Isolde Kurz
Die Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen
Isolde Kurz

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Dreizehntes Kapitel

Wir begründen ein Weltbad

        Mein Haus, mein Haus am Meer.

                                Auch heute türmen
Die Marmoralpen schimmernde Pastelle
In deinem Rücken auf und draußen breitet
Sich tiefblau, endlos die Tyrrhenerwelle.
Du träumst den Segeln nach die ferne streichen,
Und an den Zauberinseln hängt dein Blick,
Die mein Erinnern Tag und Nacht umflügelt.
Es kann der Wunsch, wie glühend er sie male,
Die Schönheit, die lebendige, nicht erreichen.
Dort über Serravezza flammt im Stein
Durch all das Weiß die offne rote Wunde,
Und Wälder legen kühlend sich hinein,
Doch in der Berge weißen Flanken schläft
Die ungeborne Welt der Kunst, und oftmals
Am Abend rottet wie von innrer Glut
Sich das Gestein, als rief' es ungeduldig.
Es sinkt der Tag und wir sind unerlöst.
Glückseliger Strand, Gestade der Entrückten,
Schien wie der Ort, wo frei von irdischer Schwere
Die Helden und die Liebenden sich finden,
Wo fern der Zeit Achill und Helena
Im Schein versäumten Erdenglücks sich sonnen.
Ihr Sommer, deren Stunden leicht wie Träume 378
Der Himmlischen um unsere Stirn zerronnen!
In immer gleicher Fülle lebten wir
Unalternd, unsre Leiber waren Dinge
Aus Licht und Luft, die Sonne schien hindurch.
O Sonnenglühtrank, den ich heiß geschlürft
In jenen Sommern, die kein Ende hatten,
Du glühst noch jetzt in meinen Adern nach
Wie göttlich unverlöschbares Jugendfeuer.

(Aus »Jenseits des Blutstroms«, 1915)

Es war kein Dichtermärchen, in Forte dei Marmi alterte man nicht. Die langen, glühenden Sommer brannten alle kranken und wehen Stellen aus und gaben eine immer heile und heitere Jugend. Auch unsere Mutter, die ja nun schon in die Jahre trat, die bei den Alltagsmenschen Greisenalter heißen, blieb in ihrer geistigen und körperlichen Beweglichkeit unverändert die gleiche. Die Widerstandskraft, die sie den schweren ihrer noch wartenden Schicksalsschlägen entgegenzusetzen fand, und das Lächeln, das trotz allem bis über die Schwelle des Todes mit ihr ging, kann sie nur dort geschöpft haben. Und auch ich selber hätte nirgends als am Strand von Forte soviel Schönheit und Wärme in mir aufspeichern können, um in den kommenden dunklen Jahren nicht ganz am Leben zu verzweifeln.

Das kleine Haus, wie es jetzt dastand und mit unwahrscheinlich beseelten Augen aufs Meer hinaussah, glich einem lebendigen Wesen und nahm gleichsam die Miene seiner Besitzer an. Ganz aus schwerem Bruchstein errichtet, den aber festlich grüne Läden leicht machten, durch die angenehmen Maße und weil es ringsum frei stand, für das Auge viel größer als es wirklich war, hatte es einen ganz persönlichen Ausdruck von 379 heiterem Ernst, wozu noch die mehr breiten als hohen Fenster, das mächtige, in Länge und Quere geteilte Portal und die von Hildebrand gestiftete Marmorbank an der Außenwand das ihre beitrugen. Diese Besonderheiten waren nicht ohne die wunderlichsten Reibungen und Zwischenfälle zustande gekommen. Ich hatte meinem Bruder nur die Berechnung der Räume überlassen; für das äußere Gesicht zog ich Hildebrand zu Rat, und dieser entwarf mit Hilfe seines Schwiegersohnes Sattler die lebensvolle, von jeglicher Schablone abweichende Stirnseite. Als die Mauern aus dem Boden zu steigen begannen, ließ ich mich für den Frühwinter allein in der Nähe des Neubaus nieder, um die genaue Ausführung des Hildebrand-Sattlerschen Entwurfs zu überwachen. Denn der Werkführer, ein einfacher aber sehr geschickter Maurermeister, hatte es anders vor: er wollte kurzweg die hohen, schmalen Tür- und Fensteröffnungen, wie er sie bei Edgar und Vanzetti gebaut hatte, wiederholen, hatte auch bereits begonnen die Bogen viel zu schmal zu spannen und fuhr damit trotz meines Einspruchs fort, indem er, so oft ich mit ihm sprechen kam, sich taub stellte und aus der Dachhöhe, wo er hantierte, einen Hagel kleiner Steinchen herunterfallen ließ, um mich zu vertreiben. Da blieb mir nichts übrig, als die augenblickliche Einstellung des Baus zu befehlen. Außer sich lief der Mann zu dem Ingenieur, der dem Namen nach die Oberaufsicht führte, aber nie den Fuß auf die Baustätte setzte, und klagte ihm, ich hätte mitten unter der Arbeit Veränderungen angeordnet, die dem Vertrag widersprächen. Meine Erklärung, daß der Hildebrandsche Entwurf nichts enthalte, was gegen den Vertrag verstoße, konnte ich aber nicht beweisen, 380 weil der Werkführer plötzlich versicherte, die Zeichnung verloren zu haben; ich konnte nur darauf bestehen, daß nicht weitergebaut würde, bis das Blatt wieder zur Stelle sei. Der Ingenieur schrieb nun an Edgar, daß ich vertragbrüchig geworden sei und daß die Preisvereinbarungen hinfällig würden, wenn ich nicht von meinen unberechtigten Änderungen abstünde. Da mein rascher Bruder der falschen Darstellung glaubte und unbedingt verlangte, ich müsse mich fügen, drohte der Streitfall sich in die Familie hinein zu erweitern. Aber der Allvermittler Vanzetti übernahm es mit seiner großen Macht über die Gemüter der einfachen Leute, den Maurermeister zur Einsicht zu bringen: die verlorene Zeichnung war plötzlich wieder da und wurde haargenau ausgeführt, der Ingenieur kehrte in seinen olympischen Gleichmut zurück, und der Schuldige übernahm den durch seinen Eigensinn verursachten Mehraufwand. Nur das erregbare Bruderherz grollte mir noch eine Weile weiter, wie er in unseren Kindertagen getan hatte, wenn ich einmal anders wollte als er oder auf irgendeinem Punkt seinen Geschmack nicht teilte. Er hatte sich mein Häuschen als ein verkleinertes Abbild des seinigen gedacht: daß ich im Stil gänzlich von ihm abwich, schnitt ihm in die Seele und ließ ihn das Ungewohnte von vornherein als Überspanntheit verurteilen. Als aber der Bau in seiner Eigenart dastand und die Hildebrandsche Absicht verwirklichte, auf kleinstem Raum den Eindruck des Mächtigen zu geben, da bekehrte er sich nur zu sehr; das große Tor mit den vier Flügeln, das, wenn die unteren geschlossen und die oberen offen waren, den davorliegenden Meereshorizont mit den ziehenden Segeln wie in einem schön geschwungenen Rahmen 381 einschloß, und das ausdrucksvolle, von einem roten Ziegeldächlein wie von einer Braue überwölbte breite Fenster taten es ihm dermaßen an, daß er am liebsten sein eigenes Haus im gleichen Stil umgebaut hätte. Er ruhte auch nicht, bis er in dem wiedererwachten Wetteifer unserer Frühzeit bei einem Anbau, den er vornahm, noch Gelegenheit fand, die empfangenen Anregungen zu verwerten. Eine Kindlichkeit dieser großen Natur, die für mich etwas Rührendes hatte. – Das gäbe einen hübschen Novellenstoff, meinte wieder einmal Freund Hildebrand mit Lächeln, als ich ihm erzählte, welche Nöte es mich gekostet hatte, seinen Entwurf durchzusetzen. Heute, wo das Häuschen in einer dichten Villenreihe wie ein winziger Zwerg zwischen übermächtigen Nachbarn eingekeilt steht und nur noch durch eine außergewöhnliche gärtnerische Umrahmung den Charakter seiner Einmaligkeit bewahrt, kann man sich nicht mehr vorstellen, wie zwingend einmal das kleine Ding, noch frei in seinen eigenen Maßen stehend, mit keinem anderen Hintergrund als der vielgipfeligen Pineta und der edelgeformtesten aller Alpenketten sich dem Stilgefühl auferlegte. – Diese Alpen mit ihren aufgerissenen weißen Flanken, vielgestaltig wie die Dolomiten, aber noch nicht totes Gestein wie diese, gewaltig ohne erdrückend groß zu sein, weil sie fast übergangslos aus Meereshöhe aufsteigen, und mitten inne als Herzfleck der rote Erdbruch der Ceragiola, der damals noch nicht erschöpft und in Grau verblaßt war wie heute, sondern tiefrot aus dem Grün der Vorberge flammte, gibt es irgendwo schönere? Aber daß sie in den glücklichen Zeiten, von denen ich erzähle, auch ein Bollwerk gegen die Tramontana bildeten und damit dem Strand ein paradiesisches Winterklima schenkten, 382 davon weiß nur der kleine Rest der Ureinwohner noch, die wir bei unserer Siedlung vorfanden. Heute möchte ich niemand raten, den Winter, wie ich es des öfteren tat, im ungeheizten Haus zu verleben, den ganzen Dezember hindurch und noch im Januar zu baden und im Sommerkleid am Strande zu gehen. Was auch die klimatischen Vorgänge verändert haben mag, die Tatsache wiederholt sich neuerdings jeden Winter, daß die Apuanischen Alpen sich bis herab zu ihrem Fuß mit Schnee bedecken, der seine Kälte auf den einst so milden Strand herunterstrahlt.

Mit der Beilegung des Maureraufstands gab sich der kleine Kobold, der mir bei dem Hausbau ein Bein ums andere stellte, noch nicht zufrieden; er hatte sich unterdessen schon einen neuen Schabernack ausgedacht. Ich hatte mir ungeschickterweise einfallen lassen, bei meinem guten Mütterlein anzuklopfen, ob sie einverstanden wäre, daß ich sie einmal zu einem günstigen Zeitpunkt vorübergehend in dem Häuschen allein ließe, um ein paar Wochen deutsche Luft zu atmen und ihr dadurch Gelegenheit gäbe, sich in mein freiwerdendes Zimmer einen Gast nach ihrem Herzen einzuladen. Einen Gast! Das Wort elektrisierte sie und setzte sich auch gleich in die Mehrzahl »Gäste« um. Und ohne sich darum zu sorgen, daß wir ja überhaupt nach Edgars Willen nur zwei Zimmer hatten, das ihrige und das meinige, daß also von einem Gast nur dann die Rede sein konnte, wenn ich selber auszog – Raum und Zeit waren ihr nebensächliche Begriffe –, setzte sie sich flugs und schrieb freudeglühend ohne mein Wissen gleich drei Einladungen schon für den kommenden Sommer. Ich fiel aus den Wolken, als ich von allen drei Seiten fast gleichzeitig die 383 jubelnde Zusage erhielt, die Ferien mit uns auf unserer »Meervilla« zu verbringen. Eine gute Seele hatte sogar schon den Koffer gepackt, um auf den ersten Wink reisen zu können. Um die Drastik der Lage noch zu erhöhen, kam um die gleiche Zeit aus Forte eine Beschwerde des obbelobten Maurers, die von meinem Bruder angegebenen Maße der Treppe seien falsch, es sei überhaupt bei den Raumverhältnissen nicht möglich, von dem Untergeschoß eine Treppe ins obere zu führen. Jetzt aber geriet Edgar in Brand, denn was er anordnete, das wußte er richtig! Er opferte einen Tag und fuhr nach Forte, zeichnete dem Mann die Stufen an die Wand und hinterließ ihn überzeugt und beruhigt. Mir aber fiel die peinliche Aufgabe zu, gleich sämtliche Einladungen zu widerrufen, was, wenn es auch mit den besten Gründen und mit der trostreichsten Aussicht auf die Zukunft geschieht, doch einen leise bitteren Nachgeschmack läßt. Freilich lieferte die noch mangelnde Treppe eine ausgiebige Entschuldigung.

Aber als ich dann im Frühsommer einziehen konnte, als die ewig Heimatlose, wider Willen Schweifende, nun einmal wirklich und ausschließlich eigenen, durch Arbeit erworbenen Grund und Boden unter den Füßen hatte, da versanken die ausgestandenen Nöte vor der tiefen inneren Befriedigung. Es ist kaum zu glauben, wie sehr das Bauen auf eigener Scholle, gleichviel ob groß oder klein, das Selbstgefühl hebt und dem Leben gegenüber eine ganz andere Sicherheit gibt. Die »unsicheren Sohlen« haben mit eins, wo sie haften, das vorher schattenhafte Dasein erkennt sich selbst als Wirklichkeit, wenn es sieht, wie fremde Hände sich in seinem Dienste regen. Mein Häuschen äußerte auch gleich seine Anziehungskraft für alles 384 Gute: zu jeder Tür zogen Freude, Friede und Freundschaft ein. Hildebrand schmückte die kleine Eingangshalle mit anmutigen Wandzeichnungen in Kohle und Pastell, die freilich mehr sein Gedankenreich ausdrückten als das meinige; ich fühlte mich sogar anfangs nicht völlig heimisch unter den wohlig und willenlos hingelagerten Gestalten, die von Eroten umschwärmt mit der Fülle eines goldenen Zeitalters tändelten. Aber von oben sah ein ernster Dichterkopf, Homer, in das halkyonische Leben hinein, die Wiederholung des Meereshorizonts im Hintergrund erweiterte den Raum, und weitgespannte Fruchtgewinde vermittelten gar schön den Übergang der Wände in die Treppe. Ich gewann denn auch in der Folge die stillen Mitbewohner lieb, und sie leiteten mir ja in der Tat eine lange Reihe schönster, beinahe sorgloser Sommer ein. Viele Hände waren geschäftig, mir mein Häuschen verschönern zu helfen. Der junge Sattler stiftete die Zeichnung zu dem holzgeschnitzten Treppengeländer, wodurch der Innenraum seinen harmonischen Abschluß fand. Erwin, der sich aus Deutschland einstellte, bannte mir auf die noch ungetünchte Wand meines Arbeitszimmers dem Schreibtisch gegenüber eine heiter-ernste stehende Muse, deren Gegenwart mir so wohltat, daß ich mich erst nach Jahren entschließen konnte, die Wand überstreichen zu lassen. Auch Thole kam im ersten Jünglingsalter und brachte mir einen seiner tönernen Ritter auf gewappnetem Roß, woran er sich schon als Knabe versucht hatte. Wer sich am allertätigsten um die Ausschmückung des neuen Hauses mühte, war Römer, der wie die anderen Freunde aus Florenz nachkam. In seiner zugreifenden Art warf er sich gleich auf die Inneneinrichtung, zeichnete die noch fehlenden 385 Stücke des Hausrats, die alle dem ländlichen Stil des Ganzen angepaßt sein mußten, half mir Türen, Geländer, Wandschränke mit festlichen Farben streichen, malte die griechische Inschrift, die mir der Philologe unter meinen Freunden, Ernst Mohl in Petersburg, verfassen half, auf den Deckenbalken, nahm auch gleich alle Gegenstände, Menschen, Fernsichten auf seine photographische Platte und verbreitete wie immer viel Bewegung um sich her, wobei er die liebenswertesten Seiten seines Wesens entfaltete. Das Gelungenste, was von seiner Hand in Forte dei Marmi zurückblieb, sind die zwei schönen, in Stein gehauenen Fische rechts und links vom Eingang. In den schildartigen Schlußstein des Torbogens meißelte er das astronomische Zeichen des Steinbocks, mein selbstgewähltes Wappen, das auch schon im Innern angebracht war, ein. Längere Zeit stand diese Bekrönung zu meinem Danke. Da fand Hildebrand eines Tages, daß ein bloßes Symbol als Abschluß oberhalb des in den Fischen dargestellten lebendigen Lebens unbefriedigend wirke. Ich dachte anders, denn ich vermochte in dem Zeichen des Steinbocks, als dem Ausdruck für den bedeutsamsten Himmelsvorgang, die Auferstehung des Lichtes, nichts Tadelhaftes zu erblicken, da doch das Symbol einer anderen Auferstehung, das Kreuz, die höchsten Dome krönt. Aber ehe ich mich's versah, war der Stein von der Hand, die ihn gemeißelt hatte, zerhauen und verstümmelt; es war auch gleich ein neuer Stein beim Steinmetz bestellt, worauf ein figürliches Relief ausgeführt werden sollte. Allein der Stein wurde nicht rechtzeitig geliefert, das Leben schob sich mit seinen Zufälligkeiten, Mißstimmungen und Mißverständnissen dazwischen und die Bekrönung des Tores blieb für immer 386 verstümmelt, nun selber Symbol für eine durch lange Jahre schön gewesene und am späten Ende, mehr noch durch fremde als durch eigene Schuld der Beteiligten, in lauter Dissonanzen auseinandergesprungene Freundschaft.

 

– – Das Einrichten eines neuen Hauses gehört gewiß zu den reinsten und erlesensten Freuden des Lebens. Es ist die Rückkehr in die glückliche Seele des Kindes, das seine Puppenstube nicht schön genug ausstatten kann. Und wenn die Mittel nicht von Anfang an da sind, um alles auf einmal auszuführen, sondern erst durch geistige Arbeit nach und nach erschwungen werden müssen, so dauert die unschuldige, sich immer erneuernde Freude nur um so länger. Das Tischgeschirr hatte ich schon im Lauf des Winters bei Cantagalli brennen lassen nach einem schönen ländlichen Muster, dessen freudige Farben in die Farbigkeit des Hausgeräts einstimmten, denn nach den harten Jahren, die hinter mir lagen, sollte in dem Sonnenhäuschen, wie wir es nannten, alles auf Schimmer und Freude gestimmt sein. Es durfte mir fortan kein Tag vergehen ohne eine neue Verschönerung, und wenn es nur ein selbstgefertigtes Stuhlkissen war. In all dem Umtrieb nahm sich meine gute Mutter wie ein herzugeflogener kleiner Vogel aus, der vom Gesimse her verwundert zuschaut, was die Menschen alles zum Dasein nötig haben. Aber sie war glücklich. Der Stachel, der sie rastlos von Edgar zu mir, von mir zu Edgar trieb, ruhte, denn unsere Häuser lagen nur hundert Schritte voneinander.

Noch schöner als Bauen und Einrichten war das nächste Geschäft, was ich in Angriff nehmen durfte: das Anlegen eines 387 Gartens; dieses verband die versprengte Seele erst ganz mit den Heilkräften der Erde. Das Grundstück, das die neuen Häuser trug, war zuerst Vigna gewesen und brachte Trauben vom seltensten Wohlgeschmack hervor, allein man konnte sie nicht erhalten, weil das Landvolk sich in unserer Abwesenheit in der Pflege nicht zuverlässig erwies. Es blieb nichts übrig als die kostbaren Rebstöcke auszuraufen und an ihre Stelle zuerst Lupinen, dann Pinien zu säen, die schnell emporwuchsen und Schatten gaben. Im übrigen verfiel ich in den Fehler der meisten Neulinge, gar nicht lange zu fragen, was Boden und Lage hergeben können, sondern nur was meinen Augen wohlgefiel, und ich zahlte viel Lehrgeld in den ersten Jahren. Da waren mit eins die schönsten Baumgruppen schon in voller Höhe wie Kulissen aufgestellt, aber fast ebenso schnell verschwunden, weil der Sand sie nicht nähren konnte; anderes zerfraß mir der Seesturm, der eine Salzkruste niederschlägt, wovon das zartere Blattwerk sich wie Zunder bräunt und schwindet. Nicht einmal die mit viel Mühe und Kosten von den Vorbergen herabgeführten Ölbäume wollten mir richtig Fuß fassen, und um die Zypressen kämpfte ich Jahr um Jahr einen harten Kampf. Schließlich sah ich wie die anderen ein, daß nur das hartgewohnte Geschlecht der Pinien und Steineichen, wozu sich später noch der tapfere, allen Wettern trotzende Oleander gesellte, und als Umzäunung der dickblättrige Evonimus wie auch der Lorbeer, allen Unbilden des unfruchtbaren, sturmdurchtobten Strandes gewachsen waren. Manches lernte ich von dem Beispiel meines Nachbars Vanzetti, der ein leidenschaftlicher Gärtner war und mir mit der Anlage seines Gartens um ein Jahr voraus. Er schaffte mit 388 Feuereifer, und was ihm am schönsten gedieh, davon brachte er mir die Ableger, die sogleich einwuchsen und weitertrieben, weil ja der Mutterstamm schon heimisch war. So konnte ich schnell zwei lange Pappelreihen durch die ganze Tiefe meines Gartens ziehen; es war der einzige Laubbaum der sich anpaßte, und er wuchs in wenigen Jahren höher als das Dach des Hauses, weil noch keine Nachbargärten mit eindringendem Wurzelwerk ihm Raum und Nahrung schmälerten. Mit Pfirsichbäumchen hatte ich gleichfalls Glück, nur daß mir die Früchte weggenascht wurden, bevor sie reiften; auch Rosen und andere Blumenarten gaben sich mit der bescheidenen Nahrung zufrieden. Das Wasser mußte noch aus dem runden ländlichen Ziehbrunnen am langen Strick geschöpft werden: es war ein im Wetteifer betriebenes Kunststück, den Eimer so hinabzustürzen, daß er sich im Kippen füllte und von selbst wieder aufrichtete, um voll in die Höhe gezogen zu werden. Unzählige der schweren Eimer zog ich Tag für Tag nach Sonnenuntergang und in der ersten Morgenfrühe unter dem ängstlichen Widerspruch meiner Mutter herauf, um alle meine Anpflanzungen zu tränken. Dafür feierte meine Gartenkunst auch einen Triumph, als ich zuerst von allen neuen Ansiedlern einen Regenwurm aufzuweisen hatte zum lebendigen Beweis, daß sich mir der Sand in Humus zu wandeln begann. Einen noch viel größeren Triumph sollte ich erleben, als es mir mit der Zeit gelang, die vor meinem Hause stehengebliebene, nur dem Portal gegenüber durchbrochene künstliche Düne zur Trägerin einer phantastisch üppigen tropischen Flora zu machen. Ursprünglich war das ganze Gelände, worauf jetzt unsere Häuser standen, von ebensolcher Düne geschützt gewesen; die anderen 389 Käufer hatten sie eingeebnet, um Vorgärtchen zu ziehen, die nur der Gewalt des Meeres gegenüber zu kleinlich schienen. Niemand begriff meine Hartnäckigkeit, die zwei nackten Sandhügel Jahr für Jahr vor meinem Hausen stehenzulassen, die allen ein Dorn im Auge waren. Aber ich wußte was ich wollte. Ich gab ihnen eine etwas gefälligere Form, versenkte dann Lasten schwerer Bausteine darein und bepflanzte sie zunächst mit Strandhafer, um sie gegen Regengüsse und Stürme zu festigen. Danach bekamen sie noch mehrere Jahre hindurch nur das schnell wuchernde dicke Kraut »Fetthenne« genannt zu tragen, das sie ganz mit seinem dunklen Grün und im Sommer mit großen roten und gelben Blüten überschüttete, bis sie gründlich mit Wurzelwerk durchflochten waren. Dann aber pflanzte ich die stachelbewehrte, sich rasch verbreitende Aloe an und in Reihen die hochstrebende Jukka; aus ihrer messerscharfen Blätterkrone schoß im Frühjahr und Herbst der mehr als meterlange Stengel mit dem mächtigen weißen Blütenkandelaber empor, der die holde Gestalt des Maiblümchens verriesenfacht und seine schneeigen Glocken im Mondlicht wie Feenleiber schimmern läßt. Ich liebte jedes einzelne meiner Sonnenkinder und sprach sie an, als warteten sie auf den Zuspruch des Menschen, was ich heute noch überzeugter glaube als damals. Meine Pflanzung vermehrte sich mit unglaublicher Schnelligkeit, das indische Gras mit seinen hohen hellen Büscheln wedelte im Seewind darüber, und die dichtbewachsenen, unbetretbaren Hügel gaben mit ihren nach allen Seiten starrenden Waffen den Eindruck eines ebenso phantastischen wie wehrhaften Bollwerks, das jedoch trefflich dem Stil der Landschaft entsprach. Kein Wanderer, der nicht 390 überrascht vor der dichten hochgetürmten grünen Fülle inmitten der weiten unbebauten Sandwüste stehenblieb, und mancher nahm das Bild heimlich in seiner Kamera mit. – Vielleicht war es kindisch und ist es in der Wiedererweckung noch, den Bau des kleinen Gartens so wichtig zu nehmen. Für mich war er mehr, er war mir die erfüllte Sehnsucht eines von vornherein ins Geistige gepflanzten Daseins nach seinem anderen Pol, dem Stofflichen. Wenn meine Hände im Erdboden pflanzten und schafften, so war mir als würde ich durch dieses Tun im greifbar Wirklichen erst ein ganzer Mensch. Keine vom Gärtner geschaffene noch so große und herrliche Anlage hätte mir nur ein Hundertstel von dem Glücksgefühl gegeben, das mich beim Anschauen meiner eigenen kleinen Schöpfungen durchdrang. Sie schienen die Liebe, womit ich sie anblickte, zu fühlen und durch ihr freudiges Wachstum erwidern zu wollen. Denn Liebe ist das irdische Sonnenlicht; nichts Lebendes, und stünde es auf der untersten Stufe, widersteht ihm.

Schnell wuchs die Siedlung. Auf der einen Seite, dem Dorf zu, bauten sich Hildebrands und Fasolas, später die Witwe des Zoologen Dohrn aus Neapel mit großen Villen an, auf der anderen in der Richtung auf den Fiumetto die verwitwete Frau Angela Böcklin und ihr Schwiegersohn Bruckmann, alle in weiten Abständen mit größeren Gartenanlagen dazwischen. Die neuen zogen ihre Freunde nach, aber noch wachte Edgar als Pfadfinder und erster Ansiedler über die Zulassung, daß keine banausischen oder snobischen Elemente eindrangen, die den auf adlige Freiheit gestellten Geist des kleinen Menschenbundes gefährdet hätten. Er durfte so wählerisch sein, 391 denn es waren alles Klienten von ihm, die ihm nachzogen um auch in der Sommerfrische die Nähe ihres ärztlichen Beraters nicht zu entbehren. Man lebte wie eine große Familie, fand sich am Strand zusammen, besuchte sich gegenseitig in den aus Schilf errichteten, mit Laubwerk gedeckten Badehütten, wo man halbe Tage mit einer Arbeit sitzen konnte. Ein modisches Treiben wie in anderen Seebädern durfte es in Forte nicht geben, größte Einfachheit war Gebot; die Damenwelt begnügte sich mit den von mir erfundenen Meergewändern von griechischem Schnitt, die so schön im Seewind bauschten; am allerschönsten ließen sie sich aus der billigen weißen Nessel herstellen, die, wenn feucht ausgewunden, die schöngebrochenen Falten ergab, wie man sie auf der antiken Plastik sieht. Die meiste Zeit des Tages gehörte dem Bad und dem Lagern auf heißem Sand, wo Gesicht und Glieder bräunten. Die Neulinge mit ihren weißen Gliedmaßen, die an abgezogene Häslein erinnerten, wurden ausgelacht, die weißesten waren immer die Besucher aus Deutschland, aber die Sonne gab auch ihnen schnell den Stempel. Bei hohem Seegang wurden lange Ketten gebildet, die sich bei den Händen hielten, damit das schwächere Geschlecht nicht weggerissen würde, und dann sprangen alle mit der Welle. Die Vorkehrung war nicht unnütz, denn das Meer hatte, wenn der Libeccio längere Zeit blies, unsichtbare, höchst gefährliche Strömungen, denen schwer zu widerstehen war; erlebte ich es doch einmal, daß in nächster Nähe, fast in Greifweite, ein Freund des Hauses, der ein geübter Schwimmer war, ohne daß wir es bemerkten, mit verzweifelter Anstrengung um sein Leben rang und noch lange danach blaurot im Gesicht kaum den Atem wiederfinden 392 konnte. Auch wurde bei starkem Sturm der Grund völlig umgewühlt, es entstanden lockere Sandablagerungen, die unter dem Fuße wichen, und daneben tiefe Schachte, die den unerfahrenen Schwimmer mit einem Wirbel einschluckten. So kam es, daß jeden Sommer das Meer sich die eine oder die andere Beute unter den Badenden einfing; es traf nicht die Ansiedler, die mit allen Tücken vertraut waren, nur die schwer zu warnenden Zugereisten. Auf Sankt Anna, so hieß es im Volksmund, habe das Meer jährlich das Recht an ein Opfer. Rettungsanstalten gab es damals noch keine, die Badewärter, die sich mit der Zeit am Strande einfanden, konnten großenteils selber nicht schwimmen (ein Mißstand, den der Faschismus abgeschafft hat), und ein Boot vermochte sich in der tobenden Brandung nicht zu halten. Drei bis neun Tage brauchte jedesmal der Libeccio, bis er sich ausgetobt hatte. Danach schwamm es sich selig in der wiederberuhigten, sonnespiegelnden Flut; glashelle, blaugeränderte Medusen, schön zu sehen wie Blumen des Meeres, schwammen mit; nur ihre Berührung, die ziemlich stark brannte, mußte man vermeiden. Aber dasselbe Glücksmeer, das uns Menschenkinder beseligte, lockte die armen betörten Zitronenfalter und andere Tagesschmetterlinge in den Untergang; sie konnten der gleißenden Fläche nicht widerstehen, flatterten hinaus und immer weiter, bis sie ermüdet sich nach Rast umschauten. Oft habe ich ihnen draußen meinen Badehut als Meerschiff angeboten, um sie heil zurückzubringen, aber sie wollten nicht, versuchten es lieber mit der Welle, fuhren erschrocken wieder auf, um nach wenigen Flügelschlägen abermals niederzugehen, wobei sie spurlos verschwanden. – Unterdessen plätscherte unser 393 Mütterlein wonnevoll in dem seichten Uferwasser, das so durchwärmt war, daß Edgar es das Kinderbad nannte; für sie war es der Jungbrunnen, der sie durch das ganze Jahr gesund und frisch erhielt. Daß ihr Sohn ihr die Anfangsgründe des Griechischen beibrachte und daß wir ihr danach zusammen die »Altgriechischen Unterrichtsbriefe zum Selbststudium« von Koch zum Geburtstag verehrten, an denen sie sich auch allein weiterhelfen konnte, das vollendete ihr Glück.

Die körperliche Seite des Hellenentums verwirklichte Vanzetti, der Herr des Naturlebens. Er sammelte die Jugend um sich, stellte Turngeräte vor seinem Hause auf und begeisterte sie für die damals noch wenig gepflegte Gymnastik. Wie er selber stolz auf seinen Wuchs eines antiken Ringers war und nie anders als halbnackt und tiefgebräunt gesehen wurde, so zog er in Forte ein junges Geschlecht heran, das bei Wettlauf, Ringkampf, Rudern, Ballschlagen und Bocciaspielen seinem Meister auch äußerlich ähnlich wurde und mit dem er allsommerlich seine Olympiade feierte, ohne wohl je von Olympia gewußt zu haben. Heute würde er mit seinen Erfahrungssätzen von der Physiologie der Bewegung und dem Einfluß der gymnastischen Wettspiele auf die Charakterbildung nur offene Türen einrennen; damals waren sie überraschend, und es bedrückte ihn einigermaßen, daß er sich viel zu flüchtigen Geistes wußte um sie schriftlich festlegen zu können. Auch die Sonnenbäder, die er am Strand für seine mitgebrachte Klientel einführte, bildeten lange Zeit eine bestaunte oder belächelte Neuheit. Für ihn bestand der Beruf des Arztes weniger im Heilen als im Verhüten von Krankheiten, und lieber als Leistungen am Krankenbett mochte er sich von den Klienten die 394 Zeit vergüten lassen, wo er sie gesund erhielt. So legte er auch den größten Wert darauf, überall, wo er gerufen wurde, selber in strahlender Verfassung zu erscheinen, weil es ihm feststand, daß der Arzt dem Patienten mit dem Beispiel der Gesundheit vorangehen müsse. Er sagte von sich, daß er nicht mit dem Kopf denke, sondern mit den Poren der Haut, und in der Tat besaß er in seinen aufs äußerste verfeinerten Sinnen Wahrnehmungsorgane, die ihm Erkenntnisse aus der Natur zutrugen, ohne daß er sich mit ihrer geistigen Verarbeitung quälte, weil sie kaum über die Sphäre des Körperlichen hinausdrangen. Die Natur hatte diesen Menschen wie kaum einen anderen zum Glücklichsein ausgestattet. Wenn er frühmorgens über die Felder ging, so schlürfte er Wonnen ein; alle blühenden Büsche, die harzduftenden Bäume, die aromatischen Kräuter trugen ihm ihre Wohlgerüche zu und er schwelgte noch im Beschreiben. In dem Streichen der Morgenluft über seinen nackten braunen Oberkörper wollte er schmeichelnde Nymphenfinger erkennen; so war ihm in der Tat jede Pore seiner Haut eine Tür, um das Glück einzulassen. Ebenso glücklich waren seine Augen, die jede Schönheit der Landschaft bis herab zu der feinsten Schattierung des Grüns der Felder wahrnahmen. Gute Musik, gleichviel ob ernsten oder heiteren Charakters, versetzte ihn in einen Glückstaumel, ohne sein Gemüt zu erschüttern; widrige Geräusche dagegen, wie sie den feinnervigen Edgar zur Verzweiflung brachten, erreichten ihn gar nicht. Der ganze Mensch war die notwendige Skala von Komplimentärfarben zu der Farbenskala seines schwierigen Freundes.

Wie er mir die Ableger seines Gartens brachte, daß sie in meinem Garten lustig weitertrieben, so trug er mir auch aus 395 seinen persönlichen Erfahrungen zu, was mir für meine künstlerischen Zwecke dienen konnte, mit der Erlaubnis, daraus zu machen was ich wollte. Mancher besondere Zug, den ich in der Dichtung verwenden konnte, war eine schnell gepflückte Ranke aus dem Lebensgarten des erlebnisfrohen Freundes. In meinen Aufzeichnungen finde ich ein paar Strophen, die von diesem heiteren Verkehr zeugen:

Von deinem Garten
in meinen Garten
trugest du manche
Sträucher und Bäume,
hast mir viel Blumen
am sonnigen Orte
– nicht eine verdorrte –
weihend gepflanzt.

In meinem Garten
wachsen viel Bäume,
blühen viel Blumen
aus deinem Garten,
die ich gezogen,
die mein geworden,
die mir mit Früchten,
die mir mit luftigen, duftigen Ranken
die Pflege danken.

So auch entschwirrten
aus deinem Busen
in meinen Busen 396
viel schnelle Gedanken
und Bilder des Lebens.
Sie wurden mein eigen,
sie trieben Keime,
sie kehrten wieder
in Maß und Reime
als neue Lieder.

Siehe, sie haben ein andres Gesicht,
wenn du sie siehst, du erkennst sie nicht.

Eine solche Ranke von fast orchideenhafter Seltsamkeit überbrachte er mir einmal eines späten Abends in Florenz, als ich schon meine schöne Wohnung an der Via de' Bardi innehatte. Er ging in der Nachtluft spät noch den Lungarno entlang, um sich die Stirn von einer fiebernden Erregung zu kühlen. Da sah er das Licht meiner Lampe im Fluß gespiegelt und klingelte an, ob ich ihn noch empfangen könne. Ich sah gleich, daß er etwas Außerordentliches erlebt hatte, das er sich von der Seele reden mußte. Er kam vom Sterbebette der Tecla Vanda, eines wunderschönen jungen Mädchens, der Tochter armer Leute, die er durch Monde an der Tuberkulose hinsiechen sah, ohne ihr anders helfen zu können als durch die fromme Täuschung, daß sie in Bälde ganz gesund sein werde, worauf sie mit einer an Abgötterei grenzenden Gläubigkeit vertraute. Als ihre Stunde kam, hatte er die plötzliche Eingebung, das arme Kind noch einen niegeahnten Glücksrausch erleben zu lassen. Er gab ihr Champagner, den sie noch nie verkostet hatte, mit Morphium versetzt zu trinken und erklärte ihr das eintretende Ohrenklingen als eine herrliche, auf sie wartende 397 Festmusik. Unter seiner Suggestionskraft sah sie alles, was er sie sehen lassen wollte: sich selbst in weiße schleppende Seide gekleidet, mit Blumen im Haar, an seinem Arm den Festsaal betretend, wo Herren und Damen sie an geschmückter Tafel begrüßten. Auf ihre ängstliche Frage, wie sie in die vornehme Gesellschaft komme, beruhigte er sie, daß ihre eigene vornehme Abkunft entdeckt sei und ihr Vater nicht länger der arme Fuhrmann, der er bisher gewesen, sondern ein reicher Majoratsherr, der jetzt seine Besitzungen zurückerhalten habe. Alle diese edlen Damen und Herren seien nur zu ihrem Empfang erschienen. Er selber, ihr Ritter, brachte den ersten Trinkspruch auf Tecla Vanda als Königin des Festes aus und nötigte ihr noch mehr von dem verwirrenden Getränke auf, während die Gäste sie mit erhobenen Gläsern umdrängten. Dem armen Kind schwankten die Sinne in einer Ekstase von Liebe, Stolz und Seligkeit. Auch das plötzliche Scharren und Schnauben des Kleppers im Stall, der nebst dem Fuhrmannskarren der einzige Besitz des Hauses war, durfte den seligen Zauber nicht brechen: zwei Rosse edelster Zucht, von einem Pagen gehalten, standen im Hof und warteten auf die schöne Reiterin. Er hob sie aufs Pferd, bestieg das andere und führte sie in brausendem Ritt, der zuletzt durch die Lüfte ging, aus dem Festjubel, aus der Stadt und aus dem Leben hinaus. Die Einbildungskraft und Darstellungsgabe dieses Mannes waren so außerordentlich, daß auch die Angehörigen und ebenso er selber von dem gleichen Rausch erfaßt wurden wie die arme Tecla. Alle horchten sie atemlos auf den verhallenden Hufschlag der Pferde und sahen die Reiterin in den Lüften entschwinden. Noch immer während er mir den Vorgang mit mancherlei 398 aus dem Zusammenspielen von Traum und Wirklichkeit entsprungenen Einzelheiten erzählte, stand er völlig unter dem Banne des Erlebten und fand nicht Worte genug, die ihn selber überraschende Wirkung des plötzlichen Einbruchs der Phantasie in ein ganz unbebautes, bisher nur von Alltagseindrücken erfülltes Seelenleben zu schildern. Ich sagte, er habe eine Dichtung gelebt, um die ihn ein Dichter beneiden könne; ich wolle jetzt versuchen, ihr eine beständigere Form zu geben, damit sie diesen Abend überdauern könne, und schrieb danach das Gedicht »Die Kavalkade«. Er hatte mich noch gebeten, Edgar ja nichts von dem Vorgefallenen zu sagen, denn er scheute sich mit seinen medizinischen Flunkereien immer ein wenig vor des Freundes strenger wissenschaftlicher Sachlichkeit. Aber ich kannte die Dichterseele meines Bruders besser: der Sterbetraum Teclas tat es ihm ebenso an wie mir, als ich ihm die Szene erzählte.

In den Weihnachtstagen schickte mir Freund Carlo ein feingestochenes Kärtchen, das ihm von den Angehörigen verehrte Sterbebild Tecla Vandas, und schrieb, daß er sie noch einmal gesehen habe. In der Christnacht sei sie, umgeben von Cherubim, durch die Wolken vorübergebraust und habe ihm einen Gruß herabgewinkt.

Ich fügte der fertigen Ballade noch eine Strophe hinzu, die ich ihm schickte:

In der Christnacht hört er's noch einmal ziehn
Durch die Lüfte mit brausenden Hufen:
Die Kavalkade der Cherubim,
Draus hat ihm Tecla gerufen.

399 Die sterbenden Frauen waren überhaupt ein Sonderfach, das dieser wunderliche Künstlergeist unter den Ärzten mit Vorliebe pflegte, denn er liebte die Frauen, nicht nur die jungen und schönen, sondern das ganze Geschlecht an sich. Irgendeiner armen glücklosen Seele die letzte Stunde zur schönsten ihres Lebens zu machen, ihr den Übergang durch die Phantasie zu verklären, dafür erfand er immer neue zärtliche Formen: die eine führte er im bewimpelten Boot hinweg, die andere ließ er in einem glückseligen Waldspaziergang zu zweien, wofür er ihr eine dichte Mooslage unter die Füße und Waldkräuter unter das Kopfkissen schob, die Seele verhauchen. Solche Kräuter, in Wald und Wiesen gepflückt, trug er immer frisch in der Tasche und erquickte damit den Schlaf seiner Fieberkranken, daß sie das Bett vergaßen und sich in das Grün der Wälder und Felder hinausträumten. – Meine Ballade »Peregrinas Schlaflied«, zuerst unter dem Titel »Euthanasia« in der »Jugend« gedruckt, geht gleichfalls auf den Einfluß der von dem ärztlichen Freunde geübten Euthanasie zurück; sie ist dichterisch vollkommener geraten als die »Kavalkade«, weil sie keine Züge der Wirklichkeit, die im anderen Falle bestimmend waren, mitzuführen brauchte.

Es versteht sich, daß ein solcher Frauenlob nicht nur mit den sterbenden Frauen sich abgab. Ihm gefielen alle. Es gab für ihn eigentlich keine häßliche Frau. An jeder Vorübergehenden entdeckte er eine Schönheit, und wenn sie gar nichts für sich hatte als einen anmutigen Gang, so entzückte ihn dieser. Und es versteht sich ebenfalls, daß ihm seine Gefühle noch feuriger zurückgegeben wurden, woraus sich die vielen kleinen Dramen entwickelten, aus denen er sich ebenso leicht wieder 400 herauswickelte, denn in der Nähe solcher Naturen gibt es keine Tragik. Man könne die Frauen nur ein Stück weit tragen, meinte er, dann machten sie sich allemal schwer und man müsse sie wieder absetzen. Wenn die also Abgesetzten ihre Klagen erhoben, so tröstete er sein Gewissen damit, daß sich doch eine jede früher oder später wie alle ihre Vorgängerinnen, wenn sie in irgendeine ernstliche Not geriet und eines Helfers bedurfte, wieder an ihn wenden würde, und nie vergebens. Man konnte ihn dem Gösta Berling vergleichen, der an jedem Finger ein Frauenwesen hängen hat und doch immer allein bleibt. – Einmal hatte er sich auf Mütterleins Zureden zu einer reichen Witwe entschlossen. Allein er war so zerstreut, daß er die Verlobung vergaß und ohne es böse zu meinen der Braut keine Zeile mehr schrieb, bis sie die Geduld verlor und ihm seinen Ring zurückschickte, worüber er sich freute wie über ein großes Geschenk. Den von ihr empfangenen, den er nicht getragen hatte, betrachtete er bei dieser Gelegenheit zum ersten Male genau und fand, daß wer einen so protzigen Diamanten schenke, gewiß kein guter Mensch sei.

 

An einem der glücklichen Sommer von Forte – oder waren es zwei? – erschien auch D'Annunzio unter den Badegästen. Er wohnte auf einer älteren landeinwärts gelegenen Villa – mit der Duse, so hieß es, die aber nie zum Vorschein kam –, und mit Pferden von edelster Zucht, sowie ebensolchen Hunden, einer ganzen Meute, die zuweilen mit ihrem Getobe den Übergang über den Fiumetto wehrten.

Vor allen andern Dichtern jener Tage war er der wahre Exponent und zugleich der großartigste Auswuchs des Zeitgeistes. 401 Sein bacchantischer Ruf: Gioire! Gioire! (genießen!) schlug in der Jugend aller Völker ein, die Maßlosigkeit seiner Genußsucht wirkte wie eine Seuche. Ich hörte von Fällen, wo wie in Goethes »Vergöttertem Waldteufel«, hinter dem sich ja auch ein Großer aus dem Reiche des Geistes barg, junge Töchter von ihren Müttern dem neuen Naturgott vorgestellt wurden, damit sie anbeteten und seinen Segen empfingen. Ich wünschte diesem Manne niemals zu begegnen. Man brauchte mir gar nichts von seinem unritterlichen Verhalten gegen edle Frauen zu erzählen, ein einziges Wort von ihm in seinen Romanen genügte, um seine schnöde Überheblichkeit der Frau gegenüber zu kennzeichnen. In der italienischen Sprache heißt der männliche Partner in der Liebe l'amante – der Liebende – ebenso wie der weibliche. Bei D'Annunzio aber hieß der Liebhaber, unter dem er sich selber verstand, denn er konnte ja von nichts anderem reden, betonterweise nur l'amato, also derjenige, der geliebt wird, der Gegenstand der Liebe! – Einmal sah ich ihn doch vorübergaloppieren; er hatte dem edlen Tiere, das er ritt, in der glühenden Hitze den Schweif abnehmen lassen und schwang das flatternde Prachtstück wie eine Trophäe vor sich her. Die Pein des Pferdes, das sich der umschwirrenden Stechmücken und Bremsen nicht mehr erwehren konnte, klagte die Fühllosigkeit des Besitzers an. Damals kannte ich freilich seine Laudi nicht, die um jene Zeit entstanden sein mögen und die mir nachmals eine andere Meinung, nicht von dem Menschen, aber von dem Dichter D'Annunzio gaben. Ein solches Singen, Quellen, Sprudeln, Schillern, Schäumen, Sichkräuseln und Wirbeln der Sprache, in die alle Zauber des Meeres und der Wälder gebannt sind, gab es in 402 der italienischen Dichtung nie zuvor; er hat sie aus der starren Statik erlöst, in die Carduccis Monumentalstil sie gebannt hielt, und wenn alles andere an diesem Manne kalter Glanz war, so doch eines nicht: seine tiefe Andacht zur Sprache, der er mit der Inbrunst eines Verliebten nachging, wo er sie aus dem Munde alter toskanischer Bäuerlein als an ihrem Ursprung auffangen konnte. Nach den Laudi konnte man ihm viel verzeihen, nur nicht die verratene bloßgestellte Duse.

An jenem Sommer begegnete Freund Fasola vor dem Dorf einem Bäuerlein, das mit einem verdeckten Korb aus der Berggegend herunterkam und sich bei ihm nach dem Wohnsitz der Signora Nunzia erkundigte. Fasola, der von dieser Dame nichts gehört hatte, fragte seinerseits nach dem Zweck der Frage, da deckte der Landmann eine Birne von ungeheurem Umfang auf und sagte, diese Riesenfrucht sei in seinem Baumgut gewachsen, aber da oben könne sie niemand bezahlen, deshalb habe man ihm geraten, sie der Signora Nunzia unten am Strande zu bringen, das sei eine sehr großspurige und auf alles Außerordentliche erpichte Dame, die sie ihm gewiß abnehmen werde. Nun wußte der Frager Bescheid, riet jedoch dem Bäuerlein, sich das Suchen nach besagter Dame zu sparen und lieber ihm die Birne zu verkaufen, da auch er ein Liebhaber von großen Dingen sei. So kam die Luxustafel des Dichters an jenem Tage um eine Merkwürdigkeit. Ich erzähle den Spaß nicht des Spaßes halber, sondern als Warnung für die Ruhmgierigen: unten am Strand der Dichter Italiens, der »Poeta« – d. h. der einzige, der neben Dante mit dem großen P geschrieben wurde – und wenige Kilometer landeinwärts eine von Größensucht besessene Dame Nunzia! –

403 Die Duse! Nachdem ihr Name genannt ist, bleibe ich einen Augenblick stehen, ihr die gebührende Huldigung zu erweisen. In dieser Zeitgestalt hat die Jahrhundertwende ihren weiblichen Ausdruck gefunden wie in D'Annunzio ihren männlichen, auf dessen herrischen Ruf »Gioire!« sie mit dem verzückten Gegenruf »Servire!« Antwort gab. Arme, arme Duse! Williges Opfer letzter furchtbarster Hörigkeit!

Die Duse gehört nicht mehr in das Heldenzeitalter der italienischen Schauspielkunst, ein breiter Trennungsstrich schied sie von dem Tommaso Salvinis. Zwar hatte sie in ihren größten Augenblicken wie dieser noch den Urlaut und den jähen Ansprung der Leidenschaft, aber im übrigen spielte sie Nerven; der große Stil war durch den Zeitgeschmack zerfasert, aus ihren Rollen hatte sie ihn nicht lernen können. Was sie darstellen mußte, war fin de siècle, Problematik, bürgerliche Dekadenz. Aber sie leerte ihre öden Rollen aus von dem Kitsch und tat Menschentum hinein, ihr ganzes gequältes Frauentum. Man muß sie gesehen haben, wie sie als Marguerite Gautier von ihrem Liebesnest Abschied nimmt, jeden Gegenstand, woran ein Glückserinnern hängt, noch streichelnd, hastig, fahrig wie ein hinausgejagtes Kind. Es konnte nichts Herzzerreißenderes geben. Daß sie sich spät noch an die Kleopatra wagte, kann nur ein Fehlgriff gewesen sein, und es ist mir lieb, sie nicht in dieser Rolle gesehen zu haben, wie sehr auch ihre Bewunderer sie priesen; für Shakespeare reichten ihre Maße nicht aus. Gewiß verfügte sie über alle Verführung und alle Gefährlichkeit der königlichen Kurtisane, aber Kleopatra war mehr als das, sie war auch eine Königin und eine politische Frau. Woher den großen weltgeschichtlichen Atem 404 nehmen? Und wer besaß ihn unter den Zeitgenossen? Dagegen sah ich sie spät einmal in ihrem höchsten Glanze – in Goldonis »Locandiera«. Sie war zwar alles eher als das jugendlich mutwillige Geschöpf des Dichters, sondern ganz und gar ihre eigene Schöpfung: die reife, schon leise vom Altern gestreifte, aber desto berückendere, mit allen Wassern getaufte Frau, das Urbild italienischer Grazie und malizia. Man hätte müssen für das grüne Bürschlein bangen, das diese entzückende Schlange sich zum Gatten erkürt, wenn man überhaupt eine andere Gestalt auf der Bühne neben ihr gesehen hätte.

Ich hatte nur einmal die Freude, einige Worte mit Eleonora Duse zu wechseln, und zwar in Florenz bei einer Begegnung auf der Straße, wo meine Fili uns rasch bekannt machte. Sie klagte über den Ungeist ihrer Italiener, der aber der Ungeist der Zeit war. Ich antwortete zum Trost, jeder habe es mit seinen Landsleuten. O ich hab es schrecklich mit den meinigen, war die Antwort; sie fühlte sich trotz ihres Weltruhms um das Beste ihres Könnens verkürzt. Man mußte sie sogleich lieben; es war um ihre wundervolle Persönlichkeit gar keine Theaterluft, nur die Ausströmung einer edlen, innerlich echten Frauennatur. Den Besuch, den sie uns, das heißt meiner kranken Mutter, die mit mir zusammenlebte, zugedacht hatte, aber ihrer Nerven wegen nicht ausführte, habe ich ihr viele Jahre später in Asolo zurückgegeben, als ich auf dem hochgelegenen Friedhof an der schrecklich lastenden Grabplatte stand, die keine Inschrift außer dem großen Namen trägt. Die Arme, als wäre ihr die Erde nicht schwer genug gewesen! An einem Haus in Asolo ist eine Gedenktafel zu lesen, die die große Künstlerin als drittgeborene Tochter von 405 San Marco feiert, ein Gedanke, den die hochragende Burg der Caterina Cornaro, oberhalb der Häuserzeile, eingegeben haben mag. Der Stil verrät den Verfasser: es war das Letzte, was er der einstigen Freundin tat, ihr den klingenden Titel für ihren Einzug in die Unsterblichkeit finden.

 

Jede Menschenseele scheint für eine bestimmte Jahreszeit vorzugsweise geschaffen, wo sie sich in den atmosphärischen Bedingungen am wohlsten fühlt. Die meinige war an den Sommer gebunden, an seine höchsten mittäglichen Gluten. Da kamen sie zu mir, meine Mittagsgespenster, um die Stunde, wo drinnen im Lande der Große Pan auf den glühenden Feldern schläft und alles Unsichtbare mächtiger wird. Der Strand, der unsere Häuser trug, war Schwemmland und hatte noch keine Geschichte wie die Städte und Städtchen und Burgen im Hinterland, die von historischen Erinnerungen strotzten. Hier konnten sich Böcklins Tritonen und handfeste Meerweiber in den Sturzwellen überpurzeln (was ich ihnen in den griechischen Gewässern, die einer erlauchteren Fabelwelt gehören, verargen würde); andere Elementarwesen hockten flötend im Röhricht der Pineta. In jener stillsten der Stunden, die wie die Mitternacht der Geisterwelt gehört, besaß ich die Unendlichkeit des Strandes, von dem alles Geräusch der Lebenden wich, für mich allein, freilich nie ohne einen Schauer vor der Nähe des Unbegreiflichen. Wie die Wolkenbildungen über den Alpen, kaum geformt schon zerrinnen und sich neu gebären, so kamen und gingen die inneren Gebilde unfruchtbar wie Wolken und Welle, aber wunderbar anregend. Lange freilich hielt ich die gesteigerte Stille nicht 406 aus, die Nähe des Erdgeists erträgt das sterbliche Gemüt nicht auf die Dauer; aus der weißen Leere griff es wie mit Armen nach mir –sei's, daß eine rätselhafte Fußspur im Sand mich jäh verwirrte, sei's, daß ein aus weiter Ferne heransegelndes Piratenschiff Sklaverei und Untergang drohte, immer mußte ich mich aus der Verzauberung bald wieder in den Schutz des Hauses flüchten. – Erhöhteste und zugleich unwirklichste, ichloseste Form des Daseins, letzte Entrückung aus der Uhrenwelt, kaum in Worte der Dichtung zu fassen:

Zur Zeit, wenn lautlos selbst die Welle ruht
Und nichts lebendig ist als Licht und Glut,
Am blauen Meergestade tief allein
Im Mittagsweben ist mein wahres Sein.

Kein Lufthauch. Die Libelle schläft im Schilf.
Auf loser Ranke träumt der müde Sylph,
Nur der Zikade endlos schriller Klang
Durchtönt die Weite wie mit Geistersang.

Da webt der Mittag zaubrisches Gesicht,
Die Dinge stehen körperlos im Licht.
Ich selbst, ein Schemen, luftig, weiß und stumm,
Mit andern Mittagsgeistern geh ich um.

Die trunkene Seele kennt sich selbst nicht mehr.
Das Ich versank und was ist jetzt noch schwer?
Ich bin ein Rauch, der sich vom Boden hebt,
Ein Sonnenfalter, der ins Blau verschwebt. 407

Es fällt die Schranke, die vom All mich trennt,
Was mein gewesen, strömt ins Element,
Und leicht wie Wölkchen an der Alpen Saum
Lös' ich mich auf, ein kurzer Mittagstraum.

Wenn ich jetzt gleichsam mit halbgeschlossenen Augen über die frühen Jahre in Forte hinblinzle – es waren ja bloß die langen Sommer, aber sie warfen ihren Glanz über das ganze Jahr –, so sehe ich sie nur als einen einzigen Strom von Licht: was von Erdenweh auch da hineingeschlungen war, ist weggespült. Fasse ich aber die Einzelheiten ins Auge, so finde ich freilich wieder die alte Not. Lächerlich zu sagen: auch in dem selbstgebauten Haus wie einst in dem gekauften war für alles andere eher gesorgt als für meine Arbeitsruhe und mein Behagen. Der Bruder hatte für mich das Haus klein gewollt, damit ich vor Umtrieb geschützt sei; jetzt war das Haus klein, aber der Umtrieb kam doch und war in dem engen Raume um so störender. Aller Freundes- und Familienverkehr zog sich da herein, jung und alt wollte zu der Nonna! Das breite, weit offene Portal lud schon selber zum Eintritt. Wenn der Hitze wegen alle Türen offenstehen mußten, war an eine Absonderung gar nicht zu denken. Ich hatte gerade die »Stadt des Lebens« unter den Händen, eine Arbeit, die viel Sammlung und innere Spannung erforderte. Ich nahm damit den Plan wieder auf, der in meiner florentinischen Frühzeit, ohne daß ich damals seine Tragweite ahnte, für meinen Lebensweg entscheidend geworden war, und ich sah nun ein, wie nötig es war, daß es nicht früher geschah. Ich tauchte mit reiferem Wollen noch einmal tief in das Florenz des fünfzehnten und 408 sechzehnten Jahrhunderts hinein. Ich wollte auch hier weniger den linearen Ablauf geben, als die großen Persönlichkeiten, in denen der Zeitgeist sich verkörperte, in ihrer lebendigen Gegenwart darstellen. Das Anfangskapitel »Lorenzo il Magnifico«, wofür ich sogar einen Teil der alten Unterlagen verändert und ergänzt noch brauchen konnte, brachte ich schon fertig mit; jetzt ging es in den nachfolgenden Kapiteln: Die »Bella Simonetta« und »Die Mediceische Tafelrunde«, die ich mir für Forte aufgespart hatte, um das Tiefere, die Welt, die jene Großgrundbesitzer des Geistes sich schufen, wenn sie außerhalb des Zeitgeschehens, das sie selbst bewirkten, ihren »eigentlichen Tag« leben wollten. Denn das goldene Zeitalter, das man das mediceische nennt, hat es ja in Wirklichkeit nie gegeben, so wenig wie das perikleische, und doch sind beide in der Geschichte des menschlichen Geistes strahlende, unvergängliche Wahrheiten. Der Titel machte Schwierigkeiten, unter dem ich die Einzelaufsätze zusammenfassen wollte; Suchen und Nachdenken förderte wie gewöhnlich nichts, bis er mir eines Tages als Geschenk vom Himmel fiel. War der Griff auch gewagt, so schlug er doch ein, denn er drückte das aus, was ich sagen wollte, daher später viele glaubten, »Die Stadt des Lebens« sei ein überlieferter Schmuck und Ehrentitel für das Florenz der Renaissance. Die Bildbeilagen machten bei der fortgeschrittenen photographischen Technik keine Schwierigkeiten mehr, und so konnte ich jetzt das Erlebnis vorbereiten, das ich in kühner Jugendhoffnung vorausgenommen hatte, mein Buch als Führer zu den großen Tagen von Florenz in den Händen der deutschen Reisenden zu sehen.

Mein Arbeitsfriede in Forte dauerte so lange, bis das kleine 409 Segelboot, das Edgar sich nach eigenen Angaben in Livorno bauen ließ, fertig war und von nun an mit seinem Besitzer täglich draußen auf dem Meere schwamm. Weil er alles anders haben wollte als andere, hatte er sich eine eigene Takelung ausgedacht, die er auf besondere Weise regierte. Bei seinem Scharfsinn gelang ihm auch dies, nur daß man nie wußte, wie sich in kritischen Augenblicken seine Einrichtung, an der immer gebastelt werden mußte, bewähren würde. Für starken Seegang war das schlanke, elegante Boot ohnehin zu leicht. Dreinreden ließ er sich nicht, und seine Mutter wagte auch gar nicht, ihn mit ihrer nagenden Angst zu belästigen; er würde ja doch nicht nachgegeben haben, nur die Freude wäre ihm verdorben worden, und der Verdruß hätte ihn zu vermehrter Waghalsigkeit veranlaßt. Aber so oft das arme Mutterherz sein Segel in der Ferne kreuzen sah, jagte die Unruhe sie treppauf treppab, Zimmer aus und ein, dann wurde ich ohne Gnade vom Schreibtisch aufgetrieben und mußte mit hinunter an den Strand. Was ich da sollte – das Boot beschwören, daß es nicht kentere, die Wellen, daß sie seinen Herrn nicht schädigten? das wußte sie so wenig wie ich. Hätte sie gar erfahren, was sie nie erfuhr, daß er eines Tages, weit entfernt von der Küste, beim Hantieren mit dem Segel über Bord stürzte, während das Boot weiterschoß! Zum Glück konnte er es beim Wiederauftauchen von hinten noch fassen und sich wieder hinaufziehen, denn er war am Bug abgestürzt, sonst wäre jenes Tages wirklich das kleine Schifflein ohne seinen Herrn aufgefischt worden. – Arme »Stadt des Lebens«, wie soll es dir ergehen? Es war ohnehin eine Aufgabe, bei diesem Barometerstand, den alle anderen zur Rast und Erholung 410 benützten, zu arbeiten, aber nun auch noch diese täglichen aufgeregten Zwischenfälle! Oft waren meine Nerven am Zerreißen. Aber der Strand von Forte hatte eine zauberische Tugend, die ihm verblieben ist –, ob es der stärkende Atem des Meeres war oder, woran viele glauben, ein reiches Vorkommen von radioaktiven Kräften im Küstensand –, sobald ihn der Fuß betrat, war es, als würde ein Strom eingeschaltet, der den Geist fruchtbar machte. Oft genügten wenige Schritte am Ufer, und die abgestoppten Gedanken stellten sich mit solcher Schnelle und Fülle wieder ein, daß ich rasch ins Haus zurück mußte oder sie in einem mitgebrachten Merkbüchlein durch Stichwörter verhaften. Als ich für das besagte Buch das Bacchuslied des Lorenzo de'Medici und die Strophen des Polizian mit ihrem reichen Reimschmuck übersetzte, da wollte des öftern die reimbeschränkte deutsche Sprache nicht gerne mit. Aber ich brauchte mich nur in den Ufersand zu strecken, so tat das Radium, oder was es sonst war, auf eine mich selber überraschende Weise seine Schuldigkeit: die Reime fügten sich natürlich ein, und die Verse flossen zwanglos, ohne Verrenkung. Und das rhythmische Anrollen und Zurückrollen der Wellen stellte die zerrissene Harmonie des Innern wieder her.

Oftmals kam auch Hildebrand, der in Forte seine Abhandlungen über künstlerische Dinge schrieb, mit einem Stoß Manuskript mitten in meine Arbeit hinein, damit ich ihm hülfe, seine zyklopischen Sätze für das Verständnis des Lesers zurechtzuhämmern. Diese Unterbrechung ließ ich mir gerne gefallen, denn die Erquickung, die von den stundenlangen, geistentbindenden Zwiegesprächen ausging, machte den Zeitverlust reichlich gut.

Ich habe nie den greisen Faust begriffen, den die »zwecklose 411 Kraft unbändiger Elemente« zum Verzweifeln beängstet, weil mit dem prahlerischen Getue der Wogen nichts Nützliches geleistet ist. Wer weiß, wie bald es der Technik einfallen wird, sich auch diese Urkraft zu bändigen, indem sie Wundergestade wie diese mit höchst zweckvollen Anstalten, Kraftwerk an Kraftwerk umsäumt, jeden Fußbreit freier Schönheit vernichtend, daß der alte Meergott sein grün umkränztes Bette nicht mehr kennt. Ob dann nicht eines Tages die Urdämonen die Geduld verlieren werden, daß sie die vergreiste Erdrinde in Stücke schlagen, sich vielleicht wieder einmal den Mond herunterlangen und mit den zersprengten Kontinenten solange Fußball spielen, bis aller Platz frei wird für ein neues, wieder kindliches Geschlecht. Sie werden noch wissen, wie es gemacht wird, wenn sie auch für jetzt nur je und je kleine Probestückchen vorführen. Ich denke an gewisse Winternächte, die ich allein mit meinem Mütterchen in dem kleinen Haus verbrachte, wo keine Frau des Dorfes mit uns schlafen wollte, weil auf und ab an dem donnernden Strand in dieser Jahreszeit keine andere Menschenseele atmete als wir. Da stand ich allein die langen Stunden am Fenster, während sie schlief, und sah im wechselnden Mondlicht, das da und dort durch Wolkenritze drang, die alte Midgardschlange sich mit wütendem Gebrüll in ihrem Bette wälzen, bald hoch zum Himmel hinaufgebäumt, bald sich mit unendlichem Schwall und Schaum bis nahe vor meine Haustür ergießend. Und mehr als einmal habe ich mich da gefragt, ob wohl am Morgen dieses kleine Häuslein noch in seinen Grundmauern wurzeln oder weit da draußen mit seinen beiden Insassinnen auf den hohen Wogenkämmen treiben werde.

412 Da waren auch die großen Herbstmanöver am Himmel, die zum schauernden Entzücken der Zuschauer von den Wolken und Winden aufgeführt wurden:

Über dem Meere der Wolkenzug,
Wolken vom Bergessaume:
Feindliche Riesen auf leisem Flug
Treffen sich hoch im Raume.

    Keuchen und Stoß auf Stoß,
    Feucht und schwer ihr Gefieder,
    Tropfen ringen sich los,
    Einer muß nieder.

Qualvoll Busen an Busen gepreßt
Liegen die Zwei und ringen:
Ostwärts jener und der nach West
Will die Fahrt sich erzwingen.

    Heißer Atem wie Dampf
    Sengt die schweigenden Felder,
    Bang in den Riesenkampf
    Blicken die Wälder.

Raum! Gib Raum! Und ins Wutgestöhn
Schmettern die Siegsfanfaren.
Hoch in Wipfel und Waldeshöh'n
Kommt der Westwind gefahren.

    Dem Meere brüllt er: Steh auf!
    Schnell gehorcht es dem Rufer, 413
    Ganze Geschwader zuhauf
    Wirft es ans Ufer.

Weh, was klirren die Scheiben so wild?
Balken und Ziegel schmettern.
Alles ruft er, was Menschengebild,
Auf zum Tanz mit den Wettern.

    Hoch aus geborstenem Schlund
    Fahren feurige Drachen,
    Tief entblößen den Grund
    Gähnende Rachen.

Wilde Gesichter aus Schaum und Flut
Tauchen empor und grinsen,
Lauter fordert des Meeres Wut
Seine verlornen Provinzen:

    Alter, sei stark, sei stark!
    Was das Land dir gestohlen,
    Samt dem menschlichen Quark
    Wollen wir's holen!

Tief im Lande der Schwall und Schaum
Stürzender Wasserkolosse,
Springend weiden am Wiesensaum
Neptuns weißmähnige Rosse.

    Wind und Wellentriumph!
    Morgen wollen wir sehen.
    Erde die spielt den Trumpf:
    Schweigen und stehen.

414 In solchen Stunden hatte ich große Not mit meinem Mütterlein. Nichts auf der Welt fürchtete sie so wie die Gewitter, und zwar den Donner: die Blitze beängsteten sie weniger, weil sie schon da waren, ehe man sie kommen sah. Es blieb bei starken Entladungen nichts übrig, als sich mit ihr auf die Treppe zu setzen, an die Stelle, wohin bei tiefer Bewölkung keine Helligkeit fiel, und während ich sie im Arme hielt, mit lauter Stimme zu zweien ein kriegerisches Lied zu singen. Wenn das Gewitter sich hinzog, war es auch ungemein wirksam, selbander Schillers »Siegesfest« aufzusagen; schon das Aussprechen der großen heroischen Namen war neben dem Schwung des Rhythmus auf magische Weise stärkend, furchtvertreibend, und der jeder langen Strophe wie mit einem Häkchen angehängte kurze Abgesang setzte durch die Schwierigkeit, ihn zu behalten, die Denkkraft zwangsweise in Tätigkeit und zog von dem Himmelsvorgang ab. Meist war bei dem Zeilenpaar:

Morgen können wir's nicht mehr,
Darum laßt uns heute leben –

der Himmel wieder hell und der mütterliche Puls in Ruhe. Das Schönste war jedesmal nach ausgetobtem Sturm die erste Morgenfrühe, wenn der tolle Kraken sich wieder in sein Bette zurückgezogen hatte und nur noch in nachkochendem Groll mit dem Schwanz die Küstenböschung schlug, während der wiederberuhigte Seewind die geballten Schaumflocken wie lauter kleine weiße Mäuse am Ufer huschen ließ. An den feuchten Ablagerungen konnte man sehen, wie weit das Meer bei Nacht herausgetreten war. Jede angerauschte große Woge 415 hinterließ einen feinen braunen Tangstreifen, einen hinter dem anderen, oft mit ziervollen, dem reichsten Spitzenwerk gleichenden Zeichnungen gesäumt. Denn die Natur mag nicht gerne etwas ungeschmückt lassen, auch nicht die Ausbrüche ihrer Wut, und oftmals habe ich mir einen Zeichner zur Stelle gewünscht, der die Geduld hätte, alle diese köstlichen Muster für Stickereien und andere kunstgewerbliche Arbeiten festzuhalten. Zuweilen auch war der feuchtere Sand am Wasser hin mit einem geflammten oder gewässerten Muster in großartigen Linien wie ein moirierter Seidenstoff gezeichnet, ein Beweis, daß der menschliche Geist auch nicht das kleinste Nebending erfinden kann, wozu die Vorlage nicht in der Natur vorhanden wäre.

Da fand man auch neben den wüsten, an weißumwallte Greisenköpfe erinnernden Quallen, die das Meer nach seinen nächtlichen Besuchen in Mengen ausspeit, noch reichlicher als jetzt die mannigfach geformten und gefärbten Muscheln, gewundene, geriefte, glatte, darunter die ganz dünnen, zartwandigen, rosaroten, die sich in Blumenschalen zu Rosetten ordnen ließen, und das allerliebenswürdigste Gebilde, die weißen glöckchenartigen, die sich massenhaft an Holzstückchen ansammeln, wo sie große Sträuße bilden, und die bei dem Strandvolk den poetischen Namen mughetti del mare (Maiglöckchen des Meeres) dieser täuschenden Ähnlichkeit wegen führen. Neben den Seesternen, die bei jeder Sturmflut in Mengen ausgeworfen werden, fand man auch gelegentlich noch die jetzt ganz verschwundenen entzückenden Seepferdchen, die die Vorstellung erregten, als müßten sich drunten in den blauen Tiefen kristallene Kindergärten befinden, wo die Kleinen der 416 Meermenschen sich mit so köstlichem Spielzeug vergnügten. Die ausgeworfene Schulpe der Sepia gab müßigen Künstlerhänden Anlaß, leichte Zeichnungen in ihr gebrechliches Gewände zu ritzen, ein Spiel, worin sich besonders Hildebrand, der niemals gänzlich feiern konnte, unermüdlich gefiel.

 

Mehr als die plötzlich hereinbrechenden Tragödien des Meeres, auf die man jeden Sommer gefaßt sein mußte, erschütterte mich jedesmal in der Ferienzeit ein Elendszug, der sich einmal im Tage den Strand entlang bewegte und mich an jenen Zug der Waisenkinder erinnerte, an dem mein Kindheitsglück zerbrach. Die Unglücklichen, die da hilflosen Schrittes einander haltend auf dem ungleichen Sandboden hinstolperten, waren noch ärmere Waisenkinder, sie waren die Waisen des Sonnenlichts. Es war mir immer, als müßte ich jeden einzelnen dieser Beraubten um Verzeihung bitten, daß ich im Überschwang besaß, wovon ihnen nur der Atem der Ferne die allerschwächste, sehnsüchtigste Ahnung vermitteln konnte. Und doch vermochte ich nicht einmal ihren Anblick aus der Nähe zu ertragen. Ich wußte mich nicht anders gegen die Erstickung zu wehren, als indem ich sie durch Wort und Reim zu bannen suchte; freilich eine Erlösung, die nur mir, nicht ihnen zugute kam. Unter alten Papieren finde ich ein Zeugnis dieses Eindruckes aufbewahrt.

Am Mittagsmeer bei der Südsonne Glast
Was wandelt ein Zug bei den Händen gefaßt?

Männer und Frauen mit schwankendem Schritt,
Voran zwei Nonnen im grauen Habit. 417

Wird einer getroffen vom jähen Schwall,
So weicht er und mit ihm weichen sie all,

Als ob ein Faden unsichtbar
Hielte und zöge die ganze Schar.

Die Blinden sind's, sie wandeln in Nacht
Durch des Lichtes verzehrende Übermacht.

Wo Meer und Himmel in Wonne strahlt,
Daß die fernste Insel dem Blick sich malt,

Wo Segel sich blähen in purpurnem Glanz
Und Wimpel schillern wie Faltertanz,

Wo Kähne ziehen beflügelt und leicht,
Wie der Schwan durch schimmernde Wasser streicht,

Wo der Sonne Goldnetz in blauer Flut
Mit zitternden Maschen am Grunde ruht –

Da tasten sie traurig und sehen nichts
Vom Feste der Augen, vom Sieg des Lichts!

Und dir wird, Seele, zum Sterben bang,
Als gingst auch du den verlorenen Gang,

Als fühltest du schauernd der Flut Gewalt,
Doch sähst nicht die Welle, die schön herwallt,

Und straucheltest lichtlos, von Licht umgleißt,
Durch Welten von Glück, ein enterbter Geist.

418 Ich zweifle, ob andre ähnlich empfanden; es ist nicht jedem auferlegt, seelisch in fremdes Geschick hineingesaugt zu werden, wie es lebenslang bei mir der Fall war. Aber kann der ein Dichter sein, der sich nicht eins fühlt mit allem was lebt?

 

Mit immer größerer Geschwindigkeit vermehrte sich die Niederlassung, die mit unseren drei kleinen Strandhäuschen begonnen hatte. Im Rücken unserer Häuserzeile entstand bereits eine zweite, die zunächst auf das Dorf zustrebte, der heutige Viale Morin. Aber auch das Dorf wachte auf und wuchs uns entgegen. Die viele Arbeit hatte Geld ins Land gebracht und die Unternehmungslust geweckt. Zwischen die Familienvillen schoben sich Miethäuser und bald auch Pensionen für Sommergäste. Landleute brachten ihre Erzeugnisse an den Strand herunter, und mit der Zeit entwickelte sich ein kleiner Markt. Feste Wege gab es noch lange nicht; man watete im Sand, in dem sich keine Pfade treten lassen, und in der Dunkelheit nahm man die Laterne mit. Die Dunkelheit von Forte, wenn kein Mond überm Meere stand, war das Dunkelste, was ich je gesehen habe; in Nächten, wo das Meer schwieg, erwachte ich oft vor plötzlichem Schrecken über die Schwärze und Stille und mußte ein Licht anzünden, um mich zu überzeugen, daß die Welt überhaupt noch da sei. – Das kleine Fischerdorf hing damals nur durch die eine Wegstunde entfernte Bahnstation Querceta mit der Außenwelt zusammen. Ein von den täglichen Marmorfuhren tief zerfurchter Weg, um den ringsher alles weiß war von Marmorstaub, führte von dort ans Meer herunter. Diese Marmorfuhren wurden durch eine Bespannung von sechs bis zwölf Paar toskanischer 419 Ochsen mit prachtvoll geformten Riesenhörnern von den hochgelegenen Brüchen herunter zum Strand geschleppt. Es war ein herzzerreißender Anblick um diese gemarterten Tiere. Das Leitseil lief durch den Nasenring, auf jedem Paar Ochsen lag ein schwer lastendes Joch, das ihre Köpfe niederdrückte, und auf jedem Joch saß ein Treiber mit dem Stachelstab, der die Tiere völlig wehrlos gemacht hatte; andere Treiber liefen zu Fuß nebenher und halfen mit wildem Geschrei und mit dem Stachel nach; so wälzte sich das Fuhrwerk auf der von Löchern und schuhtiefen Fahrgleisen unmöglich gewordenen Straße heran, immer wieder steckenbleibend und immer wieder durch menschliche Unbarmherzigkeit weitergetrieben. Niemals werde ich den hoffnungslosen Blick vergessen, mit dem eines dieser Tiere, als ich bei einer kurzen Rast mitleidsvoll zu ihm herantrat, sich von dem Menschengesicht abwandte, das für ihn ja auch die Züge seiner Folterer trug, und sein jammervolles Haupt todmüde auf den Nacken seines Schicksalsgefährten legte. An diesen Blick dachte ich in der Nacht, wo das neue Jahrhundert eingeläutet wurde, und ich sammelte damals alle Wunschkraft meines Herzens der ewigen Urmacht zu, daß sie dem grenzenlosen Jammer der Tierheit ein Ziel setze. Heute ist das erbarmungslose, aber von Künstleraugen bewunderte Bild der großen Ochsenfuhren aus der Landschaft verschwunden; die Maschine schleppt jetzt auf Eisengleisen die Marmorblöcke zu Tal, und die Ochsengespanne werden nur noch gelegentlich ins Meer getrieben, um ein Schiff aufs Trockene zu ziehen.

Die von einem sonst gutartigen Volk an den Tieren verübte Grausamkeit bringt mir durch Gedankenverbindung eine 420 seltsame volkskundliche Entdeckung ins Gedächtnis, die ich meiner Elvira, einem bildhübschen sechzehnjährigen Landkind, verdanke. Dieses willige, muntere Geschöpf, das einen Sommer lang bei mir diente, war im Gegensatz zu ihren frühreifen, gewitzten Kameradinnen ausnehmend einfältig, aber von einer liebenswürdigen, wahrhaft blühenden, ja, man könnte sagen erfinderischen Einfalt, womit sie mir immer von Zeit zu Zeit eine Überraschung bereitete; sonst hätte ich wohl nie erfahren, was ich durch sie erfuhr. Um ihre Art zu bezeichnen, sei zunächst nur ein kleiner Zug erwähnt: Ich pflegte in meinem Garten, solange er noch keine Nachbarschaft hatte, um die Mittagsstunde im Schutz einer Erlenreihe, die unberufene Blicke abwehrte, mein Sonnenbad zu nehmen. Das setzte Elvira in solches Erstaunen, daß ich genötigt war, ihr die wohltätige Wirkung der Sonnenbestrahlung, die im Volk noch nicht bekannt war, zu erklären. Elvira hörte voll Andacht zu und prägte sich meine Worte in die Seele. Am Abend, als die Mahlzeit abgetragen und das Geschirr gespült war, fehlte das Mädchen; in ihrem Kämmerchen war sie nicht und ebensowenig am Strand, wo die anderen Mädchen schwatzten. Von einer Ahnung ergriffen, ging ich in den Garten, und richtig, zwischen den Erlen schimmerte es weiß hervor. Ich rief ihr zu, was sie da mache. – Ich mache, was die Signora Padrona des Mittags macht: ich bade, war die Antwort. Da lag sie, barg den Kopf im Erlengebüsch, das jetzt taute, wie ich es zum Schutz gegen die Sonne getan hatte, und streckte in Feuchte und Mondschein ihre bloßen Glieder aus. Weil ihr die Zeit gefehlt hatte, gleichfalls ein Sonnenbad zu nehmen, und sie doch das Beispiel der Padrona nicht unbefolgt lassen wollte, 421 nahm sie gläubig im Abendtau ein Mondbad! So war die geistige Anlage des guten Kindes beschaffen, das wie durch Zufall aus der Unschuld eines deutschen Märchens in die geweckte italienische Volksart hineinverirrt schien.

Eines Tages bemerkte ich, daß die Elvira bestürzt und unruhig umherging und mich öfters zweifelnd ansah, als ob sie etwas Schweres auf der Seele hätte. Aufgemuntert, faßte sie sich ein Herz und sagte: Wenn ich ganz, ganz sicher wäre, daß Sie mich nicht auslachen, so möchte ich mit Ihnen über etwas Besonderes reden. Ich versprach ihr den tiefsten Ernst und erfuhr nun etwas in der Tat ganz Außergewöhnliches.

Elvira hatte eine Base besessen mit Namen Quintilia, die ihr von Kindheit an sehr nahegestanden und die vor wenig Monaten an der Schwindsucht gestorben war. Diese Quintilia hatte große Vorliebe für den Reis gehabt, und noch an ihrem Sterbetag hatte man ihr einen schmackhaften Risotto zubereiten müssen. Die gute Elvira betrauerte sie herzlich und dachte auch jetzt noch öfters an die Verstorbene. Seit einiger Zeit nun bemerkte sie, daß draußen im Garten, wo viele Eidechsen über den glühenden Sand und durch die Beete huschten, eine davon ihr auffallende Zutunlichkeit bezeigte. Sobald sie in den Garten trat, erschien das Tierchen und hielt sich in ihrer Nähe, ja, es kam sogar und suchte sie in der Küche auf. Das durchschauerte ihr Innerstes. Sollte wohl gar –? stieg es in ihr auf. Heute hatte Elvira beschlossen der Sache auf den Grund zu gehen. Als die Eidechse wieder kam, stellte sie ein Schälchen mit gekochtem Reis auf den Boden. Und siehe, die Eidechse machte sich darüber her und fraß den Reis. Hat man je gehört, daß Eidechsen Reis fressen? fragte sie mich. Ich 422 mußte gestehen, daß ich es nie gehört, aber auch nie die Probe gemacht hatte. Ob ich für möglich halte, daß die Eidechse die Seele der Quintilia sei? forschte sie weiter.

Was sich mir jetzt durch die Treuherzigkeit der Elvira enthüllte, hätte keine ihrer Vorgängerinnen oder Nachfolgerinnen mir je verraten, nämlich daß in der Gegend ganz allgemein an die zeitweilige Übersiedelung der Seelen Verstorbener in Tierleiber, besonders in Eidechsen, Kröten und Schlangen, geglaubt wird; man nenne diese Unglücklichen anime confinate, verbannte, das heißt an einen bestimmten Ort verbannte Seelen, vertraute sie mir an, und in dieser Lage, vermutete sie, werde nun wohl auch die arme Quintilia sich befinden.

Ich sagte: Das wollen wir gleich sehen, und ging mit ihr in die Küche. Dort öffnete ich die Gartentür und rief laut: Quintilia! – Auf meinen Ruf – es klingt wie eine Erfindung und ist doch buchstäblich wahr – kam eine Eidechse blitzschnell die Stufe herauf in die Küche geschossen und geradeaus auf die Elvira zu, die sich bebend gegen den Herd zurückzog. Nach einem so sinnfälligen Beweis war die Personengleichheit nicht mehr zu bestreiten.

Ich beschloß, das Vorkommnis zum Besten der gequälten Tierheit zu nützen und sagte sehr nachdrücklich:

Du siehst nun selbst, wie frevelhaft es von euch Landleuten ist, die unglücklichen Eidechsen, Blindschleichen, Frösche und ähnliches Getier, gleich wie sich ihrer eins zeigt, mit dem Absatz zu zermalmen. Ihr bedenkt dabei nicht, daß es euer Großvater, eure Großmutter oder Schwester oder sonst ein Nahverwandtes sein könnte, was euch zertreten an den Schuhen 423 hängenbleibt. Wenn es wahr ist, daß die Seelen der Verstorbenen für einige Zeit in den Tieren hausen müssen, was ich weder bestätigen noch in Abrede stellen will, denn ich weiß es nicht, so laßt ihr in eurer Grausamkeit auch außer acht, daß ihnen die Zeitdauer ihrer Buße von oben zubemessen ist und daß es dem Menschen nicht gestattet sein kann, diese abzukürzen, indem er die Tiere tötet und damit die Seelen aus ihrem zugewiesenen Wohnsitz treibt. Wer es tut, macht sich nicht nur der abscheulichsten Tierquälerei, sondern auch der Auflehnung gegen eine höhere Ordnung schuldig und wird es büßen müssen, wenn er dereinst selber als anima confinata umherkriecht.

Elvira versicherte, daß sie stets von dieser Rücksicht geleitet worden sei und niemals ein Tier von der Art, wie sie den Seelen zum Wohnsitz dienten, verletzt habe. Aber noch am vorigen Sonntag sei es in ihrem Dorfe vorgekommen, daß ein Haufe junger Burschen des Abends beim Heimwandern eine riesengroße Kröte auf einem Stein habe sitzen sehen. Da habe einer von ihnen gefragt: S' ha a mandare in paradiso? (Wollen wir sie ins Paradies schicken?), worauf sie einen mächtigen Steinblock auf die Kröte geworfen hätten und dann auf diesem Block herumgetrampelt seien, um die Kröte zu zerquetschen. Des andern Tags, da sie wieder des Weges gegangen, hätten sie den Stein aufgehoben, und es sei keine Spur von der Kröte mehr übrig gewesen.

Dieses Beispiel von Seelenwanderungsglauben war mir bei der entschiedenen Kirchlichkeit des dortigen Landvolks höchst befremdlich. Aber ein genauer Kenner des italienischen Mittelalters wies mich daraufhin, daß die Lunigiana, zu der unser 424 Küstenstrich gehört, jahrhundertelang ein Hauptsitz der Häresie gewesen und daß die Kirche nur die Ketzer, aber nicht die Ketzerei ausrotten gekonnt, mit deren zum Volksaberglauben herabgesunkenen Überresten sie sich augenscheinlich abfindet.

Jahre später begegnete ich der gleichen Vorstellung noch einmal in fast noch groteskerer Gestalt. Mein Nachbar, der Bauer Mansueto, fragte mich eines Morgens beim Aufbinden der Reben an meiner Rebenlaube mit etwas unsicherem Ton, ob ich schon von der großen Schlange gehört hätte. Ich hatte noch nichts gehört. Auf der Villa des verstorbenen Generals X., die etwa einen Kilometer von meinem Hause entfernt lag, sei eine Schlange von gewaltigen Maßen erschienen, »groß und dick wie ein Mensch«, sie stehe wie ein solcher völlig aufrecht und schaue mit gräßlich funkelnden Augen durch die Gitterstäbe des Gartens. Halb Forte de' Marmi ströme nach der Villa X. hinaus, um die gespenstige Schlange zu sehen. Er sei auch draußen gewesen, der Anblick sei unheimlich. Man habe die Finanzsoldaten mit ihren Gewehren hingeschickt, und diese hätten Schuß auf Schuß auf das Untier abgegeben. Aber wenn der Rauch sich verziehe, so stehe sie aufrecht nach wie vor unter den Pinien und schaue die Leute höhnisch an. Er rate mir dringend, wenn ich es nicht glauben wolle, selber zu gehen und mich zu überzeugen.

Diesen Rat hätte ich natürlich gerne befolgt, aber ich hatte damals meine Mutter schon leidend im Häuschen droben, die sich zu erregen pflegte, wenn ich sie auf mehr als zehn Minuten allein ließ. Von der meerwärts gelegenen Gartentür aus konnte ich aber unten am Strand lange Züge von Menschen auf dem Hin- und Herweg sehen, die sich begegneten und 425 gestikulierend stehenblieben. Auf einem Sandhügel, wenige Schritte von meiner Haustür, saß ein uraltes Bettelweib, die rief ich an: O Großmutter! Habt Ihr auch die Schlange gesehen? – Sie bejahte düster und heftig. Che sia lù? (Ist wohl er es?) setzte sie lauernd hinzu. Er? Was für ein Er? fragte ich verwundert. Lù'! lù'! il generale! – Aber gute Nonna, wie käme denn der General in die Schlange? – Lo saprà lù'! (Das wird er wissen), war die noch düstrere Antwort.

Als ich meiner Patientin dieses Wunder erzählte, gab sie mir Urlaub, um den Tatbestand zu ergründen. Ich begab mich an den Strand hinunter und hielt zunächst eine Gruppe der Zurückkehrenden auf. – Die Schlange, freilich. Es war die reine Wahrheit. Sie hatten sie alle gesehen. Fürchterlich sah sie aus. Aufrecht stand sie wie ein Mensch. Sie stand auf dem Schwanz. Und die Augen funkelten. – Und die Soldaten mit den Gewehren? – Ja, auch die! Es hatte alles seine Richtigkeit. Ob ich denn die Schüsse nicht gehört hätte? – Ich hatte nichts gehört und ging nun weiter, um selbst zu hören und zu sehen. Da stieß ich auf den einäugigen Armando, einen geweckten und verwegenen Burschen, der so halb und halb in meinen Diensten stand, weil ich ihn zuweilen mit gröberer Arbeit beschäftigte und während meiner Abwesenheit mein Haus von ihm bewachen ließ.

Kommen Sie auch die Schlange sehen? rief er mir zu. – Jawohl, sagte ich, wie steht's denn damit?

Er lachte aus vollem Halse: Hat sich was mit der Schlange. Es gibt so wenig eine Schlange in der Villa X. wie in der Ihrigen. Der Waldhüter, der die Villa mit den Vignen 426 nachts bewachen soll, aber lieber in der Schenke beim Wein sitzt, hat jetzt, wo die Trauben zu reifen beginnen, die Fabel von der Schlange aufgebracht. Aber das hat er wohl selber nicht erwartet, daß die Leute das Untier auch am hellen Tage sehen würden.

Ein solcher Massenwahn ging mir über alle Begreifbarkeit. Aber als immer neue Gruppen zurückkamen und auf Armandos Anruf übereinstimmend versicherten, die Schlange stehe noch immer und blicke durchs Gitter und es werde noch immer auf sie geschossen, stand ich von dem Forschungsgange ab.

Es ist wieder geradeso wie bei der Erscheinung der Madonna von Ripa. Davon wissen Sie doch? sagte Armando.

Ich wußte nichts. – Es sind sechzehn Jahre her, berichtete er, ich hatte damals noch meine beiden Augen, da sah man die Madonna über Ripa fliegen.

Fliegen?

Freilich. Sie sprach mit einem Kinde, hieß es fromm und fleißig sein. Das Kind lief heim und erzählte es seiner Mutter. Die stürzte aus dem Haus und rief die Nachbarinnen. Ganz Ripa geriet außer sich. Die Madonna! Die Madonna! Sie schwebt über Ripa, sie hat die Glorie ums Haupt. – Wo? Wo? – Da – dort. Seht ihr sie? Ja! Ja! – Sie sahen sie alle und behaupten noch heute, daß sie dagewesen sei.

Wie war das nun, Armando? Glaubten die Leute wirklich, eine Erscheinung zu sehen? Oder scheuten sie sich nur, zu gestehen, daß sie nichts sahen?

Er zuckte die Achseln: Ich weiß nur, daß ich selber nichts sah gar nichts. Neanche un pipistrello. (Nicht einmal eine Fledermaus).

 

427 Zu den Besonderheiten der Volksart gehört die überragende Stellung der Frau. Daß alle Häuser nach der Frau genannt werden, ist nicht wie bei den Villen der Fremden eine dem zartren Geschlechte dargebrachte Huldigung, sondern der Ausdruck eines wirklichen, wenn auch nicht amtlich festgelegten, so doch die Vorstellung beherrschenden Sachverhalts: in Forte de' Marmi gehört das Haus der Frau. Im gleichen Sinne ist sie auch das Haupt der Familie; ein Kind, das man fragt, wem es gehöre, wird unweigerlich antworten: der Rosina, der Filomena oder wie sonst seine Mutter heißen mag, was auch allgemein für den Verkehr genügt, höchstens daß noch zur näheren Bezeichnung gelegentlich ihr Mädchenname hinzugefügt wird, den sie ihr Leben lang beibehält. Der Ehemann muß schon eine Persönlichkeit von Gewicht sein, wenn er gleichfalls genannt wird. Ein besonders drolliges Beispiel lieferte ein Schnitter, ein segatore, nach welchem seine Frau zunächst die segatora hieß. Das hatte nun die Folge, daß er selber im Volksmund nicht mehr der segatore, sondern nur noch der Mann der segatora war.

Wenn unter den Männern Streit ausbricht, so brauchen sich nur die Frauen dazwischenzustellen, und der Zank hört auf – per rispetto alle donne (aus Achtung vor den Frauen), wie mir die zuverlässigste Zeugin aus dem Ort versichert. Der Grund für diese volkstümliche Form des Mutterrechts ist der gleiche, den Bachofen für die überragende Stellung der Spartanerinnen angibt: daß die Männer das ganze Jahr auf Kriegszügen abwesend sind, was in unserem Falle durch die langen Seefahrten ersetzt wird. Damit hängt es wohl auch zusammen, daß häufig die Frau älter ist als der Mann, 428 wodurch die häuslichen Belange, die ausschließlich in Frauenhänden liegen, besser gesichert sind.

 

Forte dei Marmi, seliges, zur Wahrheit gewordenes Wunschland, das ich selber mit erschaffen half! Was wäre mein Leben ohne dich geworden? Du hast die bange Menschenseele auf ewig dem großen Meere vermählt, das ihr die kleinen Kümmernisse und Ängste wegspülte und ihr die Kraft gab für das umgetriebene Leben und für das einsame Werk. Ich nahm es fortan mit mir, wohin ich ging. Darum soll dieser Teil meiner Rückschau mit einem Hochgesang auf das Meer schließen, wie er begonnen hat:

O tief im Lande bei Nacht und Tag
Vernehm' ich des Meeres Wellenschlag.

Ich seh's, wie es phosphorn im Mondlicht ruht,
Sich in Buchten schmiegt oder brüllt vor Wut

Und mit lautem Guß, wenn der Sturm vergrollt,
Kies und Muscheln zum Strande rollt.

Seine Rhythmen furchtbar und feierlich,
Seine Weltgesänge durchbrausen mich

Und das Sehnen des Busens, der ewig wallt
Nach der blassen, wandelnden Lichtgestalt.

O wär' ich der schimmernde Albatros,
Der König der Meere, des Sturms Genoß! 429

Am Kap der Winde wär' ich zu Haus,
Dort jagt' ich und ruht' auf den Wogen aus,

Und ich hörte des Eisbergs Donnergekrach,
Dem Golfstrom zög' ich, den Winden nach. –

Im Tal, auf Bergen und wo ich sei,
Nach dem Meere schwebt meine Seele frei,

Sie haust auf Klippen, der Welt entfernt,
Sie atmet im Sturm und hat's Fürchten verlernt

Und singt mit der Welle, die steigt und flieht,
Ihr uralt ewiges Sehnsuchtslied. 431

 


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