Isolde Kurz
Die Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen
Isolde Kurz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel

Lebensmitte

In Fremdenkolonien wechseln Namen und Gesichter schnell. Als ich die Lebensmitte erreichte, war von dem hellen Kreis, in den wir bei unserer Ankunft in Florenz eintraten, fast nur noch das Hildebrandsche Haus übrig. Guerrieris, Giustis waren frühe weggezogen, und unter den Deutschbürtigen hatte das Sterben aufgeräumt. Den Anfang machte schon im Frühjahr 1884 Theodor Heyse, der Oheim des Dichters, derjenige unter den Lebenden, in dem noch ein Abglanz der Tage von Weimar leibhaft umging. Weltabgekehrt, in der Armut und Einsamkeit eines Weisen, bei Büchern und Kanarienvögeln lebend, war er dennoch so etwas wie ein heimlicher König gewesen, denn die Jüngeren, die das Glück hatten, ihn in seiner Klause besuchen zu dürfen, trugen die Ausstrahlungen seines noch ungedämpften Geistes durch die Auslese der Kolonie. Hillebrand, den auf der Höhe des Mannesalters eine schleichende Krankheit verzehrte, schrieb ihm noch einen schönen Nachruf, der sein eigener Schwanengesang wurde, und folgte ihm im Herbst desselben Jahres. Diesem leistete Homberger 339 den gleichen Liebesdienst und teilte sein Geschick, in voller Kraft zu sterben. Auf dem Friedhof Agli Allori, so von alters her nach einem ehemaligen Lorbeerhain genannt, schlafen alle drei unter schönen, von Hildebrand geschaffenen Gedächtnismalen.

Dasselbe Stück florentinischer Erde nahm im Jahr 1891 den unglücklichen Karl Stauffer auf, dem diese Stadt zum künstlerischen und menschlichen Verhängnis geworden war. Seine Tragödie zitterte lange in den Herzen nach, die sie aus der Nähe miterlebt hatten. Daß in ihm auch eine dichterische Kraft unterging, die niemand geahnt hatte, machte mir den Vorgang doppelt ergreifend. Bei meinem Bruder Erwin, der sein Studienkamerad an der Münchner Akademie gewesen und der als Letzter bei dem Verzweifelnden aushielt, hatte ich eines Tages durch Zufall in einem zur Aufbewahrung übergebenen und dann von beiden Teilen vergessenen losen Bündel Stauffers Gedichte entdeckt und war von ihrer wilden Schönheit und vulkanischen Urkraft tief betroffen geblieben. Ich wollte ihm so gern ein Wort der Anerkennung, der Bewunderung zukommen lassen, das ihm wohlgetan, ihn vielleicht – wer weiß? – noch für eine kurze Strecke durch den Glauben an sich selbst gestützt hätte; aber sein schneller Entschluß kam dem zuvor. Ich trug es lange wie eine unbezahlte Schuld mit mir, daß ich nicht mehr zu dem Unglücklichen selbst, nur noch zu seinen Manen sprechen konnte:

Verlorner Sohn der Kunst und Poesie!
So wild dein Lied, doch hört' ich Süßres nie,
Wie deine Gletscherwasser weiß und schäumend,
Wie deine Bergseen Himmelsbläue träumend. 340

O wenn vom eigenen Bild der Genius
Sich schaudernd wenden und verzweifeln muß!
Ward ihm sein Kleid befleckt am Freudenmahle,
Ihn duldets nicht, es treibt ihn aus dem Saale.

Seht, wie der Corso am Lungarno braust!
Geputzte Knaben, schwach an Hirn und Faust.
Von Tausenden, die besser nicht und reiner,
Wer wiegt uns den Verlornen auf? Nicht einer.

Du Flüchtling, schlummre unter Lorbeerlaub,
Wo größre Größe, größre Schuld zu Staub.
Ein brüderlich Asyl sind diese Schollen.
Die Muse weint. – Was kannst du weiter wollen?

Wie ich nach dem erschütternden Ausgang mich um die Herausgabe der in meiner Hand zurückgebliebenen Staufferschen Gedichte bemühte und wie diese Bemühungen an den Bedenklichkeiten der Familie Stauffer scheiterten, habe ich in meinen »Florentinischen Erinnerungen« erzählt. Daselbst konnte ich aber zu der unterdessen von Otto Brahm gedruckten kleinen Auswahl, die nicht durchweg das Bedeutsamste enthielt – dieses war ihm vielleicht gar nicht zu Gesicht gekommen –, noch einige besonders merkwürdige Ergänzungen nachtragen.

In den neunziger Jahren lichtete der Wegzug Erwins den Familienkreis. Er war derjenige unter den Brüdern, der niemals Zwist oder Ängste in das Zusammenleben brachte und der Verwicklungen immer zart und schonend beilegte. Aber dieser von Natur Frohsinnigste war mit den Jahren fast so 341 ernst und schweigsam geworden wie sein Vater. Durch den langen Aufenthalt in Italien von dem deutschen Kunstmarkt abgeschnitten, kostete es ihn schweren Kampf, seinen frühe gegründeten Hausstand durchzubringen, bis er durch die Professur an der Münchner Akademie wieder in frisches Fahrwasser kam und sein natürliches Wachstum vollenden konnte. – München besitzt auf seinen öffentlichen Plätzen so viele Werke seiner Hand, die von der Reinheit und Höhe seiner Kunstgesinnung und von dem Adel seines Wesens zeugen, daß ich von dem Künstler Erwin Kurz nicht zu sprechen brauche, nur von dem Bruder, der wie ein sicherer Pol in der Unruhe der Familie stand. Dieses Element des Friedens fehlte fortan unserem florentinischen Lebenskreis.

Und nun stand auch Grant auf der Verlustliste; er war in deutscher Erde schlafen gegangen. Grant litt und verging an einer Zeitrichtung, die das Eigentümliche seiner Begabung nicht durchdringen ließ; er war aus ganzem Herzen Romantiker, zart und glühend, lebte in Lied und Mythe, und der Zeitgeschmack forderte einen Realismus, den er sich nur widerstrebend abgewann und der ihm keinen Dank einbrachte, weil er bei aller Feinheit der Behandlung doch nicht aus seinem Innersten drang. – Dann riß Konrad Fiedler, der Freund Hildebrands und Marées', der auch der meinige geworden war und der durch seine alljährlichen Besuche in Florenz zum eisernen Bestand des Kreises gehörte, durch seinen jähen Tod eine breite Lücke. Langsam bereitete sich auch Böcklin zur Überfahrt nach jener stillen Insel, die er uns so oft gemalt hat. Er wurde lange in der Stadt nicht mehr gesehen, aber er lebte noch, alt und müde geworden, in das erste Jahr des 342 neuen Jahrhunderts hinein. Lebens- nicht schaffensmüde, denn auf seiner schönen, späterworbenen Besitzung in San Domenico malte er immer weiter, was er dem körperlichen Verfall noch abringen konnte, mit Farben, die immer leidenschaftlicher, immer drängender wurden, je mehr sein Tag sich neigte. Am Morgen des 16. Januar 1901 schloß ihm Edgar, der ihn durch zwei Jahrzehnte als Arzt und als Freund betreut hatte, die Augen, jene außerordentlichen Augen, die wie keine anderen von der Natur zur Schau des Schönen eingerichtet waren. Und mir fiel das Amt zu, für die deutschsprachige Kolonie von Florenz dem großen Entschlafenen den letzten Abschiedsgruß nachzurufen:

Der Meister schied. Er hat sein Werk vollbracht,
Der unermüdlich in des Lebens Dürre
Die goldenen Hesperidenäpfel streute,
Der über allem Lärm und Drang der Welt
Des Spieles heiligen Ernst für uns gerettet.
Denn Länder schuf er, Meere, Königreiche
Der Poesie und gab sie uns und ließ
Uns drin wie mit den ersten Göttern wohnen.
So rastlos schaffend, spendend, nie bekümmert,
Auf welchen Boden seine Früchte fielen,
Sah er die letzte Sonne niedergehn,
Dann stieg er lächelnd in den Kahn und glitt
Hinweg, die unbekannten Wogen furchend.

Zur stillen Insel ging er, wo am Strand
Das Wasser schläft, wo unter hohen Bäumen
Die frommen Schatten zu Altären wallen, 343
Bei Flammen, Blumen ernsten Dienst begehend,
Wo nur zuweilen leis ein Nachen landet
Aus dem verhüllt ein neuer Gast entsteigt,
Wo alles Erdenlebens Drang und Fülle
Nur als Musik noch um die Wipfel schwebt.
Dort weilen sie, die unvergänglich sind,
Und dorthin ging auch Er.

                                            Kein Trauerwort
Folge dem herrlich nun Vollendeten!
Mit Blumen, Flammen wollen wir ihn ehren,
Mit solcher Weihe, die er selbst gelehrt.
Was er uns oft in Bildern festlich zeigte,
Heut seis für ihn vollbracht. So lodert, Flammen!
Preist ihn, ihr Blumen! Elemente alle,
Ehrt euren Dichter! Schweb empor, Musik!
Trag dem Entrückten, aber Unverlornen
Ins Land des Schweigens unsre Grüße nach!

Mit Böcklin schloß der Reigen der ruhmreichen Toten des vorigen Jahrhunderts in Florenz. So sieht man gegen das Frühjahr die ganze Pracht des winterlichen Firmaments Stern um Stern hinuntersinken und neuen Himmelserscheinungen Platz machen, die aber den Glanz der vorigen nicht erreichen. – – Eine rührende häusliche Episode, die sich an den Tod des alten Meisters knüpft, hat mir seine älteste Tochter, die schöne Clara Bruckmann, erzählt: Diese fand im Nachlaß ihres Vaters ein Bündel Frauenbriefe, die auf ein Herzenseinverständnis schließen ließen. Böcklin war ja als der musterhafteste Ehegatte bekannt, aber die Tochter hielt es doch 344 für ratsam, den Augen ihrer Mutter, der leidenschaftlichen Römerin, deren Eifersucht auch das Alter nicht gemildert hatte, diesen Fund zu entziehen. Sie trug die Briefe in den entlegensten Winkel des Gartens, entzündete einen Flammenstoß und warf die Briefe Blatt um Blatt hinein. Dann holte sie aus dem Keller einen Fiasco von Böcklins Lieblingswein und goß ihn mit töchterlicher Hand als Weihegabe auf die glimmende Asche.

*

Ein Wunsch des Verlags, dessen Begründung ich anerkenne, veranlaßt mich, dieses wie alle nachfolgenden Kapitel um die Bildnisse der überlebenden Freunde, deren ich an dieser Stelle zu gedenken hätte, zu kürzen oder sie auf die knappste Fassung zu bringen, ohne ihre Namen zu nennen. Mit diesen aus äußeren Rücksichten entsprungenen Maßnahmen kann auch das Stilgefühl einverstanden sein. Die Abgeschiedenen sind jetzt aus leichterem Stoffe und durch und durch vollendet; sie wesen in einem anderen Luftraum als die fragmentarischen, in ihrer irdischen Schwere und Bedürftigkeit gebliebenen Lebendigen, die bei dem Vergleich notwendig verlieren, in einem Luftraum, wohin nur der Beschwörende selber miteingeladen ist. Aus der Fremdheit beider Naturen stammt ja wohl die Vorstellung der Geistergläubigen, daß der Entkörperte bei der plötzlichen Begegnung mit einem Lebenden ebenso erschrocken zurückfahre wie jener vor ihm. – Darum kann ich meiner treuen Fili, der schönen hochblonden Germanin, die in hohen Jahren, aber ungebeugten Hauptes als Gattin eines berühmten Historikers noch in Florenz lebt, von dieser Stelle aus nur einen kurzen Gruß zuwinken. Sie hat mir durch Jahrzehnte die von 345 der Natur versagte Schwester ersetzt und meine Mutter wie ihre eigene geliebt, das Beste, was an mir geschehen konnte. Denn auch eine ganze Anzahl weiterer Brüder würden meine Schwierigkeiten nicht erleichtert haben. L'amore discende (die Liebe geht nach abwärts) sagt kurzweg das italienische Sprichwort. Börries von Münchhausen hat es in die Worte gefaßt: »Den goldenen Ball wirft jeder lächelnd weiter / Und keiner gab den goldenen Ball zurück«. Es sind Männerworte, sehr wahre. Immer waren es Frauenhände, die den goldenen Ball zurückgaben. Nur eine mir zugeborne Seele vom gleichen Geschlecht, so hätten wir gemeinsam unsere Schultern untergeschoben und das wunderlich-wundersame Mutterwesen heil durchs Leben getragen, ohne zuviel von eigenen Daseinsrechten einzubüßen. Hier war die Stelle, wo es immer so rauh in mein Leben hereinblies. In diese Lücke trat, soweit es von außen her möglich und ihr durch die eigenen Pflichten gestattet war, die treue Fili. Ebenso bleibe ich ihrem hochgelehrten Gatten, der mir so manchesmal aus seinem abgründigen Wissen den kürzesten Weg zu meinen Quellen gewiesen hat, für immer verpflichtet. Wenn wir in langem Verkehr oft aneinander vorüberdachten, so geschah es durch den Gegensatz der beiderseitigen Aufgaben und Anlagen: daß sein scharfgeschliffener kritischer Forschergeist wie ein spitzes Instrument die Schalen der Überlieferung sprengte, um dahinter die reine Tatsache zu suchen, wogegen ich, in Mythe und Dichtung wurzelnd, vielmehr geneigt war, die Tatsachen als die eigentlichen Schalen zu betrachten, die tiefere, die symbolische Wahrheit aber eher in der Überlieferung als in den urkundlichen Zeugnissen gespiegelt zu sehen, weil die Zeugnisse allein kein Ganzes 346 ergeben, die Überlieferung aber jeweils ein ursprünglich Gewolltes aber nicht voll Zustandegekommenes zu Ende dichtet. Solche durchgängige Verschiedenheit der geistigen Haltung, die sich aus dem Fachgebiet häufig auch auf andere Gebiete des menschlichen Denkens fortsetzte, führte zu manchem kleinen Scharmützel, das immer an der weisen Unparteilichkeit der Gattin unschädlich verebbte, ohne der lebenslangen Freundschaft Abbruch zu tun.

Manche einheimische oder durchreisende Größe lernte ich in diesem geselligen Hause kennen. Eine der fesselndsten Begegnungen war die mit Frau Cosima Wagner. Ihre königliche Erscheinung, hoch und kerzengerade trotz der Jahre, noch immer in tiefem Schwarz, mit den mächtigen stählernen Zügen unter den dunklen Flechten und mit dem Nimbus des großen Werkes, dem ihr Dasein gehörte, war wie ein lebendiges Stück Kulturgeschichte. Ein paar Tage später bereitete sie mir die Überraschung ihres Besuches auf meinem ländlichen Sitz am Poggio Imperiale: da ich sie von Menschen überrannt wußte, würde ich mir nicht erlaubt haben, zuerst zu ihr zu gehen. In Gesellschaft ihrer Tochter Eva, der späteren Frau Chamberlain, kam sie unbekümmert den höckerigen, immer schlüpfrigen Feldweg zwischen Hundegebell, Schweinegrunzen und Hühnergegacker heraufgestiegen, und ich genoß in der grünen Einsamkeit noch mehr als zuvor in der Gesellschaft die Weltweite ihres Blicks, der wie der Blick eines Staatsmannes über Menschen- und Völkerwesen hinging, und die einfach großen Formen der herrscherlichen Frau, die überall gleich natürlich am Platze war; wie ich zuvor schon Gelegenheit gehabt hatte, ihre Gabe der Menschenbehandlung zu bewundern. Und 347 natürlich sprachen wir von dem, was der Schmerz der Deutschen im Ausland war – die Tochter Liszts und der Gräfin d'Agoult empfand sich ja bei all ihrer kosmopolitischen Hochzucht als Deutsche –, von dem ungenügenden kulturellen Ansehen, das trotz aller Leistungen und unserer damaligen gewaltigen Weltstellung Deutschlands Teil unter den Völkern der Erde war. Und wir begegneten uns in meiner alten Überzeugung, daß den reisenden Deutschen selber eine Mitschuld traf, durch die so häufige Vernachlässigung von Form und gesellschaftlichem Takt, ein Text, über den ich lebenslang nicht müde wurde zu predigen, mit dem Erfolg, daß ich mir von seiten derer, die es anging, den billigen Vorwurf der Ausländerei zuzog. Aber wer war der bessere Deutsche, wer den Schaden sah und ihn mit Schmerz zu bessern strebte, oder wer ihn seinen hemdärmeligen Gewohnheiten zuliebe verschlimmerte? Die Auslanddeutschen sind immer mit von den besten Deutschen gewesen; schon von ihren selbstbewußten Wirtsvölkern konnten sie lernen, was man dem eigenen Volkstum schuldet, wenn sie es etwa zuvor nicht wußten. – Ahnungslose Geister sind es, die da glauben, die Blutseele könne sich unter irgendeinem Himmelsstrich ändern, da doch sie es ist, die das Gefüge des Ichs geschaffen hat und es zusammenhält.

Zu der Geschichtsforschung, in deren Bannkreis wir getreten waren, gesellten sich auch die Vertreter der Kunstgeschichte, die den ehemaligen, jetzt ganz verschwundenen literarischen Kreis ablösten, und ein jüngeres Künstlergeschlecht trat an die Stelle des vorigen, das wie jene das Echte und Große suchte, wenn es auch keine Namen wie Böcklin und Stauffer hervorbrachte.

348 Auf einer Villa außerhalb der Porta San Giorgio wohnte ein Maler-Prinz mit seiner schönen bürgerlichen Gemahlin, der Tochter eines deutschen Dichters, die leibhaft aus dem Märchen von der Hirtin und dem Königssohn herausgetreten schien. Hoch über Frauengröße gewachsen, mit schmalem, rosigem Kindergesicht, um das ährenfarbige Flechten lagen, und dem seltsam wiegenden Gang eines Schwans auf trockenem Boden, den Böcklin rühmte, konnte man sie sich auf einer Heide unter sprechenden Tieren denken. Schicksallos und glückdurchsättigt schien die Seele noch in ihr zu schlafen. Mit den Jahren, als ein Kranz von urgesunden Putten um sie wuchs, vertiefte sich ihre Schönheit, und ihre anerkannte Stellung innerhalb einer regierenden Familie gab ihr die stille Selbstverständlichkeit, mit der sie sich gleichmäßig wie ein Planet in seiner sicheren Bahn bewegte. Nur manchmal schien sie's zu überschauern, ob ihr Glück nicht ein allzu gewagtes sei: so als ahnte sie schon das große, dereinst dem Vaterlande zu bringende Opfer, das die langsam reifende Zeit für sie im Schoße trug. Beiderseits am Viale wohnend hielten wir gute Nachbarschaft, und ich verbrachte einmal, von dem prinzlichen Paare eingeladen, in ihrer Abwesenheit einige schöne Wochen mit Mama auf ihrer Villa außerhalb der Porta San Giorgio. Dort erlebten wir das große Erdbeben vom 18. Mai 1895, dem, wenn es wenige Sekunden länger gedauert hätte, die halbe Arnostadt zum Opfer gefallen wäre. Noch durch einen zweiten unverwischbaren Eindruck ist mir dieser Aufenthalt merkwürdig geblieben. Ich fand in der kleinen Bücherei des Prinzen den von Carmen Silva übersetzten sogenannten »Rhapsoden der Dimbowitza«, unter welch schlechtgewähltem Titel sich 349 ein rätselhaftes aber unschätzbares Juwel verbarg. Die Wirkung dieses Fundes war eine solche, daß ich tagelang wie im Traum umherging, als hätte die Erde zum zweitenmal unter mir gebebt. Noch nie, so schien mir, hatte ich das Angesicht der Poesie in so erschütternder Nähe gesehen, und ich teilte für lange Zeit die Menschen in solche ein, die von der Naturgewalt dieser Lieder berührt wurden, und die anderen, die nichts dabei empfanden. Wenn ich heute den Eindruck auffrische, den ich damals empfing, so geschieht auch dies unter dem Zwang einer Verpflichtung, um so mehr als ein unverständlicher königlicher Wille den herrlichen Findling zuerst unter falscher Marke in die Welt schickte, um ihn nach kurzem Dasein aus gleichfalls unverständlichen Gründen auszulöschen und der Vergessenheit zu überliefern. Schon der erste beschwingte Auftakt in der Stimme des Feuers:

Ich hab den grünen Wald verzehrt
Mit allen seinen Liedern,
Und alle Waldeslieder
Die singen jetzt in mir –

ließ ein Außerordentliches an Unmittelbarkeit ahnen. Und nun quoll es aus allen Blättern mit einer Frische und Ursprünglichkeit, daß die ganze welke Zivilisation versank und die Urweltfrühe, der Mensch mitten inne, wie nur eben aus der Schöpferhand gekommen und noch von den ersten Göttern behütet, heraufstieg. Und so oft ich auch später das Buch wieder aufschlug, immer befiel mich der gleiche freudige Schauer aufs neue. Wen sollte es nicht überrieseln, wenn der Schlaf sagt: 350

– Das Mädchen spricht zu mir: o du hast des Geliebten Antlitz,
Die Gattin sagt: o du hast meines Mannes Stimme.
Der Tod erlaubt mir in dem Grab zu suchen,
Auf daß ich bringe die, so lange schlafen,
Zu denen, die nur schlafen eine Stunde. –

Und so fort mit immer neuen Überraschungen bis zur völligen Ausschöpfung des Gegenstandes. Die gleiche Unmittelbarkeit und das allseitige Beleuchten geht auch durch das Gedicht an den Grabstein:

Du bist so weiß, auf daß von weitem
Ich dich erblicke.
Du bist so kalt, um meine Küsse
Zu entfernen.
Und wenn ich komme, seh ich dennoch dich
Von weitem nicht,
Weil stets ich weine.
Du bist so jung wie Schnee.

Und fernerhin:

Du glaubst auch an die Blumen nicht,
Du siehst sie sterben,
Noch an den Schmerz, den siehst du sterben auch. –

In diesem Lied fällt noch ein anderes Merkmal der Sammlung, die zarte Scheu des Gefühlslebens, auf, die den Toten nur durch eine Umschreibung zu nennen wagt: 351

Du tust, als wüßtest nimmer du, was in dir ist,
Und daß ich kam für das, was in dir ist.

Und weiter unten:

Niemals sagst du dem, was in dir ist,
Wer auf dir weint.

Ebenso in »Blumenkind« der Findling, der nicht sagen will: »Mein Mütterlein ist tot«, sondern: »Ich bin der Sohn der Erde«, weil ein wenig Erde das Grab zudeckt. Es ist, als müßte durch solche Ausweichungen der Schmerz eingeschläfert werden, eine Regung, die nachzufühlen nur den zarteren und tieferen Seelen gegeben ist.

Ein Lied von süßester Schönheit ist das »Heu«. In diesem Lied hat die unbewußte Kunst einen ihrer höchsten Gipfel erreicht. Zwei verwandte Leitgedanken: das Welken der gemähten Blumen und das Welken der Jugend, spielen schillernd umeinander, und über dem Ganzen liegt die wonnevolle Wehmut des scheidenden Hochsommers. Das Heu singt, nachdem es seinen letzten Tau getrunken hat und von den Mädchen in Schlaf gesungen wurde:

Blumen, die noch in mir sind von gestern,
Haben Raum gemacht den Blumen
Morgen,
Und die Mädchen, die zu meinem Tod gesungen,
Weil sie Jugend haben,
Werden weichen all den Mädchen,
Die da kommen.
Ihre Seele wird wie meine Seele 352
Voll von Düften bleiben,
Und die Mägdlein, die erst morgen kommen,
Wissen nimmer, daß auch ich geblüht.
Andre Blumen werden sie erblicken – –

Und so fort bis zu dem in tiefen Molltönen verklingenden Schluß, der das getröstete Aufgehen in die vernichtende und neugebärende Natur ausspricht. Ein Duft steigt aus diesem Gedicht hervor, süß und berauschend wie aus sonnedurchtränktem Heu.

Am gewaltigsten wird die Unmittelbarkeit, wo das Innerste der weiblichen Seele sich offenbart; auch sind die Lieder in der Mehrzahl Frauen in den Mund gelegt, ja noch mehr, sie sind alle in ihrer Grundhaltung weiblich empfunden. Aber nicht die Liebe zum Mann erscheint als Mittelpunkt des Frauenlebens, sondern wie in meiner »Carlotta« der Urtrieb nach Mutterschaft. Unerschöpflich und mit entzückender Naivität kehrt dieses Thema wieder, so in dem Gedicht »Fragen«, wo die Tote nach allem fragt, was auf Erden geschieht, und endlich:

Schwester, hast du groß Verlangen
Nach des Gatten Kuß?

Und das Mädchen antwortet:

Ja, von selber langen meine Arme
Nach den kleinen Kindern.

Da wendet sich die Tote ab: 353

Schwester, Schwester, du hast nicht mehr mein gedacht.
Von der Erde nichts erzähle mir,
Denn man denkt nur an die Zukunft dort.

Noch hinreißender tritt dieses Element heraus in der Klage der Unfruchtbaren, mit der die Nester Mitleid haben. Ihr ist der Ungeborene immer gegenwärtig:

Dennoch lebt er in mir, wird mir nur nimmer geboren,
Nichts darf von ihm ich besessen haben als Sehnen.

Ebenso, aber mit ganz neuen Bildern in »Kinderlos« und am stärksten in »Fehlgeburt«, dem überraschendsten Gedicht der ganzen Sammlung, von dessen Größe und Ursprünglichkeit ein einzelner herausgehobener Vers gar keinen Begriff geben könnte.

Wenn der Trieb zur Mutterschaft ganz unverhüllt in der Majestät und Unschuld der Natur hervortritt, so birgt sich dagegen die Liebe der Geschlechter unter dem Schein zartester Zurückhaltung:

Der, von dem ich zu dir rede, wenn ich schweige,
Der ist's, den ich liebe.

Doch diese Scheu ist keine übersittliche, das Naturrecht der Liebe besteht daneben. Die Gefallene wird zwar von allen Lebenden verurteilt, aber die Gräber sprechen sie frei:

Die Gräber sprechen zu der Liebe: Sei gesegnet
Ob all der Früchte die du trägst,
Und fragen nicht: Wie trägst du diese Früchte?

354 Die Natur allein hat in diesen Liedern das Wort, sie wandelt in unermüdlichem Wechsel das Werden und das Vergehen, den Tod und die Liebe ab. Ureigener und ergreifender ist nie der Soldatentod besungen worden als in dem Gedicht »Ich bin zufrieden«. Ein Eingangsvers, der am Schluß wiederholt wird und scheinbar in keinem Zusammenhang mit dem Inhalt steht, leitet dieses Gedicht wie die anderen ein. Er stellt gleichsam das Element dar, woraus das Gedicht geboren ist:

Ich hatt' eine Spindel von Haselholz,
Die Spindel die fiel bei der Mühle ins Wasser,
Und nimmermehr bringen die Wasser sie wieder.

Hier drückt die davongetragene Spindel, die mit dem Soldaten nichts zu tun hat, nur die Unwiederbringbarkeit des Einzelloses aus, das der große Strom hinunternimmt. Von höchster Schönheit ist der Kern des Gedichts, das erfüllte Gesetz in der Brust des Tapferen, der im Grab zufrieden ist und dem reichen Leben, das über seinem Haupte weitergeht, nicht nachtrauert. Es ist eine antike Größe und Schlichtheit wie in der Grabschrift der dreihundert Spartaner; ohne Großhanserei, ohne den mindesten pathetischen Schwung geht die Poesie ihren ruhigen Gang bis zu dem überwältigenden Schluß, wo dem für seine Heimat Gefallenen auch noch der Wunschtraum des langen Andenkens genommen wird:

Denn der Frühling ist da, es lächelt die Erde,
Wir müssen die Toten vergessen.
Da sprach der Soldat aus des Grabes Grund:
Ich bin zufrieden.

355 Von geradezu überwältigender Neuheit ist das Gedicht »Der Mörder«. Hier sieht man das Gesicht, das die vollbrachte Tat annimmt, nachdem der Umschlag in der Seele des Täters eingetreten ist. Es blickt mit den Augen des Gemordeten und um so grauenvoller, als diese Augen freundlich blicken, denn die beiden, der Mörder und sein Opfer, gehören jetzt auf ewig zusammen und wandeln alle Wege gemeinsam, nur sie beide wissen voneinander. Niemand klagt ihn an, aber er selber muß jeden Begegnenden fragen: Hast du ihn gekannt? Und die anderen fragen zurück: Von wem willst du denn reden? Wunderbar ist das kranke Gewissen gemalt in den Wegen die sich wundern, daß er noch nicht müde ist, in dem Brunnen, der ihn gern tränken möchte, in der Nacht die ihn frägt, warum er nicht schlafen kann, und in all den freundlichen ahnungslosen Dingen, denen er unwirsch zur Antwort gibt: Laßt mich. – Die Furien mit der Schlangengeißel sind eine harmlose Erfindung gegen den immergegenwärtigen sanftblickenden Anderen.

Die gewählten Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen, denn jede Seite des Buches enthält solche Perlen reinsten Glanzes. Im schlichtesten dörflichen Rahmen zieht das natürliche Menschenleben, immer vom Wandel der Jahreszeiten begleitet, vorüber. Da gibt es kein Hoch und Niedrig, kein Reich und Arm, nicht einmal Bauer und Knecht, nur das Menschliche innerhalb der Naturgesetze: Alter und Jugend, Mann und Weib, Frau und Mädchen. Der Erdboden nährt alle, Kinder sind der höchste Besitz; um den Grund zu beschützen, zieht der Mann in den Kampf, die Liebe hofft und trauert, und über allen steht das unerbittliche Fatum. – Religiöse Vorstellungen 356 fehlen merkwürdigerweise gänzlich: auch die Liebe erhofft sich keinen Fortbesitz jenseits des Grabes. Eben darum hält sie das Geliebte mit so inniger Gewalt umschlossen und findet keinen Trost als das Weiterlieben in der zärtlichen Erinnerung. Die abgeschiedene Seele, die das Haus umirrt und aus den Pappeln seufzt, führt nur ein freudeloses, schattenhaftes Dasein wie bei den Griechen. Von der Kirche und ihren Bräuchen ist nicht die Rede, und auch das Kreuz erscheint nicht als Symbol sondern nur als Gegenstand wie in der leonorenartigen Ballade von dem Toten, der sein Grabkreuz trennend zwischen sich und seine Geliebte stellt.

Unfaßbar erschien es mir, als ich mit dem Buch zu Ende war, daß eine Sammlung von so fremdartiger und doch tief vertrauter Schönheit nicht alle nach reinem Quell dürstende Seelen mit ihrem Labsal getränkt hatte, sondern lange Jahre nach ihrem Erscheinen so gut wie unbekannt und unverstanden dalag. Wir lebten freilich in einer gründlich verbildeten Zeit, wo das Dorf nach der Großstadt drängte und wo Nachkommenschaft vielfach als unerwünschte Begleiterscheinung der Ehe angesehen war, wo also sämtliche Leitgedanken dieser Gedichte in ihr Gegenteil verkehrt waren. Um so mehr hielt ich es für geboten, auf den vergrabenen Schatz hinzuweisen, von dem ich mir eine wundertätige Erfrischung des verkümmerten poetischen Gefühls versprach, und ich tat es 1903 in der von Alexander Bernus in München herausgegebenen Zeitschrift »Das Reich«, indem ich, mehr als es hier der Fall sein kann, den einzelnen Herrlichkeiten nachging, aber zugleich auch schon den Zweifel aussprach, ob denn diese bei aller Einfalt der Frühen doch so kunstreich durchgeführten, vielfache 357 Lichter werfenden Gedichte überhaupt Volkspoesie sein konnten oder auch nur vom Volke selber in so vollkommener Gestalt bewahrt und überliefert, wobei es dann freilich ebenso unwahrscheinlich war, daß ein Gebildeter unserer Tage der Dichter sei. Ohne ein Mißtrauen in die Angaben der königlichen Übersetzerin und Herausgeberin, deren Verdienst jedenfalls ein außerordentliches war, zu äußern, denn ich hielt sie selber für getäuscht, sprach ich den Wunsch aus, es möchten sich ernsthafte Forscher mit der Frage beschäftigen. Da erhielt ich eines Tages ein Schreiben von Frau Mite von Kemmnitz, der ehemaligen Hofdame und Freundin Carmen Silvas, worin mir in unmißverständlicher Weise zu verstehen gegeben war, daß es sich um eine bewußte Irreführung handle, als deren Grund nur ein königliches Tel est mon plaisir angedeutet werden konnte; mit näheren Angaben hielt die Schreiberin zurück. In der Tat, als sich rumänische Forscher mit der Herkunft der Gedichte nachdrücklicher beschäftigten, wurde die Fabel von ihrer Herkunft aus dem Tal der Dimbowitza gründlich widerlegt. Dies hatte die unglückliche Folge, daß die literarhistorische Frage mit der rein poetischen verquickt wurde und die unsagbar schönen Dichtungen mit der Marke der Fälschung bezeichnet, worauf sie aus dem Buchhandel und zugleich aus dem Gedächtnis der Menschen verschwanden. Als ob ihr dichterischer Wert mit der Frage ihrer Herkunft das geringste zu schaffen hätte. Ähnlich wurde ja auch Macphersons Ossian als Fälschung umstritten und hat doch Goethe und Herder begeistert. Aber hier war mehr als Ossian. Wer würde wohl die homerischen Gesänge eine Fälschung nennen, weil ihr Ursprung noch heute nicht geklärt ist? – Nicht einmal, 358 in welcher Sprache diese Lieder zuerst gedichtet sind, kommt für ihre Wertung in Betracht, so ganz sind sie Sprache der Natur. Nur von der Annahme, daß der Balkan ihre Heimat sei, möchte man sich ungern trennen. Wer etwa denken würde, daß sie von der Königin selber seien, der braucht nur das vorangestellte Widmungsgedicht Carmen Silvas an ihr totes Kind zu lesen, so erkennt er trotz der versuchten Annäherung den Abstand zwischen dem, was unsere Großen als »naive« und »sentimentalische« Poesie unterschieden. Wie es sich in Wahrheit verhält, das dürfte von heute lebenden Personen nur noch eine einzige wissen.

Nach dieser Abschweifung in den »eigentlichen Tag« kehre ich nunmehr wieder in die Welt der »Uhren« zurück und fahre in meiner Chronik äußerer Erlebnisse fort.

Einen weiteren Zuwachs der Künstlerkolonie brachte der jetzt verstorbene Maler Ernst Sattler mit seinen drei schönen kunstbegabten Töchtern und einem Sohn, der durch Takt und natürliche Liebenswürdigkeit der heimliche Liebling aller war. Dem Sattlerschen Mädchenkleeblatt entsprachen die drei Großen von den ebenso schönen und begabten Hildebrandstöchtern, von denen die Älteste den jungen Sattler heiratete. Ein besonderer Schützling meiner Mutter war ein junger Belgier, den sie in San Francesco einführte und die aufkeimende Neigung zwischen ihm und einer der jüngeren Hildebrandstöchter beschirmte, bis die Verlobung zustande kam. Da waren zwei uns befreundete deutsche Maler, die heute in München leben: ein Schwabe, im Bekanntenkreis Giovanni genannt, der sich einen Ruf als Bildnismaler erworben hat, und sein in den gleichen Bahnen wandelnder ostpreußischer 359 Lebensfreund Martino. Die beiden sah man nie anders als gemeinsam, daher ein Spaßvogel sie »die zwei Ajax« nach der Offenbachschen Operette nannte. Da war ferner ein eigenartiger Rheinländer, der Böcklins jüngere Tochter Angela heimführte und sich später in Rom ankaufte. Und da war vor allem, unserem Hause am nächsten verbunden, der begabte Bildhauer Georg Römer. Obgleich dieser Freund, der mir über ein Jahrzehnt hinaus mit seltener Bereitschaft und Anhänglichkeit zur Seite stand, späterhin durch äußere und innere Wirrungen völlig aus meinem Dasein ausschied, war mir doch in dem Lebensabschnitt, von dem hier die Rede ist, seine Freundschaft zu wertvoll, als daß dem nun seit lange Dahingegangenen sein Platz in meinen Erinnerungen genommen werden könnte.

Dieser schöne, von reinem und hohem Kunststreben beseelte Mensch hatte bei trefflichen Anlagen einen unglücklichen Tropfen im Blut, der ihn friedelos machte. Mit seinem schwermütigen bronzenen Kopf, der an den asketisch verzückten musizierenden Mönch auf Giorgiones Konzert erinnerte, und einem echten herzlichen Entgegenkommen gewann er leicht die Zuneigung der Menschen, um sich nach kurzem ohne Not mit allen zu überwerfen. Für solche, die er liebte, hätte er augenblicklich sein Leben gelassen, denn er war maßlos in Zu- und Abneigung, kein Dienst, den er leisten konnte, war ihm zuviel, er drängte ihn auf und gab seinen ganzen Menschen hin, aber er drückte schwer mit seiner nordischen wühlenden Natur auf die Glücklicheren und schlug, weil er jeder Einflüsterung zugänglich war und jedes Lüftchen ihn störte, in jähes Mißtrauen um, das er dann ebenso jäh und gewaltsam wieder 360 gutzumachen suchte. Der düstere, argwöhnische Held Vonved der altdänischen »Kämpeviser«, der, gequält von Zaubersprüchen und von den Rätseln, die er anderen aufgeben muß, umherzieht und aus Selbstqual alles Schöne, das ihm unterwegs begegnet, in Stücke schlägt, schien mir so recht sein Geistes- und Gemütsverwandter zu sein, so daß ich ihn des öfteren während solcher schwarzer Stimmungen mit dem Kehrvers der alten Ballade »Schau dich um, Held Vonved« warnte. Er überzeugte sich aus der schönen Grimmschen Sammlung, die er trotz ihrer Seltenheit in Florenz auftrieb und mir zu Füßen legte, von der Ähnlichkeit, machte aber nie die geringste Anstalt, sie abzulegen. Daß er nicht lachen konnte, nie den Sinn für die Humore des Daseins erschwang und darum allem Beschwingten, Spielenden mißtrauisch gegenüberstand, gab seiner Stellung unter den Menschen etwas Tragisches, daher alle das Gefühl hatten, ihn schonen zu müssen. Wäre seinem strengen künstlerischen Ernst das künstlerische Vermögen gleichgekommen, so hätte er die Dissonanzen, die ihn quälten, leichter überwunden. Er war, aus einer engen hanseatischen Umwelt kommend, in Italien zuerst dem Schatten Zarathustras begegnet, der ihm sein Mitgebrachtes gründlich durcheinanderwarf, daß man ihm helfen mußte, im Geistigem wieder Fuß zu fassen. Dann wurde er im Suchen nach einen künstlerischen Vorbild in die Sphäre des großen Gestirnes Hildebrand gezogen und trug seitdem das »Problem der Form« wie eine Fahne vor sich her. Eine große Rundfigur im Hildebrandschen Sinne zu schaffen war sein glühendstes Verlangen. Allein er hatte mit dem Meister nur das Gesetzmäßig gemein; die Unmittelbarkeit der Bewegung, worin jener so 361 einzig groß war, weil sie aus der Sinnenhaftigkeit der Anlage floß, fehlte dem Jünger oder ging doch leicht in dem Bemühen, sie mit der Lehre der Reliefwirkung in der Rundplastik in Einklang zu bringen, verloren, wobei dann häufig am Ende eine in der Anordnung richtige, aber in der Bewegung nicht überzeugende Figur dastand, der es in ihrer Haut nicht ganz wohl zu sein schien. Mit immer erneuten feurigen Anläufen, denen nie der Adel der Kunstgesinnung aber oft genug die glückliche Hand des Vollbringens fehlte, rang er um diesen immer wieder entschwindenden Kranz, und die miterlebenden Freunde teilten immer aufs neue Hoffnung und Enttäuschung. Die eine Kunst aber, in der ihn niemand übertraf, die des Stichels, den er nach Art der Alten meisterlich handhabte, befriedigte ihn nicht; seine Medaillen, an die er einen unermüdlichen Fleiß wandte, darunter ein Zyklus der Jahreszeiten, in Silber gearbeitet, von seltener Poesie der Erfindung bei größter Feinheit der Ausführung, bedeutete ihm keinen Ersatz für das sich versagende Größere, wenn sich auch darüber streiten läßt, was das äußere Maß mit der inneren Größe zu tun hat.

In den Zeiten, wo es so in ihm wühlte, verlor er die Herrschaft über sich, und dann wurde, wer in seine Nähe kam, gekränkt und verletzt. Aber wenn die schwarzen Raben von ihm abließen, hatte man wieder den eingehendsten, hilfreichsten Freund, der nie mit Zeit und Kraft kargte, wo es den Freunden zu dienen galt. Vor allem gab es keinen besseren Wanderkameraden; bei seinem starken Ortssinn und großen praktischen Geschick war man völlig sicher, sich weder in dichten Wäldern noch in pfadloser Bergwildnis zu verirren, und keine kahle Bergflanke war so ausgebrannt, er fand noch, wenn auch 362 keinen Wasserlauf, so doch irgendeine tiefe Felskluft, aus der sich ein Klumpen feuchter Walderde zur Kühlung der Handgelenke heraufholen ließ. Denn er war im Wohltun erfinderischer als irgendwer. Nur durfte er sich nicht übermüden, sonst gaben seine Nerven nach; dann verdarb er aus böser Laune sich und anderen den Tag. Was ich ihm neben der persönlichen Bereitschaft am höchsten anrechnete, war seine innere Verbundenheit mit dem Griechentum, in dem auch er die nur einmal voll erblühte Blume der Menschheit sah. Man mußte sich an seiner Ergriffenheit freuen, wenn man mit ihm vor dem Delphischen Wagenlenker im Archäologischen Museum stand oder wenn man gemeinsam auf einer Bergspitze der Apuanischen Alpen den Agamemnon des Äschylos las und dabei im Geiste die Feuerbotschaft vom Brande Trojas von Gipfel zu Gipfel flammen sah. Unter dem jüngeren Künstlervolk, das über die bildende Kunst nicht hinausdachte, war er der einzige, dem die Erkenntnis aufging, daß es eine ältere, höhere Schwesterkunst gab, die makellos und vollkommen aus dem Haupte des Gottes gestiegen war, als die anderen noch in der Unform gebunden lagen. Er nahm auch mit aufgeschlossenem Sinn an meinen Arbeiten teil und ging mir bei Lösung meiner Aufgaben zur Hand, indem er, wie es später unser Thole tat, sachliche Zweifel behob, mir die Landschaftsstudien erleichterte und nach Bedarf auch erfundene Örtlichkeiten naturgemäß aufbauen half. Auf der Suche nach landschaftlichen und baulichen Besonderheiten, die sich zu etwaiger Verwertung im Skizzenbuch festhalten ließen, wurde manche seltsame Entdeckung gemacht, so eines Tages der versteckte Wohnsitz eines Timon, der in Stein die erbauliche Inschrift trug: 363

Amici - nemici (Freunde sind Feinde)

Fratelli - coltelli (Brüder sind Messer)

Paren ti - serpenti (Verwandte sind Schlangen)

Cugini - assassini (Vettern sind Meuchelmörder)

Ein treffliches Thema für Einen, der ohnehin den Menschen nicht zu viel Gutes nachsagte.

Somit bin ich auch diesem Freunde für seinen tätigen Anteil an meinem Schaffen Dank schuldig geworden, weil er mit dem scharfen Blick und der Liebe des Silberstechers in alles Kleine und Kleinste der künstlerischen Gestaltung eindrang, so daß es für die Einzelheiten keinen spürsameren Berater geben konnte als ihn, wogegen ihm freilich in der Dichtkunst wie im Leben die Überschau über ein Ganzes schwerfiel. Zuvor war mein erster Abnehmer meine Mutter gewesen. Sie befand sich im umgekehrten Fall. Zweifelspunkte konnte ich mit ihr nicht besprechen, ihr nur das entschieden Fertige vorlegen, denn ihr weiter Sinn sah nur Ganzes, die Teile gingen in der Gesamtwirkung unter, und daß die Kunst immer wieder von der Natur her berichtigt und bereichert werden will, war ihr, der nicht Ausübenden, keine persönliche Erfahrung. Die beiden Geister waren geborene Antipoden und konnten sich darum auch mit den Jahren immer weniger verstehen. Dem suchenden Jüngling war sie mit ihrer ganzen mütterlichen Wärme entgegengekommen, daß aber der werdende Mann noch immer nicht zu sich selber fand, das entfremdete ihm ihr Herz. Seine unbeherrschten Stimmungen und das dauernde Auf und Nieder machten sie seekrank. Sie sah zwar ein, daß einer, der mit sich selbst und seinem Schaffen unzufrieden ist, kein 364 gleichmäßig liebenswürdiger Gesellschafter sein kann, aber sie fand, daß ein solcher kein Recht habe, andere, glücklicher Veranlagte mit seinen Zuständen in Schrecken zu setzen. Wer ihm für soviel Liebesdienste zu danken hatte wie ich, urteilte nachsichtiger, und vor allem hieß es auf der Hut sein mit einer Natur, die seelisch immerzu auf der Kippe stand und bei der die Folgen eines unbedachten Wortes nicht abzusehen waren.

In besonders ängstlichen Krisen war es das Sicherste, wenn man den überbeschäftigten Edgar zu einem unverfänglichen Besuch in der Werkstatt des Gefährdeten veranlassen konnte. Der feinnervige Arzt, der selber in seiner Dichterbrust alle Mondwechsel trug, verstand es am besten, mit dem schwankenden Gleichgewicht umzugehen. Aber es war klar, daß niemand auf die Dauer helfen konnte, auch Hildebrand nicht, der gleichfalls aufgeboten wurde, bis der Ringende sich mit seinen Forderungen an sich selbst in Einklang gesetzt haben würde. Man konnte nur die Folgen seines Tuns von ihm abwenden, Freunde, die er verletzt hatte, ihm in der Stille versöhnen und abgestoßene Gönner zurückgewinnen, wozu auch meine gute Mutter, wenn ihr seine Art noch so sehr widerstrebte, doch immer willig die Hand bot.

 

»Willst du zur Kohle verglühn, so rat ich im Sommer Florenz dir«, hatte Platen seinerzeit gesungen, und diese Warnung bestand in den Jahren, von denen ich erzähle, noch zu Recht. Die damaligen endlos glühenden, regenlosen Sommer in der Stadt stellten mich vor eine immer schwieriger zu lösende Frage. Wenn Edgar mit seiner Familie in die Ferien ging, war Mama obdachlos, denn ich hatte ja kein Heim, in das ich 365 sie führen konnte. Zusammen irgendeine nahegelegene Sommerfrische aufzusuchen, kam für ihre Gewohnheiten nicht in Betracht, und ich bangte auch selber vor der Verantwortung, im fremden Ort mit ihr allein zu bleiben. Anderseits war aber auch das Zusammenreisen von Jahr zu Jahr aufregender geworden.

Da kam gegen die Jahrhundertwende Edgar auf den folgenreichen Einfall, sich am Strand von Forte dei Marmi, dem schönsten der östlichen Riviera, anzukaufen und dort ein Sommerhaus zu bauen, und Freund Vanzetti, der wie ein Mond um ihn kreiste, tat das gleiche. Ich kannte gut den armen kleinen Fischerort in der Lunigiana, der von einem mittelalterlichen Wartturm und dem daneben befindlichen Stapelplatz der zur Verschiffung lagernden Marmorblöcke seinen stolzen Namen trug. Jedes von uns Geschwistern in Florenz hatte ihn schon einzeln für sich entdeckt, ebenso wie unsere Freunde Böcklin, Hildebrand und Zurhelle, und hatten ihn auch schon alle unter mehr oder minder urtümlichen Verhältnissen bewohnt, daher der Ruhm der ersten Entdeckung des Wunderstrandes immer umstritten blieb. Unterhalb der Marmoralpen mit ihren gletscherhaft leuchtenden Brüchen und Geröllhalden, die das Auge durch ihre wechselnden Beleuchtungen und ihre kühne Dolomitengestalt immer neu entzückten, dehnte sich der offene, noch unbebaute Küstenstrich in unübersehlicher Einsamkeit; nur harte Strandgräser, von den Wellen beleckt, und Disteln wuchsen darauf, und ein tropisch verwachsener, von schilfigen Bächlein durchstossener Pinienwald trennte ihn von den Vorbergen. Dort lag, etwa zwanzig Minuten von der kleinen Ortschaft entfernt, zwischen der Mündung eines 366 Flüßchens und der tief ins Meer hineingebauten Landungsbrücke die Stelle, die Edgar sich zur Niederlassung ausersah. Ich beriet mit Vanzetti, ob ich wohl, ohne einen Gegensatz in die Ehe zu bringen, mich gleichfalls dort anbauen könnte, um meiner Mutter in der Nähe des Sohnes, aber unabhängig von ihm, eine sommerliche Zuflucht, mir selbst ein stilles Arbeitsheim zu sichern. Klugerweise gewann er zuerst die Gattin des Freundes für meine Absicht, indem er ihr nahelegte, daß sie durch meine Nachbarschaft ein für allemal von der Verpflichtung, die Schwiegermutter im eigenen Hause aufzunehmen, entbunden wäre. Das hatte die glückliche Folge, daß Edgar, der aus ganzem Herzen froh war, mir auch einmal behilflich sein zu können, die Sache gleich in die Wege leitete. Er beteiligte mich an dem eben schwebenden Kauf eines neuen umfangreichen Grundstücks neben dem seinigen, von dem er einen schmalen aber tiefen Streifen abtrennte, den ich um geringen Preis von dem ersten Besitzer erwarb und der für ein kleines Haus gerade genügte; er schloß auch für mich die verschiedenen Verträge ab und übernahm die rasch nacheinander fälligen Ratenzahlungen für den Bau, die ich durch die sicher eingehenden Honorare immer schnellstens wieder decken konnte, was mir das schöne Bewußtsein gab, mir mein Haus in doppeltem Sinne selbst zu bauen. Desgleichen entwarf er den Grundriß und Aufbau mit so geschickter Raumausnützung, daß alle, die das kleine Ding bewohnten, sich über die bequeme Einteilung auf so beschränkter Fläche wunderten. Ich überließ ihm gern die Leitung, die seiner Natur Bedürfnis war; nur über die Maße des Ganzen waren wir uneins, weil ich das Häuschen, für das er nur eine Eintrittshalle und 367 zwei Zimmer im Obergeschoß vorsah, gern geräumiger gehabt hätte, er aber mir entgegenhielt, daß ich, je größer mein Haus wäre, mit um so mehr Gästen zu rechnen hätte, die von unserer Mutter hergezogen, mir selber Raum und Ruhe beeinträchtigen würden. Ich erreichte schließlich soviel, daß zwar seine Maße durchgingen, die Küche aber mit einer bequemen Terrasse außen auf der Bergseite angebaut wurde, wodurch sich für das Erdgeschoß noch ein kleines Ablege- oder Bibliothekzimmerchen ergab. Die Grenzen wurden abgesteckt, und bei meiner Hinkunft im Herbst konnte mit der Arbeit begonnen werden. So entstand das dritte Haus am Meere, und diese drei kleinen, anspruchslosen Häuschen legten den Grund mit den schnell nachfolgenden größeren unserer Freunde zu einer Siedlung, aus der mit der Zeit ein heute weltkundiger, unter den großen Seebädern Italiens mit an erster Stelle genannter Badeort erwuchs, der nichts mehr vom Geiste seiner ersten Gründer weiß. Seine Bewohner, kein in heiterer Armut lebendes Fischervölklein mehr, wie ehedem, bauen sich große Villen modernsten Stiles und belasten sich mit den Steuern und Sorgen des Besitzes. Wo die drei kleinen Häuser standen, von denen nur noch eines, das meinige, erhalten ist, da dehnt sich eine endlose Villenstraße, von der einen Seite bis Viareggio, von der anderen bis Massa reichend und, wie sich's versteht, von einer breiten Autostraße begleitet, die sich zwischen das Meer und die Vorgärten geschoben hat und die mit ihren Benzingerüchen den Salzhauch des Meeres und die vom Abendwind hergetragenen Harz- und Blumendüfte der Pineta verschlingt. Die märchenhafte Pineta selber ist freilich fast nur noch im Namen erhalten: breite Villenstraßen 368 durchschneiden sie die Kreuz und Quere und lassen von dem einstigen Baumreichtum nicht viel mehr als die pinienbestandenen und gärtnerisch gepflegten Schmuckhöfe großer Villen und Pensionen übrig. Ich muß die Augen fest schließen, um aus den Tiefen der Erinnerung noch einmal die Zauber einer wie frisch aus Gottes Hand herniedergetauten Frühe heraufzuholen.

 

Es war im Sommer 1899. Die Hitze war unsäglich, das wasserlose, immer von Staubwirbeln durchtobte Florenz, aus dem alle Freunde sich geflüchtet hatten, für Mama und mich unbewohnbar geworden. Ich nahm also das Mütterlein noch einmal mit all ihren Reiseängsten unter die Fittiche und entführte sie glücklich, was nicht so leicht war, wie es scheinen mag, in das reizende Villabruna bei Feltre, wo Alfred mit den Seinen sich zur Sommerfrische in einer behaglichen Villa aufhielt und wir beide nebenan das bescheidene, aber angenehm luftige und blumenduftende Schulmeisterhaus bezogen. Alfred war selig, endlich wieder einmal seine Mutter bei sich zu haben, er umgab sie mit den zärtlichsten Aufmerksamkeiten wie eine Geliebte. Ich schrieb dort die Heimatnovelle »Werthers Grab« für den Zyklus »Von Dazumal«, indem ich meine äußere Schau für die nahe Bergwelt abriegelte und mir innerlich die Bühne meiner Kindheit heraufbeschwor, was mir das kleine verwahrloste Gärtchen, wo ich schrieb, erleichterte. Die Wochen in Villabruna wären noch erholsamer gewesen ohne das allabendliche Heimziehen der Kühe von der Weide, denen meine arme Mutter regelmäßig in der Dorfgasse begegnete. Denn die einzigen Lebewesen, die diese tapfere Frau fürchtete, waren Kühe; vor diesen aber hätte sie, wie mein Vater ihr 369 nachsagte, im Löwenkäfig Schutz gesucht. – Etwas später im Jahr erschien auch Römer auf der Durchreise nach Norden und fügte sich einige Zeit dem ländlichen Leben ein. Er bestand ritterlich ein Kuhabenteuer für die Damen und war mir behilflich, mein deutsches Fahrrad, das noch keine Marke hatte, unter den nachsichtigen Augen der Zollwächter von Le Tezze über die österreichische Grenze zu schmuggeln und es eine Stunde später auf italienischem Gebiet ordnungsmäßig wieder einzuführen. Bald aber trieben seine Nerven den alten Spuk, daß er durch plötzliches Verschwinden ins Gebirg das Haus in Bestürzung versetzte und der warmherzige Alfred ihn voller Schreck da oben suchen ließ, ihm dann aber zusprach, sich schnellstens aus dem Bereich der Glutströme in seine Heimatluft zu retten.

In die Tage von Villabruna fiel eine eigentümliche kleine Episode, die ich nicht mit Stillschweigen übergehen will, weil sie für die einzig große Denkart meiner Mutter kennzeichnend ist wie nichts anderes. Ich erhielt dort eines Tages von unbekannter weiblicher Seite aus einem kleinen badischen Städtchen die Anfrage, ob ich die Tochter von Hermann Kurz sei, die einst beim Stiftungsfest der Universität Tübingen als Muse den Festwagen gelenkt habe; man hätte mir in diesem Falle eine mich sehr nahe betreffende Mitteilung aus dem Leben meines Vaters zu machen, wünschte aber vorher zu wissen, ob meine Mutter noch am Leben sei, um ihr ja keinen Schmerz zu bereiten. Ich ging mit diesem Brief ins Nachbarhaus, wo Mama mit Alfred beisammensaß, und las ihn vor. Hurra, wir haben einen Bruder! rief der ewige Student erfreut. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß es sich um eine 370 Schwester, die Schreiberin selbst, zu handeln scheine, denn eine andere Deutung ließ der Brief meiner Ansicht nach nicht zu. Macht nichts, Bruder oder Schwester, war die Antwort, das Ereignis muß gefeiert werden. Und alsbald stieg der Gute in seinen Keller hinab (wozu er gern die Gelegenheit ergriff) und holte seine letzte Flasche Champagner herauf, um sie selbander auf das Wohl des neuen Geschwisters zu leeren. Mama saß verklärt mit glänzenden Augen; kein kleiner Gedanke kam in ihre Seele, wie daß der Geliebte ihr etwas verhehlt habe, oder gar ein Zug von weiblicher Eifersucht – nichts haßte sie mehr als diese: wenn eine ihrer Freundinnen ihr über einen dunklen Punkt im Vorleben ihres Mannes oder gar über eheliche Flatterhaftigkeit klagte, so wurde sie abgefertigt mit der Mahnung, auch anderen Frauen etwas zu gönnen. Freilich ein Gedanke hätte sie müssen stutzig machen: sie hatte während ihrer Brautzeit wiederholt meinen Vater befragt, ob er nicht, da er lang Junggeselle geblieben, irgendwo ein Kind besitze, sie würde es mit Freuden übernehmen und wie ein eigenes aufziehen; er konnte an der Zuverlässigkeit ihres Wortes nicht zweifeln, denn sie hatte an einem unehelichen Sprößling ihres Erzeugers nach dessen Tode unaufgefordert das gleiche getan. Aber ihr Dichter hatte immer mit Lächeln versichert, daß er nicht dienen könne. Doch an diesen Widerspruch konnte sie jetzt nicht denken. Da war nur eins: ein Kind von ihm, ein unbekanntes! Fünf hatte sie besessen, eines war ihr genommen, jetzt schickte ihr eine gütige Gottheit spät noch den Ersatz. Sie fühlte sich wie Sarah, die im höchsten Alter noch Mutter wird, und breitete innerlich schon weit die Arme aus, um das Geschenkte zu empfangen.

371 Ich schrieb zurück, daß ich allerdings dieselbe sei und daß ich bitte, sich mir ganz frei und rückhaltlos anzuvertrauen. Meine Mutter lebe und zwar mit mir; sie sei die großherzigste aller Frauen und die zärtlichste aller Mütter, jede Erinnerung an meinen Vater sei ihr heilig und sie habe in ihrem Herzen auch für das Außergewöhnliche Raum; die Schreiberin dürfe überzeugt sein, daß, was immer sie zu sagen habe, eine herzliche und verständnisvolle Aufnahme finden werde. Die Rückantwort brachte eine wunderliche Ernüchterung, schon durch die Anrede »Liebe Kusine« in Verbindung mit der Mitteilung, daß und wieso wir entfernte Verwandte seien (was nahezu alle Württemberger untereinander sind). Dann kam die Enthüllung von dem ehemaligen Verlöbnis meines Vaters mit der Mutter der Schreiberin, das an dem Nein des erhofften Schwiegervaters scheiterte. Die Tochter schien zu glauben, daß die Auflösung des Verhältnisses meinen Vater auf lange Zeit hinaus ebenso unglücklich gemacht habe wie ihre Mutter. Solcher Fälle hatten sich jedoch in seinem Leben eine ganze Reihe ereignet: so oft sich ein Mädchenherz dem schönen und glänzenden jungen Dichter zuwandte, war er bereit, den Herd zu gründen; die betreffenden Schwiegerväter aber fanden, daß der Brennstoff ungenügend sei, und die Töchter entsagten. So ging es auch mit der schönen Lina: sie heiratete auf väterlichen Befehl einen ungeliebten Mann, mit dem ihr Wesen sich nicht verstand, und siechte neben ihm hin, immer des schönen versagten Glückes gedenkend. Es waren die passiven Frauentugenden des Gehorchens und Entsagens, wozu das vorige Jahrhundert die hilf- und willenlose Weiblichkeit erzog. Die arme Glücklose war augenscheinlich von feinerem Holz als ihre 372 Vorgängerinnen, sie trug den Pfeil lebenslang im Herzen und zog sich die Tochter zur Vertrauten heran, damit sie ihr trauern helfe. Ein rührendes kleines Idyll aus biedermeierlicher Enge, aber nicht ohne eine leise Komik im Gegensatz zu der allumfassenden Menschlichkeit meiner Mutter, die etwa an Fürstenhöfen des Mittelalters, wo man die natürlichen Kinder mit der nämlichen Sorgfalt neben den gesetzlichen aufzog, ihresgleichen fand. Welch ein Abstand zwischen diesen bürgerlichen Haustöchterlein, die nichts verstanden als kochen und nähen, und doch nicht wagten, das unsichere Los des Geliebten mit ihrer Fürsorge zu begleiten, und seinem Freifräulein, für die es Himmelsglück bedeutete, daß sie gewürdigt war, seine Entbehrungen und Gefahren zu teilen. – Was ich jener armen Wehrlosen aber wahrhaft übelnahm, war, daß sie auch später als Witwe niemals daran dachte, dem Schwergeprüften ein Zeichen ihres Andenkens, wenn auch nur ein armes Vergißmeinnicht, das ihm vielleicht ein augenblickliches Lächeln abgewonnen hätte, zukommen zu lassen. Auch ihre Tochter erzog sie nicht zu feuriger Begeisterung für den verkannten Dichter, nur zur Mitklage über ihr eigenes verfehltes Los. So verdiente sie auch im Grund nichts Besseres, als daß mein Vater seinem Jugendfreund Kausler gegenüber den ganzen Fall mit der Bemerkung abtat, es sei der dümmste von allen Poetenstreichen gewesen.

Ich überließ die Fortsetzung des Briefwechsels meiner Mutter und zweifle nicht, daß ihre spendende Schreibehand auch über diese Kluft eine Brücke geschlagen haben wird.

Fast noch ferner vom kleinen Sinne der Durchschnittsfrau erscheint sie im Verhältnis zu einer anderen Vorgängerin. Kurz 373 vor seiner Verheiratung war mein Vater mit dem schönsten Mädchen von Stuttgart heimlich verlobt gewesen, aber auch in diesem Falle hatte die Familie das Band gelöst mit dem Hinweis, daß er nicht imstande wäre, die Ansprüche der schönen Verwöhnten, um die wohlhabende Männer warben, zu befriedigen. Meine Mutter aber erhielt an seiner Stelle durch Briefwechsel die freundschaftliche Beziehung zu der nach auswärts Verheirateten aufrecht. Da geschah es nach Jahrzehnten, daß Paul Heyse an einem Kurort die einst gefeierte Schönheit kennenlernte und an meinen Vater schrieb, er habe ein »verblühtes Schätzchen« von ihm gesehen. Dieses nach Männerart hingesprochene Wort kränkte meine Mutter in das Herz der anderen hinein, deren Jugendschönheit in ihres Dichters Liedern fortlebte, und sie nahm mir unzählige Male das Versprechen ab, wenn einmal der Heyse-Kurz-Briefwechsel gedruckt würde, dafür zu sorgen, daß die Stelle wegbliebeDaß in einem anderen dieser Briefe Heyse irrtümlicherweise ein von Alfred schlecht bestandenes Examen dem aus jeder Prüfung mit Glanz hervorgegangenen Edgar zuschrieb, war ihr ein zweiter Stachel, für dessen Beseitigung ich zu sorgen versprach. Da es mir nicht vergönnt ist, ihre Wünsche zu erfüllen, lege ich zur Versöhnung ihrer Manen die Berichtigung an dieser Stelle nieder.. Nach meines Vaters Tod wurde es ein Herzenswunsch der beiden Frauen, daß Edgar die gleichnamige Tochter der ehemaligen Verlobten des Vaters heirate, und gewiß wäre dieser Bund ein glücklicher gewesen; aber bevor der junge Arzt eine gesicherte Stellung hatte, trat wieder jener »Andere« dazwischen, der immer die Braut wegholen kommt, und führte das anziehende Mädchen heim. Das war ein Schlag für meine Mutter, aber ganz geschlagen gab sie sich nicht: als Edgar ein kleines Töchterchen hatte, setzte 374 sie es der Wahl ihrer Schwiegertochter entgegen durch, daß es den Namen der Jugendgeliebten ihres Dichters erhielt, der sich in deren Tochter wiederholte, so daß im Klang zweier Silben ein unerfülltes Herzensgeschick von zwei Generationen mit der Familie verbunden blieb. – Jede Frau, der ich von dieser Haltung meiner Mutter erzählte, hatte darauf nur die eine Antwort: Dazu wäre keine andere fähig gewesen.

Die Briefe meiner Mutter! Es sei einmal an dieser Stelle davon die Rede. Unermüdlich spann sie damit ein Netz von Liebe über die darbende Welt. Jeder war ein Geschenk an den Empfänger, wie das Briefe immer sein müßten; wo sie eine einsame verkümmerte Seele wußte, dahin flog ein solches Geschenk; seitdem sie keinen Haushalt mehr zu führen und keine Kinder zu unterrichten hatte, blieb ihr ja Zeit in Menge. Es wäre falsch, diese Briefe geistvoll zu nennen, sie waren wogender Seelenstoff mit jeweils einem Blitz höheren Erkennens dazwischen. Mit klarster Schrift in engen Zeilen geschrieben, um möglichst viel auf eine Seite zu bringen, meist mit keinem anderen Datum als dem Wochentag, auf dem schlechtesten, billigsten Papier, das auf herumziehenden Karren zu finden war – nicht die Sparsamkeit allein, auch Rücksicht auf die armen Händler bestimmte die Wahl –, so gingen diese armgekleideten Apostel mit den ewigen Botschaften hinaus. Aber während die Damen der großen Welt ihre Nichtigkeiten mit der großen steilen Modehandschrift auf brettersteifes, mit Namenszug verziertes Leinen oder Bütten schrieben, dessen Gewicht nicht selten den Empfänger Strafgebühr kostete, zerfielen diese kostbaren Blätter oft schon nach einigen Jahren wegen Brüchigkeit des Papiers. Für ihre Kinder freilich 375 waren diese Mutterbriefe auch verhängnisvoll, denn die Schreiberin tat sich keinen Zwang an, sondern schüttete alles aus, was sie bedrängte und was ihr durch den Sinn ging; man mußte lernen sie richtig zu lesen. Wie viele bange Stunden haben mir diese geflügelten Boten in die Ferne gebracht, während die Absenderin die Lasten, die sie darin abgelegt hatte, bei ihrer großen Beweglichkeit oft schon selber gar nicht mehr spürte. Der einzige überlebende ihrer Söhne, Erwin, hat mit Bedauern alle diese Briefe vernichtet, weil sie ein falsches Bild von der Wirklichkeit gaben und mit allzu phantastischen Einfällen, nur den Eingeweihten auslegbar, durchkreuzt waren. Ich konnte mich zu dieser Opferung nicht entschließen. Aber ein Vers an sie, von meiner Hand geschrieben, den ich unlängst unter alten Papieren fand, rief mir diese Not lebhaft in Erinnerung:

Schütte dein Herz aus,
Aber verschütt' es nicht,
Und was die Sorge spricht
Leg es als Scherz aus,
Daß aus den Blättern,
Wenn sie ein Ferner liest,
Mit deinen Lettern
Nur Freude fließt.

Offenbar war es eines der jährlichen Geburtstagsgedichtchen, womit ich irgendein kleines Geschenk zu begleiten pflegte, und in diesem Fall kann die Gabe nur in anständigem Briefpapier bestanden haben.

Als ich fünfzehn Jahre nach ihrem Tode zum erstenmal wagte, ein Bündel ihrer Briefe zu öffnen, da flog die Tür auf und sie 376 mit einem Jubelschrei an meinen Hals, und ich verstand wieder alle die Macht, die sie auf ihre Umgebung geübt hatte. Und zugleich füllte sich der Raum mit lauter vertrauten Gestalten, die mit dazu gehörten und eine stärkere Gegenwart besaßen als alle jetzt Lebenden. Da war es eine Pein, zu keinem von ihnen sprechen zu können, denn ach, sie wußten nur noch von ihren Tagen und nichts mehr von den meinigen. 377

 


 << zurück weiter >>