheren Schulkameradin, die aus dem gleichen Ort und den gleichen Verhältnissen stammte, als der neuen Herrin gegenüber, eine Prüfung auch für diese, worin nur reinste Herzensgüte den rechten Ton gefunden hätte. Aber die Neuangekommene bekam den jetzigen Abstand so zu fühlen, daß die arme Nonna täglich Ströme von Tränen trocknen mußte, bis es ihr gelang, ihren Schützling in einem italienischen Hause unterzubringen, wo keine Erinnerung ihr täglich die Ungleichheit der Lose vorhielt. Hätte ich nur ebenso schnell mein Verhältnis zu dem Hause lösen können, das mir noch mitgehörte, aber von Tag zu Tage weniger mein war. Zwar das Sälchen konnte ich in der Zeit zwischen den Mahlzeiten noch benützen, aber nur als Halbgeduldete, und wenn ich Gäste da empfing, durfte ich auf jede peinliche Störung gefaßt sein. Der große Saal, der mich zu dem Kauf mit verlockt hatte, glitt von selbst in den Besitz des anderen Teiles, weil ich ihn ja doch nicht einrichten konnte; bei den geselligen Veranstaltungen, denen er nun diente, hatte und begehrte ich keinen Platz. Gerne hätte ich der neuen Hausgenossin die äußeren Vorteile überlassen, wäre nur nicht das Huschen und Horchen gewesen, wodurch die ganze Luft verändert wurde, und vor allem das krampfhafte, zum Teil auf Wahnideen beruhende Ausstreuen falscher Bezichtigungen, wodurch ich auch alten Freunden entfremdet und mehr und mehr abgeschnürt werden sollte. Dem Arzt, der immerzu die schwersten Verantwortungen trug, weil er vorzugsweise dahin gerufen wurde, wo alle andern versagten, war 314 es zu gönnen, daß er als Mann gar keine Organe besaß, durch die er diese unvorstellbar kleinlichen Mittel hätte wahrnehmen können.

Ich weiß nicht, ob mein Bruder jemals versucht hat, bildnerisch auf die Gefährtin seines Lebens einzuwirken, jedenfalls gab er es in Bälde auf. Auch Florenz mit allen seinen Schätzen hatte ihr nichts zu bieten, als daß sie ihren Geschmack für künstlerische Ausstattung von Innenräumen entwickelte und sich mit brennendem Ehrgeiz darauf warf, es auf diesem Punkt den Künstlerhäusern, vorab dem Hildebrandschen, gleichzutun. Aber als die Tische auf Löwenfüßen standen und die Wände eine edle Stoffbespannung trugen, blieb doch das alles kalt und tot, und die arme Seele konnte nur in immer neuem Umstellen und Umgestalten ihrer Sachen einiges Genüge finden. Auch daß sie Mutter eines schönen begabten Mädelchens war, half ihr nicht tiefere Wurzeln schlagen, gab ihr aber große Macht über das zärtliche Vaterherz. Es war rührend, wie der alte Egozentriker und geborene Junggeselle sich bemühte, ein guter Gatte und Vater zu sein. Er sparte, ging wieder zu Fuß oder benützte ein Fahrrad und schränkte seine persönlichen Bedürfnisse ein, um seinen Lieben alle Wünsche zu gewähren. Aber kein Funke sprang ihm entgegen. Was half es nun, daß er »selber Seele genung« hatte, wenn er in der Teilhaberin seines Lebens keine erwecken konnte. Es schnitt allen, die ihn liebten, ins Herz, daß der hochfliegende Geist an diese Luftschicht gebunden war. Aber lebte er wirklich in dieser Luftschicht? Bei Tische saßen sich die beiden stumm gegenüber, weil er in sein Merkbuch wissenschaftliche Eintragungen machte. Sonst verbrachte er den Tag in seinem 315 Beruf. Was ihm die Ehe versagte, fand er nach wie vor bei der Freundschaft: der italienische Kollege brachte ihm all das Eingehen und die wärmende Aufmerksamkeit entgegen, die dem Liebebedürftigen in seinem eigenen Hausstand mangelten. Ein kleines Begebnis aus der Poliambulanz, der gemeinsamen Gründung der beiden Ärzte, ist für diese ständige Fürsorge so bezeichnend, daß es hier als heiteres Zwischenspiel unter all den Trübnissen seinen Platz finden möge. Eines Tages, als Edgar sich zu einer verantwortungsvollen Operation anschickte, wurde auf der Piazza Santa Trinita gerade unter den Fenstern der Poliambulanz ein Wagen voll schwerer Steine abgeladen, und eine Anzahl städtischer Arbeiter schickte sich an, das Pflaster aufzureißen. Dem nervösen Edgar traten die Augen aus dem Kopf. Aber Vanzetti meinte: Das wollen wir gleich haben, stieg die Treppe hinunter und rief: Was macht ihr denn da, Leute, wozu der Lärm? Die Arbeiter entschuldigten sich, sie seien vom Municipium geschickt, um das Pflaster zu erneuern. Aber doch nicht hier, antwortete Vanzetti, ihr seid im Irrtum. In der Via Fiesolana, Nummer soundso (er nannte eine der abgelegensten), da seid ihr erwartet. Die Arbeiter ließen sich überzeugen, luden ihre Steine wieder auf und zogen unter vielen Entschuldigungen wegen der Störung ab. Bevor die Gefoppten zurück sein konnten, war die Operation fertig, der Kranke verbunden und die ärztlichen Nerven beruhigt.

Ich besaß jetzt von meiner ganzen Gartenfront nur noch das ebenerdige kleine Doppelzimmer dem Granatbaum gegenüber. Dieses war zum Arbeiten nie sonderlich bequem gewesen; man mußte den Schreibtisch an die Glastür rücken des Lichtes 316 wegen, und dann wurde man vom Garten aus gesehen. Auch brach dort zu einer bestimmten Tageszeit in meine Stille das Donnergetös eines im Keller gerade unter mir befindlichen Pumpwerks, mittelst dessen das zum Haushalt nötige Wasser in ein großes Becken gepumpt wurde, denn eine Wasserleitung im Hause, das gab es zur Zeit in Florenz noch nicht. Dieses Pumpwerk hatte mich schon, während ich an dem »Heiligen Sebastian« schrieb, in die über dem Stall gelegene leere Kammer des unterdessen entlassenen Kutschers getrieben, die auf einer Leiter erstiegen werden mußte und wenig mehr als ein Bretterverschlag war. Aber auch diese Kammer war mittlerweile in einen Umbau einbezogen worden, durch den der Schlafraum der jungen Frau in dem oberen Stockwerk erweitert wurde. Nichtsdestoweniger verfiel kindische Grausamkeit auf ein Mittel, mir auch das Doppelzimmerchen zu verleiden, indem sie sich während meiner Arbeitsstunden vor meine Glastür setzte und mit ihrer Dienstmagd laute Zwiesprache pflog. Mama zuliebe sah ich nochmals durch die Finger und verlegte meinen Schwerpunkt von der Gartenfront weg nach der Seitenfront des Hauses, die auf die enge, staubige, von Lärm dröhnende Arbeitsstraße ging. Aber das Mißtrauen der kranken Seele gegen die heile, der Groll des ungeistigen Menschen gegen den geistigen war nicht einzuschläfern. Denn es glomm da ein von mütterlicher Seite ererbter wirrer Funke, der bei ihr lebenslang gebunden blieb und nur je und je als Verfolgungstrieb durchbrach, wobei sie sich ihrerseits für die Verfolgte hielt und, was anderen zuleide geschah, selber zu erleiden meinte. Er richtete sich auch nicht gegen mich allein, sondern gegen sämtliche Anverwandte ihres Mannes. Ich war nur als 317 die räumlich Nächste und durch den leidigen Mitbesitz an das Haus Gebundene dem am meisten ausgesetzt. Zwar hatten sich ihre Eltern gleich zu Anfang erboten, mir meinen Hausanteil zurückzuzahlen, aber ich lehnte ab, um meinen Bruder nicht in Abhängigkeit von den neuen Verwandten zu bringen, die ihm innerlich so unverwandt waren. Auch lag mir daran, für Mama, die an dem Hause hing, die verbliebenen Räume vorerst noch zu erhalten. Sie sah es jetzt erst recht für ihr Mutteramt an, Edgar nahe zu sein, um ihm die mangelnde häusliche Wärme und Fürsorge zu ersetzen. Den ganzen Tag freute sie sich auf den Augenblick, wo er spät noch an ihr Bett kam, ihr Gute Nacht zu sagen; wenn nächtlicherweile die Klingel des Arztes ging, so stand sie heimlich mit auf und wartete in dem dunklen Garten seinen Aufbruch ab, als ob er ihr in den Krieg zöge. Und an den seltenen Morgen, wo er ausschlafen durfte, huschte sie in sein abgelegenes Schlafstübchen hinauf, das noch immer das alte war, und saß wartend an seinem Lager, bis er die Augen auftat, die sie an die geliebten Augen seines Vaters erinnerten. Denn auch dieser Herbe, Stolze war, so wenig er sich's merken ließ, ein liebebedürftiges Mutterkind, das dankbar war, im eigenen Heim nicht erfrieren zu müssen. Sie aber machte das Gefühl ihrer Unentbehrlichkeit nahezu immun gegen die ungesunde Atmosphäre des Hauses. Zudem kugelte jetzt ein ganzes Häuflein Kinder in Haus und Garten – auch Alfred sandte jeweils seine beiden zu der Nonna –, und Kinder waren ihre Seligkeit. Auch mir haben sie lange Zeit das Unerträgliche erträglich gemacht, denn der Atem der Kindheit wirkt luftreinigend. Und die Kinder gehörten, wem sie selber wollten, um sie gab es keine Eifersucht. Es war köstlich, 318 sich mit ihnen zu balgen und im Kinderland zu sein, ich segnete mich nur jeden Tag, daß ich sie nicht zu erziehen brauchte. Eine Schildkröte, die des Nachmittags pünktlich zur Teestunde an meine Gartentür pochte und sich artig zum Teetisch setzte, um ihren gewohnten Leckerbissen zu empfangen, gehörte mit in die kleine Gesellschaft. Mit schwarzen, afrikanisch ausstaffierten Puppen wurde die Emin-Pascha-Expedition vorgestellt, die damals die ganze Kulturwelt in Aufregung hielt und von mir mit atemlosem Anteil verfolgt wurde, wie zuvor schon der Zug Stanleys durch den dunklen Erdteil und seine Auffindung Livingstones mich begeistert hatten, – herzerfrischende Ereignisse, von denen ich mir eine Verjüngung unserer ganzen altgewordenen Zivilisation erhoffte. Deutschlands erste koloniale Erwerbungen wurden von mir mit Jubel begrüßt wie lauter offene Fenster aus der Stickluft ins Freie. Es war die einzige Zeit meines Lebens, wo ich mir gewünscht hätte, selber Kinder zu haben, ein halbes Dutzend Söhne, die ich alle zu Forschungshelden hätte erziehen mögen. So mußte ich mich begnügen, daß ich die Kleinen meiner Brüder hatte, denen ich in ihrer Unschuldssprache, die der Sprache der Poesie so verwandt ist, von diesen großen Dingen erzählen konnte, als ob es Märchen wären oder die Gesänge der Odyssee. Das brachte mich über manche dunkle Stunde weg, aber jeder größere schöpferische Versuch endigte wie der Aufflug eines kranken Vogels am Boden. Fast alles, was ich in jenen dürren Jahren schrieb, darunter auch die Mehrzahl der »Italienischen Erzählungen«, ist auf gelegentlichen Reisen, in Sommeraufenthalten da und dort, wie auf Raub entstanden.

Besser als dazumal in der Bedrängnis der Nähe kann ich 319 heute die Zwangsläufigkeit in dem Geschick der unseligen Frau erkennen, die so an ihrem besten Leben vorüberlebte. In der kleinstädtischen Umwelt und der Bildungsschicht, aus der sie stammte, hätte sie gewiß ein Glück nach ihrem Herzen finden können. Aber bei meinem Bruder, für dessen Persönlichkeit ihr der Maßstab fehlte und dessen Glücksumstände sie überschätzt hatte, war sie aus ihrer Sphäre getreten, ohne in der seinigen, nach der sie kein Verlangen trug, heimisch zu werden, und das nahe Zusammensein mit einer Familie wie der unsrigen brachte sie in eine Stellung, der sie innerlich nicht gewachsen war. Daß dann gleich zu Anfang ihrer Ehe der böse Geist ihrer Mutter kommen mußte, ihr die Fäden zu verwickeln, das war für diese Natur zuviel. Ein liebendes Herz hätte sich freilich zurechtgefunden, aber sie liebte nicht, sie konnte gar nicht lieben, denn ihr ganzes Wesen wohnte im Negativen. Ich habe mich später oft gefragt, ob es denn gar nicht möglich gewesen wäre, aus der unglücklichen Hausgenossenschaft etwas Besseres herauszuholen; aber das war auch dem großen Herzen meiner Mutter, die ihr ja gar nicht im Wege stand, nicht gelungen.

Erst in der Todeskrankheit meines Bruders erwachte in der Frau das Menschentum, daß sie ihn sorgsam und treulich pflegte und auch die Angehörigen nicht abwehrte, die er um sich versammelt wollte; die wärmste Anerkennung lohnte ihr dafür. Aber nach seinem Hingang fiel sie in ihre alte Art zurück; man sah sich nicht mehr, ich vernahm nur durch Dritte noch gelegentlich von ihr und verlor sie schließlich ganz aus den Augen. Da war es erschütternd zu hören, wie sie am späten Ende noch eine tragische Höhe erstieg, indem sie, alt und 320 mürbe geworden und nun selbst in Bitternisse geraten, sich entschloß, ihr mißglücktes Leben freiwillig zu endigen. Diese allzu herbe Sühne wirft ein milderndes Licht auf alles Vergangene, das ja nicht ihr gewolltes Werk, nur die Auswirkung ihres bösen Gestirnes war. Gerne möchte man sich vorstellen dürfen, der nie verstandene Lebensgenosse sei ihr drüben – in dem Drüben, an das er von seiner Naturwissenschaft aus nicht glauben konnte –, erbarmend entgegengekommen und habe die ratlose Seele an einen Ort des Friedens geführt.

Von einer solchen Einsicht konnte freilich während der Verdammnis eines Zusammenwohnens, wo schließlich die eigene Seele Gefahr lief, sich mitzuvergiften, keine Rede sein. Schon das Wissen um all die Vorgänge – Frauenaugen müssen ja sehen, ob sie wollen oder nicht – war entwürdigend. In dieses Inferno folgte mir auch der unsichtbare Gefährte nicht mehr. Der große Leidverwandler kann wohl Not und Tod in Schönheit wandeln, aber die Ausströmungen einer kranken Seele nicht. Es blieb nichts übrig als zusammenzupacken und zu weichen.

Von jetzt ab war ich für eine lange Reihe von Jahren Vogel auf dem Zweig. Ohne festen Wohnsitz, mit nichts Eigenem als meinem Koffer, bewegte sich mein Leben durch unzählige Pensionen oder Mietzimmer immer im Kreis, bald näher bald ferner, um das in der Via delle Porte nuove verbliebene mütterliche Zentralgestirn. Da sie von Edgar nicht lassen wollte, aber zu welken meinte, wenn sie mich nicht hatte, blieb mir keine andere Wahl. Mich an all die Orte zu erinnern, wo ich nacheinander in Florenz gewohnt habe, ist mir nicht mehr möglich; an keinem war meines Bleibens. Bald war es ein 321 Klavier im Hause, bald ein dröhnender Neubau in der Straße, bald der Wegzug der Vermieter selbst, was mich von hinnen trieb. Niemand konnte dieses irrende Leben begreifen, das immer auf dem Sprunge war. Durch Freundeszuspruch hatte ich mich schon beinahe dazu bewegen lassen, eine kleine Wohnung vor der Stadt für Mama und mich zu mieten, wo sie statt von ihm zu mir zu wandern es umgekehrt halten sollte. Aber ich fühlte selbst mit Bangen den Mißgriff, den ich im Begriff war zu begehen; da riet mir zum Glück der immer klarblickende Freund Hildebrand dringend von dem Vorhaben ab, weil ja dem Temperament meiner Mutter, das gewohnt sei, sich auf viele Menschen zu verteilen, durch diese Lösung gar nicht gedient wäre und ich mit ihr allein keine Sammlung zur Arbeit fände. Ich war ihm dankbar für dieses Wort, das nur aussprach, was ich selber wußte, denn er sprach damit mein Gewissen frei, und auch meine Mutter war es zufrieden, wenn ich nur nicht ganz von ihr ginge. Wenn sie die Macht über die Kinder hatte und ihren Spirituskocher, um sich zu versorgen, dazu die Möglichkeit, so oft die Sehnsucht sie trieb, mich zu sehen, so wollte sie weiter nichts vom Leben. Da flog dann plötzlich einmal die Türe auf und sie wie ein verstürmter kleiner Vogel an meinen Hals. Wer konnte ihr böse sein, wenn sie auch gleich Hut und Umhang auf die Blätter meines Schreibtischs warf? Sie legte immer erst ein Bündel Schmerzen bei mir ab. Danach aber trat das Überpersönliche in sein Recht; sie erzählte mir von irgendeiner naturwissenschaftlichen Entdeckung, von der sie aus Edgars medizinischen Zeitschriften wußte, oder den Ausspruch eines griechischen Denkers, der ihr eben in die Hände gekommen war. Denn 322 sie hörte nie auf, sich mit der Frage nach dem Unwißbaren zu beschäftigen; sogar in ihrem handgroßen Haushaltungsbüchlein – sie führte wahrhaftig solche, was ihr niemand zutraute – fand ich später noch die mannigfachsten philosophischen Lehrmeinungen zwischen die Zahlen eingestreut. – Schlimm wurde es nur, wenn eine längere Unpäßlichkeit sie zwang das Bett zu hüten; ich konnte dann sicher sein, daß niemand sie pflegte und mit Nahrung versorgte und daß sie auch niemand um eine Dienstleistung bat. Edgar machte ihr zwar die aufmerksamsten Krankenbesuche, aber daß sie nichts zu essen hatte, entdeckte er nicht. Er holte sie wohl gelegentlich an seinen Mittagstisch; da wurden ihr nur die Fleischspeisen angeboten, vor denen sie von klein auf einen tödlichen Abscheu hatte, Mehlspeisen, die sie liebte, wurden ihr zu reichen versäumt; der Sohn saß dabei in seinen Gedanken und sah nichts. Eine Zeitlang kam ich, während sie zu Bette lag, täglich von der Höhe des Poggio Imperiale, wo ich nach langer Unstete zuletzt einen Dauersitz gefunden hatte, zu Fuß mit einem Körbchen herunter, um sie zu ätzen. Sie hatte in Tübingen meinem Vater, als er die Mittage auf der Schloßbibliothek verbrachte, jahrelang das gleiche getan. Nur war kein Vergleich zwischen den Wegstrecken des einen und des andern Falles, und sie ließ auch auf ihrem Tisch kein Manuskript zurück, das wie ein Kind nach ihrer Heimkehr weinte. Nachträglich wundere ich mich, warum nicht eine gute Frau aus der Nachbarschaft ihr den kleinen Dienst leisten konnte; aber freilich war es so, daß für ihre Bedienung kein Pfennig draufgehen durfte. Unendlich größere Werte an Zeit, Schaffens- und Jugendkraft kamen 323 dagegen nicht in Betracht, die waren in Fülle da, man brauchte sie nicht zu sparen.

Ich war ihr aber auch eine Vergütung schuldig, weil ein Mann von Geist und Persönlichkeit, der Namen und Stellung in der Welt besaß und das Mütterlein auf den Händen zu tragen versprach, seit längerer Zeit zart und standhaft um mich warb. Es war wieder einer der Fälle, wo sich ohne alles Besinnen ein so kategorisches Nein aus meinem Innern erhob, daß die sehr erheblichen weltlichen Vorteile gar keine Versuchung bedeuten konnten. Für sie war es ein Schmerz, denn sie verstand sich besonders gut mit diesem Manne, und ich zweifle nicht, daß er sein Wort gehalten und sie mit allen Aufmerksamkeiten umgeben hätte. Vor mir jedoch lagen andere Wege, steinigere, wie ich wohl wußte, aber solche, auf denen ich meine Flügel brauchen konnte; dieser allzu bequeme war nicht für mich. Zum Trost gereichte mir die Überzeugung, daß sie auch mit einem selbstgewählten Schwiegersohn nicht glücklich gewesen wäre; sie war allzusehr gewöhnt, mich allein zu haben, um die Ansprüche eines anderen an mich zu ertragen.

 

Die Jahre am Poggio Imperiale gehörten zu den fruchtbarsten und darum schönsten meines Lebens. Die Umgebung konnte nicht glücklicher gefunden sein. Außerhalb der Porta Romana, seitlich von dem heraufführenden herrlichen Zypressenweg, der leider nach dem Krieg sehr zurückgegangen ist, lag völlig ins Grün der Felder eingebettet das ländliche Haus, wo ich nun für eine Reihe von Jahren die Lenze kommen und gehen, die ersten Veilchen aufblühen, den Rebstock weinen sah und tagelang das Geschrille der Zikaden von den 324 Ölbäumen hörte. Dort in tiefer Geborgenheit konnte ich endlich nach Herzenslust arbeiten. Es brodelte wieder innerlich von embryonalen Gebilden, die bis zum halben Leib heraufstiegen, mich ansahen und, wenn ich sie nicht fassen konnte, wieder versanken, um anderen Platz zu machen. Mitunter war es nur eine Frage des Zufalls, welche schließlich durchdringen würden. Ich hatte unterdessen die kleinen »Contes« von Maupassant kennengelernt und bewundernd gesehen, mit welcher Leichtigkeit der Franzose die technischen Schwierigkeiten der Novelle meistert, dieser hohen Kunstform, die so wenig verstanden wird. Es war mir schon früher aufgegangen, daß die übliche gradlinige Erzählungsform in der dritten Person, wobei der Verfasser alles Verborgene weiß und also gewissermaßen um die Ecke sieht, für diese Gattung nur bei einfachen Verwicklungen und mäßiger Personenzahl günstig zur Anwendung kommt, weil andernfalls die geforderte Einheit leidet und die Novelle leicht in einen kleinen Roman ausarten kann. Unlängst hatte ich es erlebt, daß mir ein Lieblingsstoff über die Ufer trat und ich darum ein schon fortgeschrittenes Manuskript gänzlich verwerfen mußte. Nun sah ich an Maupassants Beispiel, welche Möglichkeiten der Erzähler hat, seinen Stoff zu bewältigen, wenn er ihn in einen Rahmen spannt, der das Ausfließen verhindert und ihn zur verstärkten Wirkung zusammenfaßt. Es war ja dieses Verfahren nicht neu: mit einer den Franzosen noch überbietenden Feinheit der Erfindung hatte es schon mein Vater in seiner »Blassen Apollonia« gehandhabt. Unbegreiflich, daß Heyse, den sie damals den Meister der Novelle nannten, die »Blasse Apollonia« tadeln zu müssen glaubte, weil ein tragisches Schicksal, das 325 einen Romanband hätte füllen können, auf wenige Seiten ausgepreßt war, als ob das nicht die höhere Kunstleistung wäre. Maupassant bildete diese Technik auf eine Weise aus, daß er die Rahmenform in unendlichen Abwandlungen gebrauchen konnte, sei's auch gelegentlich nur als schmälste Umrandung, die ihm bloß die Verantwortung für das Erzählte auf einen erdichteten Dritten abladen oder es wenigstens aus der Härte unmittelbarster Nähe rücken muß. Es ist derselbe Vorteil, den der bekannte Herr »Ich« als Erzähler genießt, der auch nicht alles zu wissen braucht, was hinter seinem Rücken geschieht, wiewohl der eingeschobene Dritte sich meist durch seine Unverbindlichkeit besser empfiehlt. Es war seinerzeit noch halb instinktmäßig geschehen, daß ich in dem »Heiligen Sebastian« den Maler sein Schicksal in der Ichform erzählen ließ und dadurch der Vielfalt der Erscheinungen einen Damm setzte. Nach der Begegnung mit der Kunst Maupassants gab ich mir über die Stilbedeutung der Rahmenform genauere Rechenschaft. Dieser war denn auch der einzige zeitgenössische Erzähler, von dem ich mir bewußt bin, gelernt zu haben, nämlich das gelernt, was man immer von dem Formgefühl der Romanen lernen kann, das Handwerkliche – man darf ja wieder vom Handwerklichen reden, seitdem der Wahn, als müsse der Meister fertig vom Himmel fallen, durch die Entdeckung entkräftet ist, welch ein Übermaß planvoller Arbeit gar ein Genius wie Hölderlin an den Riesenwurf seiner geheimnisvollen späten Hymnen gewendet hat. – Um so leidiger waren mir die Nachahmer, die gar nicht mit der Aufbaukunst ihres französischen Vorbildes noch mit seiner feingeschliffenen, ins Herz der Dinge stoßenden Sprachmeisterschaft 326 zu wetteifern suchten, sondern mit seinen heiklen Inhalten, die ohne seine Genialität nur schmutzig waren. Daß dieser große Künstler nur in den kleinen Ausschnitten aus dem Leben, im Raum der Satyre, groß ist, und daß es ihm für ein breiteres Weltbild am eigenen Menschentum gebrach, ging der Masse seiner Bewunderer gar nicht auf. In seinem kalten Glanz mußten auch die Geschöpfe seiner Einbildungskraft mit seinen so wundervoll gezeichneten Landschaften unverbunden bleiben, weil er aus allen Dingen und Wesen die Seele herausblies. Mir gab er durch sein Können eine starke Lust zur Novelle und den fiebernden Auftrieb, die empfangenen Anregungen im rein Formalen – in Verkürzungen und Überschneidungen – auszubauen und auf völlig andere Vorstellungswelten zu übertragen. Sobald ich es bei dem weggelegten Stoff mit der Rahmenform versuchte, war die Einheit da und die Erzählung gerettet. Ich gewann dabei noch den Vorteil, daß ich in einem Rahmengespräch zwischen Freunden wie in einer musikalischen Introduktion das Thema aufklingen lassen konnte. Und das war in diesem Falle besonders günstig, weil der springende Punkt der Geschichte – der Urtrieb des Weibes nach Mutterschaft als tragisches Verhängnis – noch gar nicht in der Literatur eingeführt war: Den »Ruf nach dem Kinde« hatte man um jene Zeit noch nicht vernommen. Kein Wunder, denn der Sprecher für die Frauenseele war in der Dichtung bislang der Mann gewesen, und dieser hatte von je die Frau nur als Liebhaberin gekannt, schrieb ihr demnach nur das Verlangen nach dem Manne, nicht das tiefere nach dem Kinde zu. »Unsere Carlotta« befremdete denn auch zuerst manchen durch die Neuheit, daß ein herrlich blühendes, ganz 327 vom Drang nach ihrer Naturbestimmung erfülltes Geschöpf sich mit verzweifelter Sündhaftigkeit dem Gegenstand ihrer Leidenschaft verweigert, weil sie mit Ehren Mutter werden will und dann dem ihr körperlich widerwärtigen, aber für ehrenhaft gehaltenen Werber verfällt, der erst recht an ihr zum Verräter wird, bis der Beschimpften nichts übrigbleibt, als ihre Ehre in Blut zu waschen. Auch dieser Stoff war mit seinem Grundgedanken und den drei Hauptpersonen aus der lebendigen Umwelt geholt, nur daß das Leben diese wie alle seine Muster unzulänglich lieferte und sie alle drei erst in ihre Urtypen verwandelt werden mußten, vor allem die Heldin selbst. Das geschäftige, unruhestiftende alte Weiblein mit dem Eselskarren gab ich als treibende Kraft hinzu und ließ die zum Hintergrund dienende Apenninenlandschaft in ihrer ernsten Eintönigkeit mit dem ebenso eintönig ernsten Charakter der Heldin zu einem Unterton von leidenschaftlicher Schwermut zusammenklingen. Ich verwendete diesmal so wenig Farbe wie möglich, um ganz nur durch die strenge Geschlossenheit der Form, wie sie durch die Straffung erreicht wurde, plastisch zu wirken. Die glückliche Folge war, daß die »Carlotta« bei ihrem Eintritt in die Welt, der durch den »Cottaschen Musenalmanach« stattfand, von unbestechlichen Kennern als eine Erscheinung von antiken Maßen begrüßt wurde. Aber ich war wieder einmal der Zeit vorausgelaufen. »Unsere Carlotta« konnte sich zunächst in der breiteren Öffentlichkeit, die für wahre Frauengröße noch ganz stumpf war, nicht durchsetzen und mußte danach noch in Gestalt eines kleinen, bei Cotta erschienenen Büchleins Jahrzehnte durch schlummern, bis sie bei ihrem neuerlichen Wiedererscheinen im Rainer 328 Wunderlich Verlag in Tübingen ihre Zeit gereift und ihr inneres Gesetz von allen verstanden fand.

Andere Gebilde, unter sich grundverschieden, stiegen danach aus der Retorte. Aber ich mußte immer organisch verfahren und nahm nur auf, was sich irgendwie vom Leben her verbürgen ließ; reine Willkür in der Erfindung widerstrebte mir stets wie alles Wurzellose, es wäre denn zu Zwecken der Komik gewesen. Da war unter vielen anderen eine Gestalt, eine arme Stickerin, die einen klassischen Kopf auf verwachsenem Körper trug; Zenobia hieß sie, und dieser aus einer Tragödie Voltaires geholte weltgeschichtliche Name war ihr als Verhängnis mitgegeben. Er regte sie, wenn sie sich über ihre Nadel bückte, zu hochfliegenden Träumen von Helden und Weltherrschern an, deren sie sich durch ihre Seelengröße würdig fühlte, während sie den Spießern der schwäbischen Kleinstadt, die ihr Körperliches beherbergte, nur Anlaß zu spöttischem Mitleid gab. Bis ihr Stern es will, daß sie einem leibhaften Weltbezwinger in die Augen schaut, und um die Größe der Stunde nicht zu überleben, im Rausch der Selbstvernichtung unter den Hufen seiner Rosse endet. Eine Zeitlang trug ich sie mit mir, ohne daß es ihr gelang, ihren Mitbewerbern im Chaos den Rang abzulaufen. Sie tauchte nur wie die anderen in mir auf und nieder. Da geschah es, daß sie eines Tages ganz plötzlich durch eine Begegnung zur Form gerann. Ich saß während eines kürzeren Aufenthalts in München gerade in der Straßenbahn, als ich unter den Mitfahrenden eine seltsame Persönlichkeit gewahrte, die mit abwesender Miene und mit Augen, die die Wirklichkeit nicht sahen, weil sie ihr offenbar zu gering war und vor ihrem inneren Gesicht 329 ein Höheres stand, von allen anderen Fahrgästen weit getrennt erschien. Es durchzuckte mich: Das ist Sie! Das ist Zenobia! Und richtig: als der Wagen hielt, erhob sie sich und grüßte, ehe sie ausstieg, ohne jemand anzuschauen, mit feierlich-stummen Verbeugungen in der Runde, daß alle Anwesenden lächelten. Im Weiterfahren konnte ich die Augen nicht von ihr abwenden: denn, o Wunder! da stand sie noch immer mitten in der Maximilianstraße neben der Schiene – sie konnte sich das leisten, denn was man heute Verkehr nennt, gab es ja noch nicht – und wiederholte ihre Knickse in die leere Luft. Jetzt hatte ich sie in der Tat mit ihrem Auftreten am kurfürstlichen Hof, so wie ich sie brauchte, leibhaft vor Augen, die arme bucklige Kaiserin, denn alles Leben liegt in der Bewegung; den fehlenden Buckel, den klassischen Kopf und was ihr sonst noch mangelte, um ganz meine Zenobia zu sein, ergänzte die Phantasie von selber. Zurückgekehrt, machte ich mich gleich an die Arbeit und verließ sie nicht, bis ich damit zu Ende war. Während ich darüber saß, erhielt ich von Freundesseite eine Einladung nach Neapel, wohin ich noch nie gekommen war und das mir danach noch lange, lange unerreichtes Wunschziel bleiben sollte; denn was half's, ich konnte Zenobia nicht im Stich lassen. Nur einmal unterbrach ich das Schreiben: als Böcklin starb und jüngere Künstler mich baten, für die zu veranstaltende Trauerfeier das Carmen zu dichten.

Die Novelle erschien wie die meisten anderen in Rodenbergs »Deutscher Rundschau«. Ich hatte um diese Zeit die Freude, die berühmteste und zugleich bescheidenste deutsche Schriftstellerin und gütigste aller Kolleginnen, Marie von Ebner-Eschenbach, kennenzulernen. Sie begrüßte mich gleich mit dem 330 Namen Zenobia auf den Lippen. Die tragische Phantastin, die aus ihrer Niedrigkeit die Augen zu dem Sieger von Austerlitz zu erheben wagt, hatte es ihr, wie sie sagte, angetan, und an dem nächtlichen, einem flammenden Meteore gleichenden Durchzug des Imperators rühmte sie die geheimnisvolle tödliche Anziehungskraft, die die arme Bucklige in den Untergang zwingt, wie das Licht den umschwirrenden Falter.

Wir sind eigentlich alle solche Zenobien, sagte die Dichterin sinnend. Wer hat sich nicht schon in eine ganz nahe Beziehung zu einem unerreichbar Großen hingeträumt, mit dem uns unser Lebensweg nie zusammenführen kann.

Jawohl, sagte ich, der Heldenverehrung meiner eigenen Jugend gedenkend, auch zu Längstgestorbenen und zu solchen, die nie gelebt haben.

Was sie mir noch Gütiges über meine Bücher sagte, war für die allein und abseits Stehende eine große Wohltat. Ich bekam ja lobende Kritiken genug und auch manche sogar überschwengliche Stimme aus Leserkreisen zu hören. Der feinfühlige Laie versteht wohl die Eingebung, die immer das Wesentliche bleibt, doch kennt er nicht die Wege des Zustandekommens, und er soll sie nicht kennen, sie würden ihm den Genuß nur verwirren. Aber verstehende Anerkennung, die der ältere Meister dem jüngeren entgegenbringt, erfreut nicht nur, sie fördert auch. Ich vertraute ihr an, mit was für äußeren Hemmungen meine Arbeiten zu ringen hatten. Die Gefeierte, von der ich annahm, daß ihre gesellschaftlichen Vorteile sie von vornherein jedem Kampf enthoben haben müßten, bekannte mir, wie schwer auch ihr der Weg zum Schaffen gemacht worden sei, und daß sie noch immer ein unverfängliches Stück 331 Papier neben sich auf dem Schreibtisch haben müsse, um es schnell auf ihr Manuskript zu decken, damit sie nicht beim Schreiben überrascht würde. Weil sie meine vermeintliche Gelehrsamkeit bestaunte, erzählte ich ihr, daß ich nie ein Schulzimmer betreten hatte, daß mir kaum jemals Festes, Fertiges übermittelt worden war und daß ich mir mein bißchen Eigen aus der Allverkettung der Dinge selber hatte herausklauben müssen. Sie war vielleicht noch schlimmer gefahren, da sie mit der üblichen Komtessenbildung ihren Weg begonnen hatte und erst später durch die Freundschaft mit einer edlen Frau – Ida von Fleischl –, derselben, die auch die einsame Louise von François betreute, in höhere geistige Welten eingeführt worden war. Jetzt hatte sie einen brennenden Eifer, Lücken auszufüllen, das in der Jugend Entgangene nachzuholen, und umgab sich mit Gelehrten, aus deren Wissen sie gläubig und demütig schöpfte, während sie selber besaß, was kein Gelehrter geben kann: die angeborene Wahrschau in Dinge und Menschen.

Von da an gab es so gut wie keine technischen Schwierigkeiten mehr, jede neue Erfindung brachte von selber ihre Einkleidung mit; daß es mir gar zuletzt noch einfallen könnte, den Inhalt eines geschichtlichen Romans in einen Wandteppich zu pressen, das lag freilich noch in ferner Zukunft. Nur in einem Fall wollte und wollte der immer neugesuchte Wurf nicht herauskommen. Da war eine schon früh geplante Doppelnovelle»Solleone«, die ein Äußerstes an unsichtbaren Mitteln verlangte, um so in Erscheinung zu treten, wie ich sie innerlich sah: daß zwei zeitlich und inhaltlich weit auseinanderliegende Menschengeschicke sich auf einem Schnittpunkt treffen, 332 wo sie als dämonisch aufeinander wirkend erscheinen müssen, enge verbunden durch das Walten einer Urmacht, der hochsommerlichen Sonnenglut, von der die Novelle den Namen hat. Dieser Stoff, den die stillglühende Sommerlandschaft bei einem Aufenthalt in den Toskanischen Hügeln aus sich gebar mit Gestalten, die aus dem Boden kamen, aber sich leise ins Mythische färbten, brannte durch Jahrzehnte in mir weiter, ohne zu erkalten, weil er wie in einem dauernden Feuerbade lag, bis ich ihn mit dem letzten reifsten Können doch noch ins Dasein zu erlösen vermochte. Das beinahe vierzigjährige Warten kam ihm nur zugute; es streifte Überwucherndes ab, das mich gehindert hatte, und gab Gelegenheit, daß ich einen Zeugen des tragischen Vorgangs, der von einem Strahl des tödlichen Gestirns mitgetroffen hinsiecht, im Weltkrieg still verschwinden lassen konnte.

 

Während ich andächtig in meiner Töpferwerkstatt saß und aus dem mir anvertrauten Tonklumpen Menschengeschicke formte, ein Geschlecht, das mir gleich sei zu lieben, zu hassen, wurde mein persönliches Leben von immer neuen Erschütterungen und Einschlägen heimgesucht. Auch den mir liebgewordenen Wohnsitz am Poggio Imperiale, wo mir vieles zu Danke geriet, büßte ich wieder ein und war aufs neue allen Zufälligkeiten preisgegeben. Vielleicht mußte all diese Not und Unruhe sein, damit meine Geschöpfe sich besser mit Lebensblut sättigen konnten, als es bei einem gestillten Dasein der Fall gewesen wäre. Vielleicht auch war es mein Zoll an die Dämonen, daß sie mir wenigstens das Recht des Schaffens gönnten, das schöner ist als alles angestaunte Glück des 333 Glücklichen. Man sucht ja so gerne nachträglich einen Sinn in die Unsinnigkeiten des eigenen Daseins zu legen.

Durch welche Führung es mir gelang, das einsame Boot durch die höher und höher gehenden Wogen des Naturalismus und aller sich ablösenden Ismen zu steuern, von denen jeder gleich ausschließlich und gleich fanatisch alles Nichtmiteingeschworene abstieß, wüßte ich nicht zu sagen. Als sie sämtlich Geschichte geworden waren, ließ es sich leicht überschauen, daß große Erscheinungen der neuen Schulen den großen der vergangenen viel ähnlicher sehen als ihren eigenen Nachtretern, die mit ihrem Lärm nur gedient hatten, ihnen Stoßkraft zu geben, um dann selber ins Wesenlose zu zerfallen. Denn die Genien haben alle gemeinsame Familienzüge; wenn sie sich im Leben noch so stark befehdet haben, in der Ewigkeit stehen sie verschwistert nebeneinander. – Aber schwer ist es, ohne Schutzgeleite und Führerstern allein und gegen die Strömung nach dem innern Kompaß zu steuern.

Als ich die Geschichte von dem Ichlosgewordenen »Ein Rätsel« schrieb, verweigerten mir alle sonst befreundeten Blätter die Aufnahme, weil ihnen die Erfindung: ein Mensch, der nach erschütternden Eindrücken vergessen hat, wer er ist, ganz und gar unmöglich deuchte; der Weltkrieg, der solcher Fälle eine Anzahl hervorbrachte, hat später für mich gezeugt. Zu guter Letzt versuchte ich es mit einer Zeitschrift von ausgesprochen naturalistischer Haltung, und diese wollte die Geschichte nehmen, eben um ihrer Neuheit willen, war aber nicht zufrieden mit dem Ausgang: daß der Ichlose, von allen staatlichen und bürgerlichen Unterscheidungszeichen Entblößte, als »Mensch an sich« in der staatlichen Ordnung nicht mehr 334 leben kann und deshalb aus einer völlig fremdgewordenen Welt sich am Ende ohne Spur hinwegverliert. Die Schriftleitung forderte, daß der Unglückliche noch einmal aufgegriffen, dem Irrenhaus, dem er schon glücklich entgangen war, jetzt wirklich eingeliefert und zu voller Klärung des rätselhaften Falles mit einem psychiatrischen Gutachten versehen würde. Zu solchem Mißverständnis konnte ich nur schweigen und mein Manuskript zurückziehen; hätte ich gestanden, daß es mir nicht auf das Pathologische, sondern auf das Metaphysische ankam, so würde ich eine schlechte Figur gemacht haben, denn die Metaphysik stand damals nicht hoch im Kurs. Als mir Jahrzehnte später von den Schülerinnen der Untersekunda eines Mädchengymnasiums eine Reihe von Fragen vorgelegt wurde, die sich auf das eben von ihnen in der Schule gelesene »Rätsel« bezogen und die ein inneres Eingehen auf den dunklen Gegenstand bewiesen, vor dem damals die weisen Männer versagt haben, da staunte ich und freute mich, wie sich unterdessen der Sinn für Gegenstände nicht alltäglicher Art in den Köpfen selbst der Jugendlichen geschärft hatte. Wenn nicht immer wieder die Jugend da wäre, um Fehlmeinungen zu berichtigen, wie könnte der Dichter seinen Weg wagen!

Frage ich mich jetzt, von welchen Einflüssen die immer wechselnde Stoffwahl meiner Bücher geleitet war, abgesehen von den »Florentiner Novellen«, deren Ursprung schon erklärt wurde, so komme ich zu der mich überraschenden Entdeckung, daß es vorwiegend Gefühle des Dankes und der Verpflichtung waren, nicht nur für Einzelne, sondern auch für ganze Völker und Kulturen, was mir einen Großteil meines Lebenswerke eingab. Oft war ich im Begriff, etwas völlig anderes, von mir 335 sehnsüchtig Gehegtes zu schreiben, da schob sich die Erkenntnis dazwischen, daß etwas zu tun war, was in diesem Augenblick und so wie ich es in mir fühlte durch niemand anderen geschehen konnte, weil ich gerade an der Stelle stand, wo die magische Rute ausschlug. Bei meinen Erinnerungs- und biographischen Büchern war es ja selbstverständlich, aber auch die »Stadt des Lebens« und meine »Wandertage in Hellas« waren solche Danksagungen für Wohltaten, die mir aus der Berührung mit diesen Kulturwelten wieder und wieder flossen. Besonders in meinem Hellasbuch legte ich das Bekenntnis einer lebenslangen Dankesschuld nieder.

Aber auch meiner engeren und allerengsten Heimat, dem Schauplatz meiner Kinderspiele, fühlte ich mich zu solchem Liebesdienst verpflichtet. Es winkten mir aus meinen frühsten Erinnerungen rührend komische Gestalten nach, wie sie zu jener fernen Zeit das Schwabenland noch hervorbrachte, die aber, als ich schrieb, schon längst verschollen waren. Diese Menschen waren nicht sowohl an sich komisch gewesen, als daß sie durch den Gegensatz ihres hochgestimmten Idealismus zu der unvorstellbaren, ihnen nicht bewußten Enge ihres eigenen Lebensraumes komisch wirkten. Sie bauten ihre Gärtchen und winzigen Äcker, verkauften Haarnadeln und Schnupftabak, konnten aber auch Schiller auswendig und schwärmten für die Befreiung der Griechen. Dabei glaubten sie auch mit Inbrunst an das Krokodil von Eßlingen, jenen Nachfahren des alten Tatzelwurms, der noch immer in den Kellern lag und gelegentlich weinschöpfende Mädchen fraß. Ihre Armut war ohne Ärmlichkeit und ohne Armeleutgeruch. Der Duft endlicher Blumen und sommerlichen Heus oder 336 angezündeter Kartoffelfeuer umgibt ihre Gestalten, denen sich nach langem Liegen im Erinnerungsschrein auch noch ein leiser Lavendelgeruch wie aus großmütterlichen Schränken beigesellte. Sie sahen mich seit lange bittend an, daß ich sie vor dem Nichtgewesensein der letzten Vergessenheit bewahre, und das konnte in der Tat niemand außer mir, die ich meine Kinderjahre mit ihnen verlebt und ihre Art mit dem Herzen verstanden hatte, denn sie hingen durch Bande zärtlicher Liebe und Ehrfurcht mit meinem Elternhause zusammen. Nicht, als hätte ich sie einfach am Schopf nehmen und aus der Wirklichkeit in erfundene Lagen der Novelle versetzen können – solches gerät in den seltensten Fällen glücklich –, vielmehr mußte ich sie zuerst in den Schmelztiegel werfen und aus ihren Bestandteilen andere verwandte Wesen bilden, wie sie jeweils zum Gang der Handlung nötig waren. Verschiedene Schauplätze meiner Kindertage ließ ich zum Hintergrund in einen zusammenrinnen und gab ihm den an wilde Lilien erinnernden Namen Ilgenau, worin mir jene frühe Unschuldswelt sich ausdrucksvoll zu spiegeln schien. In meinen späteren Erinnerungsbüchern habe ich einige von ihnen auch leibhaft eingeführt, unterdessen aber ließ ich sie vermummt in dem Reigen »Von Dazumal« tanzen, dem ich das Präludium »Es und Ich« – die Schmetterlingsjagd der Seele nach dem Unerreichlichen – voranstellte. Dieses Stück war schon viel früher geschrieben als das Buch und in dem Sammelwerk »Hie gut Württemberg allewege« bei Eugen Salzer in Heilbronn erschienen. Es war das erstemal, soweit ich sehen kann, daß eine solche Zusammenstellung gewagt wurde, die hernach mehrfach in mißverständlichen Abwandlungen in der Literatur 337 wiederkehrte, denn das jeweilige »Ich« wurde ganz persönlich mit irgendeinem fremden, unnahbar großen, tatsächlich vorhandenen Numen zusammengekoppelt, das nach der Kameradschaft nicht im mindesten fragte. Mein Es und Ich sind ein bescheidenes Paar, denn beide sind vom gleichen Stoff, sind untrennbar eins; bis zum heutigen Tage noch ist mein Ich auf der Suche nach seinem unsichtbaren Es. – »Von Dazumal« erschien wiederum in einem anderen Verlag; weil die Geschichten einzeln in der »Deutschen Rundschau« Anklang gefunden hatten, gab ich sie als Ganzes Paetel in Berlin. Aber die Versetzung in die verstandeshelle Berliner Luft war dem Buche nicht bekömmlich, es brauchte danach lange, bis es den Rückweg in die Heimat fand; wenn auch die Einzelstücke mannigfach in Sonderausgaben erschienen, so kam das Ganze doch erst zu seinem Recht, als der Verlag Rainer Wunderlich in Tübingen mit bedeutsamen Vermehrungen, wozu auch die artverwandte »Zenobia« gehört, es völlig erneuert und verjüngt herausgab. 338

 


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