Isolde Kurz
Die Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen
Isolde Kurz

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Viertes Kapitel

Das Gestirn des Vaters

Hauch der Dichtung, himmlisch Kind,
Fasse die Segel, daß auch der Wind,
Dein irdischer Bruder, wie er treibt,
Weit weit im Flug zurückebleibt.
Dir ists ein kleines, Aar und Pfeil
Zu überholen, des Windes Eil,
Du küssest und wirst nimmer müd
In Einem Atem Nord und Süd,
Die Zeit selbst, die dich will belügen,
Sie muß sich deinem Gebote fügen.
—   —   —   —   —   —   —   —   —
—   —   —   —   —   —   —   —   —
Du sausest nah, du sausest ferne,
Ach, du auch stehst im Bann der Sterne!
Auch du, o Königin der Gedanken,
Auch du besiegst nicht alle Schranken.
Du Hohe, die alle Welt gewinnt,
Du bist oft nur ein weinend Kind.
Sonst könnten die dein Banner tragen
Auf Erden ja nimmer nimmer klagen. – –
    (Aus Hermann Kurz: Tristan und Isolde)

Nach allem, was ich in meiner Hermann-Kurz-Biographie und späterhin in Aufsätzen und Vorträgen über meinen 74 Vater erzählt habe, geschieht es nur mit Widerstreben, daß ich hier die Tragik dieses Dichterloses, wenn auch flüchtig, wieder aufrolle und die alte Klage um die noch immer nicht voll gesühnte Schuld des Vaterlandes an einem seiner besten Söhne abermals erhebe. Doch in der Lebensgeschichte der Tochter kann das Schicksal des Vaters nicht fehlen, auf das alle späteren Geschicke der Seinigen als auf den Urgrund zurückgehen. Ich selber habe das Gestirn meines Vaters nicht mehr im Zenith gekannt. Den genialen Dichterjüngling, der die »Heimatjahre« schrieb, der inmitten größter Lebensnöte, frierend und hungernd bei der Nachbildung der übermütigen Strophen des »Rasenden Roland« »Feenbrot aß«, der aus strömender Fülle den mächtigen Schluß des Tristan schuf, diesen muß ich wie alle anderen Leser in seinen Büchern suchen. Einen Schmack seines Wesens gaben mir die Kindheitserinnerungen der im Jahr 1920 als Neunzigerin verstorbenen Marie Caspart, genannt Waldfegerlein, die von dem Jüngling als kleines Kind auf den Armen getragen worden war und ihn später als zierliche Mignon umgaukelte. Es ergibt ein köstliches Bild, wie er nach ihrer Schilderung mit ihrem Onkel Kausler, seinem liebsten Jugendfreund, in überlebendiger literarischer Auseinandersetzung begriffen im Zimmer auf- und abrannte, dazu mit heftiger Gestikulation das Kind im Arme schwenkend, daß der Onkel ihm ärgerlich die Kleine abnehmen wollte, die sich jedoch leidenschaftlich an ihren Geliebten festklammerte. Gern erzählte sie auch, wie er mit ihr von Laden zu Laden ging, um ihr das Beste und Schönste zu kaufen, was ein fünfjähriges Fräulein sich wünschen kann, wie das zartfühlende Herzchen sich aus Bescheidenheit wehrte und er im 75 Glauben, die Sachen gefielen ihr nicht, immer neue, noch kostbarere Dinge aufsuchte und am Ende trotz ihres ängstlichen Weinens ein mächtiges Paket zusammenstellen ließ, das ihr ins Haus getragen werden mußte. Aus dem Schrein, der ihre liebsten Reliquien enthielt, holte sie mir noch ein aus jenem Laden stammendes gläsernes Körbchen hervor, das sie als kostbares Erbgut in meine Hände legte.

Noch großartiger, ja in wahrhaft fürstlicher Großartigkeit erscheint der junge Hermann Kurz in einem Bericht, den Herr Engelbrecht Wittig, der genaueste Kenner des Zigeunerwesens, aus Erinnerungen des fahrenden Volkes ans Licht gebracht hat – wenn nämlich mein Gewährsmann, wie nicht unglaublich scheint, mit seiner Vermutung, daß die dargestellten Vorgänge sich auf den Verfasser von »Schillers Heimatjahren« beziehen, auf der rechten Spur ist. Das kleine Stück altwürttembergischer Zigeunerromantik ist so eigenartig, daß ich den Lesern einen Gefallen zu tun glaube, wenn ich es diesen Blättern einfüge.

Es war im Jahre 1914, daß ich aus Degerloch bei Stuttgart einen mich überraschenden Brief von ungewöhnlicher Seite erhielt. Der Schreiber, eben jener Herr Wittig, gab sich als einen Versippten des fahrenden Volkes zu erkennen, da seine Frau eine späte Nichte des gewaltigen Zigeunerhauptmanns Hannikel sei, ein Name, der schwäbischen Ohren so klingt wie im Rheinland der des Schinderhannes. Er, der Briefschreiber, habe gehört, daß ich die Tochter des Dichters Hermann Kurz sei, der mit zigeunerischen Bräuchen und Überlieferungen wohlvertraut in seinem Roman »Schillers Heimatjahre« Taten und Ende des Hannikel geschildert habe, und er legte 76 mir nahe, daß es ihn freuen würde, das Buch zu kennen und zu besitzen. Ich war dazumal schlecht bei Kasse, aber mein Bruder Erwin ließ ihm durch den Buchhändler die Gesammelten Werke von Hermann Kurz überreichen, damit er sich aus dem »Sonnenwirt« überzeuge, daß die Zigeunerstudien unseres Vaters in noch umfassenderer Weise weiter gezweigt haben als in den »Heimatjahren«. Der Empfänger überreichte seinerseits ein kleines aufschlußreiches Werklein über Zigeunerleben und -bräuche aus seiner eigenen Feder, wonach der Briefwechsel für lange Zeit einschlief. Nach sechzehn oder mehr Jahren fand sich der in meinem Gedächtnis versunkene Briefschreiber wieder ein. Er hatte im Schützengraben und nach der Heimkehr das deutsche Schicksal gründlich miterlebt und nach Verlust seiner Familie und aller seiner Habe aus dem nahrhafteren Gewerbe der Bürstenbinderei in das ungewisse des Schriftstellers hinübergewechselt. Zur Beglaubigung schickte er mir einen Ausschnitt aus dem »Stuttgarter Tageblatt«, die von einem schreibkundigen Sippengenossen aufgezeichnete, von E. Wittich aus der Zigeunersprache übersetzte und mit Erläuterungen versehene Überlieferung eines großartigen Festes im Schwarzwald, das einmal einer Gruppe von Zigeunern der leibhaftige Gottseibeiuns gegeben. Aus den ungeheuerlichen Übertreibungen des Zigeunerberichts von den damals erlebten Herrlichkeiten meint der mit der Stammesart wohl vertraute Übersetzer die Spuren meines Vaters zu erkennen, wie dieser als junger Mann unter dem fahrenden Volk im Schwarzwald auf volkskundliche Ausbeute für die Vorstudien zu seinem Roman fahndete.

77 Aber ich muß den Vorgang mit allen grotesken Verzierungen, wie er sich den Augen der Fahrenden darstellte, hersetzen.

»Hatten da einmal« – eine bestimmte Zeitangabe darf man nicht erwarten – »die Zigeuner an einem schönen Sommertag mit vielen Sippen und vielen Wagen im württembergischen Schwarzwald ein Lager mitten unter den Tannen aufgeschlagen, nämlich die ›Riklengeri‹ (Sippenname) mit fünf Wagen, die ›Schnurmichel‹ mit zwei, die ›Lärli‹, der Dornstedter Hans und die ›Moadlengeri‹, um dem Erstgeborenen der ›Moadl‹ das Tauffest zu feiern. Sie waren gerade dabei, ein paar von den Moadlengeri mit ihrem Hund Godelo gefangene Igel, bekanntlich die Lieblingsspeise des fahrenden Volks, zu braten. Da trat plötzlich, es war Punkt zwölf Uhr, ein schöner hochgewachsener Herr, im grünen Jagdhabit vornehm und gebieterisch anzuschauen, mit grünem Hütchen und großer Feder, unter den Tannen hervor und mitten unter die Versammlung. Niemand hatte gesehen, von wannen er kam, nicht einmal der ›Späher‹, der nach altem, aus den Zeiten der Verfolgung stammendem Zigeunerbrauch, in der Nähe Posten stand. Er trat gleich an den Wagen der Wöchnerin heran, und als er hörte, daß es ein kleines Mädchen sei, das getauft werden solle, forderte er sie auf, ihm die Wahl des Namens zu überlassen, wofür er alles, was von sämtlichen Anwesenden gegessen und getrunken werde, bezahlen und allen einen schönen Tag machen wolle.«

Die Moadl war schon bei dem plötzlichen Erscheinen des fremden Herrn ängstlich und mißtrauisch geworden, und als sie jetzt vernahm, daß sie nach seinem Wunsch ihr Kind Napolina nennen solle, bekam sie es mit einer abergläubischen Furcht, 78 denn der geheimnisvolle Jäger – der im Lauf der Überlieferung schwarzes Haar, schwarzen Bart und schwarze glühende Augen bekam – erschien ihrer Bangigkeit wie der, den man nicht gerne nennt. Sie beriet sich auf ›romanes‹ (zigeunerisch) mit ihrem Mann, der ihr die Torheit ausredete. Danach gab sie notgedrungen ihre Einwilligung und bedang sich nur aus, daß die Lärli Patin sein müsse und das Kind noch deren Namen Rosina dazu bekomme. Es ging nun ins Dorf, zum Pfarrer, in die Kirche, und das Kind wurde auf die beiden Namen getauft. Danach aber ging es hoch her.

»Nach der Taufe mußten gleich einige von unseren Frauen und Mädchen mit dem Herrn zu allen Bäckern gehen, die im Dorfe waren, und da kaufte der Herr alles Weißbrot und Kuchen zusammen. Kaum aus dem Bäckerhaus heraus, ging der Herr schon wieder in den Kaufladen hinein, wo er Kaffee und Zucker, Tabak und Zigarren einkaufte. Großer Gott, was machten da die Weibsleute für Augen! Alle diese Sachen trugen sie in ihren Schürzen oder auf den Armen, wie es ging. Jetzt kamen sie zurück ins Wirtshaus, wo wir Männer so lang haben warten müssen und, liebe Freunde, den Lärm und Jubel der Frauen könnt ihr euch vorstellen.

Aber lieber großer GottDie vielen Ausrufe sind Zigeunerstil., wie rissen wir Männer erst die Augen auf, als jetzt der Herr gleich auf einmal bei dem Wirt, der zugleich auch Metzger war, vier große Faß Bier und auch ein halbes Schwein bestellte! Uns allen lief das Wasser im Mund zusammen, als wir das viele Fleisch sahen und das viele Bier. Aber das Beste kam erst nach! Der Wirt mußte 79 auch ein paar Flaschen Branntwein und eines der Mädchen einen ganzen Laib Käse und eine Schüssel voll Heringe bringen.«

Die Freude war, wie wir sehen, groß, aber als die Leute dem Herrn danken wollten, der große Gott möge es ihm wieder einbringen, wurde er zornig und sagte: Ich will nichts von Dank hören, macht Euch einen schönen Tag. Da sagten sie nichts mehr, um ihn nicht aufzubringen aus Furcht, er lasse am Ende die guten Sachen wieder fortnehmen. Diese wurden nun hinaus auf den Lagerplatz bei den Wagen gebracht, wo gesungen, getanzt und musiziert werden sollte. Doch zuvor mußten einige von den Burschen nochmals zurück mit Eimern, die der Herr mit Wein füllen ließ.

»Dann, liebe Freunde,« fährt der Berichterstatter fort, »ging es los an ein Kochen, Braten und Essen. Das Beste kam zuerst: Branntwein und Heringe. Die Kinder bekamen Kuchen und Kaffee. Die Instrumente wurden aus den Wagen geholt, gestimmt und Musik gemacht, gesungen und getanzt. Überall und mitten drin war der Herr. Schon von weitem sah man ihn unter allen, mit seinem schönen grünen Anzug, dem grünen Hut und der großen Feder darauf. Er lachte immer und sagte bloß: Eßt, trinkt, singt und tanzt, spielt und seid lustig! Mit den Händen schlug er den Takt zum Tanz. Seine Augen schossen Blitze. Die Freude und das Vergnügen war überall groß.«

Unter der ausgelassenen Fröhlichkeit kam die Mitternacht heran. Mond und Sterne blinkten durch die warme heitere Nacht. Ein Teil der Männer lag bezecht am Boden, die anderen saßen um das Lagerfeuer, als man plötzlich entdeckte, 80 daß der Herr nicht mehr da war. Nur die Moadl hatte ihn noch einen Augenblick gesehen, als er ihr für den Täufling ein paar Goldstücke gab, die sie noch in der Hand hielt. Gleich darauf war er spurlos verschwunden, geheimnisvoll wie er gekommen war. Man rief und suchte nach ihm vergebens, und auch am andern Morgen war im Dorfe keine Spur mehr von ihm zu erfragen. Um zwölf Uhr war er erschienen, um zwölf Uhr war er gegangen: genau von Mittag bis Mitternacht hatte die Herrlichkeit gedauert. Jetzt kamen alle zur Besinnung. Die Moadl, die allein an der allgemeinen Lust keinen Teil genommen und auch von den Leckerbissen nichts berührt, sondern nur immer angstvoll das Kind festgehalten hatte, damit keine böse Macht es ihr entwende, die kam jetzt mit ihrem Vorgefühl zu Ehren. Die Moadl war ja als Wahrsagerin weit bekannt, die Moadl hatte gleich das Rechte gewußt. Die Stimmung schlug völlig ins Gegenteil um. Und als jetzt mit einem Male ein Flug Raben häßlich krächzend über das Lager strich, da zweifelte niemand mehr an den Worten der Moadl, die ein Unglück weissagte. Der Fremde, den sie eben noch begeistert gepriesen hatten – wie gut für ihn, daß er sich aufs spurlose Verschwinden verstand! –, der hatte sie alle verhext, denn er war kein anderer als der Böse in Person.

Und nun kam ein trauriges Nachspiel: das Kind der Moadl schrie nach seinem Weggang unaufhörlich, es nahm keine Nahrung mehr, wurde krank und starb. Der leidenschaftliche Jammer der Mutter und ihr Selbstvorwurf prägten es allen tief in die Seele, daß sie sich jenes Tages mit Teufelsgold erlustigt hatten. Und von da ab mieden die Zigeuner jene bevorzugte 81 Waldstelle, die so schön zum Lagerplatz geeignet gewesen. – Soweit der Bericht.

Nachdem ich zu Ende gelesen, legte ich das Blatt kopfschüttelnd beiseite und verwies die Mutmaßung des Übersetzers, daß es sich um meinen Vater auf seiner Studienreise zu den Zigeunern gehandelt habe, zu anderen überkühnen literarischen Hypothesen. Aber als ich mir dann mit geschlossenen Augen die Gestalt des Fremden inmitten der Zigeunerschar vorzustellen suchte, meinte ich plötzlich eine Gebärde zu erkennen, die mir vertraut war. Nicht durch den Augenschein, denn ich habe meinen Vater nur in der Zeit gekannt, wo er still und in sich verschlossen unter den Menschen ging, sondern aus der Schilderung des »Waldfegerleins«, für deren Leben er den einen, großen und dauernden Inhalt gebildet hat. So hochgemut und mit so schenkender Gebärde ging er durch alle Erinnerungen des Kindes, wobei das Kind sich ebenso wie das Naturvolk, wenn auch nicht in so ungeheuerlichem Maßstab, die Größe der Gaben übertrieb. Gewiß ist, daß mein Vater als junger alleinstehender Mann, wenn er einmal vorübergehend sich bei Kasse befand, ein Nimmersatt im Schenken war. Bei einem Besuch unter den Zigeunern war das auch geradezu geboten, denn wenn er sie, um ein Zigeunerfest schildern zu können, im Festtaumel sehen wollte, so mußte er sie selbst darein versetzen. Grünes Jägerhabit und Federhut sind ihm natürlich nachträglich zugewachsen. Auch waren Haare und Bart nicht schwarz, sondern bräunlich, und seine Augen waren blau. Aber der machtvolle Blick war ihnen eigen, und ihren Glanz hat Mörike besungen. Daß auch der Titelheld seines »Lisardo«, dem der Verfasser viel vom eigenen Wesen 82 mitgegeben hat, bei seinem ersten Auftreten mit einem Übermut, der an Pose grenzt, die Goldstücke um sich streut, sei hier gleichfalls erwähnt. So in erhöhten Augenblicken sich an dem Erzfeind Mammon, der ihn sein Leben lang grausam verkürzte, rächen, ihm, wenn er einmal vorübergehend seiner habhaft war, seine ganze Verachtung ins Gesicht schleudern zu können, war dem Dichter in seinen Junggesellentagen Bedürfnis und Hochgenuß. Wie herzerleichternd erst, wenn es einmal aus den unerschöpflichen Taschen eines bessergestellten poetischen Doppelgängers geschehen konnte.

Nicht unterzubringen ist der Name Napolina. Ihn muß wohl die Zigeunerphantasie zusammengebraut haben, um sich davor zu ängstigen, wenn sich nicht etwa eine Verketzerung von Apollonia darunter verbirgt. So hieß meines Vaters heißgeliebte erste Kindsmagd, von dem kleinen Knirps wegen ihrer häufig etwas rußigen Hände zärtlich seine »Schmutzappel« genannt. Aber später hat er selbst diesem Namen einen tieftragischen Klang gegeben durch die Erzählung von der »Blassen Apollonia«, und es ist kaum anzunehmen, daß er seinem Taufkind einen Namen von so düsterer Vorbedeutung habe mitgeben wollen, wobei freilich zu bedenken, daß er diese Geschichte erst Jahre später schrieb; den historischen Kern samt dem dazugehörigen Namen dürfte er aber damals schon gekannt haben. Alles in allem kann ich dem, leider unterdessen verstorbenen, Verfasser des Aufsatzes zwar nicht mit Sicherheit zustimmen, aber es noch weniger in Abrede stellen, daß der vermeintliche Teufel mein Vater in jugendlich übermütiger Gebelaune gewesen. Betrüblich wäre es freilich, wenn E. Wittichs Vermutung stimmen sollte, daß ein Menschenfreund von so 83 seltener Güte wie es mein Vater war, weil er das fahrende Völklein für einen Tag lang glücklich gemacht, in ihrer Vorstellung als kinderwürgender Popanz fortleben müßte.

Ich selber habe, wie schon gesagt, meinen Vater nicht im Jugendbrausen gekannt. Als ich geboren wurde, stand er im vierzigsten Lebensjahr und schritt eben der Höhe seines Schaffens entgegen. Die Entstehung seines stärksten Werkes, des »Sonnenwirt«, fiel in meine frühen Kinderjahre. Aber schon bald nach unserm Wegzug von Stuttgart aufs Land sollte sein Gestirn sich neigen. Meine eigenen Erinnerungen zeigen mir nur den ernsten frühverstummten Mann, der an unseren Kinderspielen nicht mehr zum Kind werden konnte und dem unser Lärm ferngehalten werden mußte. Immer gütig, aber schweigsam, in tiefem Selbstgespräch, wandelte er wie auf einem schmalen Seitenpfad neben dem Lebensweg der Seinigen her. Oft bin ich gefragt worden, was den feurigen Geist so früh verdüstert habe. Was kann den Genius trösten, muß ich zurückfragen, wenn er keinen Lebensraum hat, um seine Flügel zu entfalten? War meines Vaters ganze Jugend ein Ankämpfen gegen den Widerstand des Schicksals gewesen, so belud ihn jetzt eine sechsköpfige Familie mit noch ganz anderen Gewichten. Er war ja kein Schnell- und Vielschreiber, ihm mußten die Früchte seiner Mannesjahre langsam reifen. Aber die endlosen politischen, literarischen und wirtschaftlichen Nöte, die rings umgebende Enge – das Wort im natürlichen und im übertragenen Sinne genommen – und vor allem die immer neuen Enttäuschungen, die seine Zeit- und Heimatgenossen ihm bereiteten, unterwühlten mehr und mehr seine Schaffenskraft. Da gab es keinen erfrischenden Luftwechsel für die 84 angegriffenen Kopfnerven und keinen geistbeflügelnden Austausch; auch meine von fünf Kindern umtoste Mutter konnte ihm in der eigenen Bedrängnis die fehlende Anregung nicht ersetzen. Ein untergeordneter, noch dazu durch stete Quengeleien eines abgünstigen Vorgesetzten vergällter Posten an der Universitätsbibliothek von Tübingen, wobei dem Dichter das Rechnungswesen und anderer geistloser Kram zufiel, das war der Port, der ihn nach den schweren Lebenskämpfen am Ende aufnahm. Wie Keller, wie Stifter versah er mit treuem Eifer das widerwillig getragene Amt, das ihm Zeit und Stimmung zum Hervorbringen raubte. Und wenn die Eingebung sich noch einmal regen wollte, so hinderte ein beginnendes Kopfleiden, die Folge früherer Überanstrengung, ihr schöpferisches Ausströmen. »Gib, das Karrwerk meiner Tage, Hohes Glück, daß ichs ertrage«, schrieb er damals in einem Ausbruch von Galgenhumor an Heyse, den Freund seiner Spätzeit. Bevor er so die Schwingen faltete, hatte der Unverstandene, Niedergeschwiegene, durch die Masse der Kleineren von der literarischen Bühne Abgedrängte, noch einmal versucht zur Mitwelt zu sprechen, als er ihr das starke Lied vom »Fremdling«, dem im Rabenstaat erzogenen Adlerjungen sang, das Schicksalslied des in der Enge geborenen Genius und sein eigenes. Aber nur blödes Schweigen hatte ihm auch da geantwortet, wenn nicht abfällige Kritik, wie sie ihm zum bitteren Schmerz meiner Mutter sein Jugendfreund Kausler zu hören gab, der Ruwald aus dem »Wirtshaus gegenüber«, der unterdessen auf seiner Landpfarrei ein verstimmter Einsiedler geworden war. Einzig aus der Seele des jugendlichen, vom Glück hochgetragenen Paul Heyse 85 war ein freudiger und begeisterter Widerhall gekommen. Wie den enttäuschten, schon vom Frost der Entsagung berührten Goethe jener erste Brief Schillers, so erweckend mag meinen Vater damals der Anruf Heyses getroffen haben. Am 25. Dezember, gleich nach dem Empfang des Gedichtes, schrieb er aus Meran: »Die Blätter kamen uns in der Münchner Weihnachtskiste zu, und als alle Freuden durchgenossen . . . waren, las ich das Gedicht in der heiligen Weihnachtsstille mit einer Wonne, die sich von Seite zu Seite steigerte und am Schluß in eine wundersame süße und stürmische Bewegung aufging, daß ich lange hernach noch wach im Bette lag und dies herrliche Gedicht mit starker und reiner Melodie in mir nachklingen fühlte. Ich weiß die Zeit nicht, daß mich ein dichterisches Werk so ins Innerste gerührt und entzückt hätte . . . Mit welch körniger Feinheit, wie straff und elastisch zugleich, wie eigen und einzig Sie ihn (den Vers) zu zügeln wissen, alles im glücklichsten Maß, jenes reizende Spiel der Schalkheit, das unvermerkt in leisen Schwingungen sich ins Grandiose und Erschütternde erhebt und droben in der hellen und gewaltigen Klarheit ausruht – ich kenne nichts Ähnliches.« Worte wie diese hatte der Empfänger in seinem ganzen Leben auch von den Getreuesten unter seinen Landsleuten nie vernommen. Es muß ja mancher ebenso gefühlt haben, aber dem Schwaben versagt, um sein Gefühl zu äußern, allzuleicht der Anlauf. Aus solcher Erfahrung dürfte wohl das ergreifende Jugendgedicht meines Vaters »Die Rede« geboren sein:

Es steht in alten Sagen,
Daß strengen Zauberbann 86
Ein Wort, ein herzlich Fragen
Allmächtig brechen kann.

So wird im Lied gescholten
Der Held vom heiligen Gral,
Der als sein Wort gegolten
Nicht hob des Oheims Qual.
—   —   —   —   —   —
Siehst du, daß einer trauert,
So geh und red' ihn an,
Kein Herz ist so vermauert,
Daß nichts ihm nahen kann.
—   —   —   —   —   —
Der Mensch hat nichts so eigen
Wie Red' aus treuer Brust,
Dem Steine laß das Schweigen,
Es bringt ihm wenig Lust.

Der erlösende Anruf, der wieder und wieder ausgebliebene, endlich war er von einem Norddeutschen, einem Berliner, gekommen. Diese Dichterfreundschaft sollte denn auch dem Einsamen zum Trost und stärksten Inhalt seiner späten Jahre werden. Das feurige Geben und Nehmen einer überreichen Gedankenwelt mußte ihm bis zum Ende die fehlende Gemeinde ersetzen, während Heyses leichtschreitende, nie rastende Muse an dem älteren wuchtigeren Genossen den unermüdlichen, in jede Einzelheit liebevoll eingehenden Berater fand. Denn alle die rasch nacheinander entstehenden Werke Heyses wurden zuerst als Manuskript oder als Fahnendruck in Tübingen vorgelegt und gründlich durchgeprüft. Meine Mutter, die bei 87 dem Freundespaar, ich weiß nicht warum, die Pythia hieß, war im Bunde die stürmisch liebende und bewundernde Dritte. Der Überschwang ihrer Dankbarkeit – denn bei ihr wurde jedes Gefühl zum Überschwang – färbte ihr den schönen und liebenswürdigen jungen Freund in einen Heiland um, dem sie wie ein Frommer jedes Heil zu danken glaubte und ihm mit unermüdlicher Inbrunst Altarkerzen entzündete. Mein Vater, der sie mit den Übertreibungen ihrer Schwärmerei zu necken pflegte, stand selber ebenso unter dem Zauber. Er, der seit seinen Mannesjahren mit jedem Gegenstand ringen mußte wie Jakob mit dem Engel, um ihm sein Tiefstes zu entreißen, sah staunend und entzückt, wie der Dichterjüngling spielend von einem Stoff in den andern glitt, um ihn mit meisterlicher Leichtigkeit, wenn nicht immer für die künftigen Tage, so doch gewiß für das Wohlgefallen auch der Besten seiner Zeit, zu formen. Wenn einmal der Heyse-Kurz-Briefwechsel ans Licht tritt, dessen Benutzung leider durch eine testamentarische Verfügung der Witwe Heyses erschwert ist, so wird man sehen, welch unverbrauchte Begeisterung noch in dem Frühverstummten lebte, dem Heyse auf das Adlerlied hin den berauschendsten Stoff der Antike, keinen Geringeren als den Alkibiades zur dichterischen Gestaltung vorschlug, ja nahezu aufdrängte, damit eine jähe Flamme weckend, die angesichts der Unmöglichkeit des wirtschaftlichen Durchhaltens bei so weit gespanntem Plan traurig in sich erlosch. Der liebevolle Dränger, hinter dem meine Mutter stand, hatte nicht bedacht, daß ein loderndes Welt- und Lebensgedicht wie das vorgeschlagene, in Stanzen nach Art von Byrons »Don Juan« geschrieben, zu seinem Dichter, wenn auch nicht einen Lord, so doch einen 88 Mann erfordert hätte, der nicht für den täglichen Bedarf einer großen Familie zu sorgen hat. Wäre es ihm nur wenigstens vergönnt gewesen, die begonnene freie Umgestaltung seines Tristan, mit der er sich bis zu seinem Tode trug, zu vollenden; wie glücklich wäre er mit diesem Lied auf den Lippen hinweggeschieden, von dem er selber sagt: Die großen Sänger starben dran. So gut sollte es ihm nicht werden. Nach seinem Heimgang übernahm der jüngere Dichterfreund Wilhelm Hertz die Fortführung. Aber unter der Arbeit änderte er seine Absicht und stellte mit Ausschluß der von meinem Vater hinterlassenen Bruchstücke eine völlig neue Übersetzung des mittelhochdeutschen Gedichtes her. Mit kundiger Gärtnerhand beschnitt er – fast ein wenig zu sehr, wenigstens ich für meinen Teil misse ungern den Sängerstreit – das geile Wachstum der Gottfriedschen Verse und schuf ein schönes, wohlabgewogenes Kunstwerk, nur daß an der Stelle, wo die Gottfriedsche Unterlage durch den Tod des alten Sängers abreißt, dem neuen die Fülle des Stoffes ausgeht und er dem Prachtbau nur noch aus älteren Resten einen kurzatmigen, erfindungsarmen Schluß wie ein Notdach aufgesetzt hat. Damit wurde das Gedicht Meister Gottfrieds der Allgemeinheit bequemer zugänglich gemacht, was übrigens auch die Absicht meines Vaters gewesen, aber zugleich etwas Einziges, Unersetzliches, der von Hermann Kurz gedichtete Schlußgesang, aus dem Lichte gedrängt. Wohl hatte Hertz gewünscht, das mächtige Finale seines Vorgängers in das eigene Werk zu übernehmen, aber die Hinterbliebenen konnten dem nicht zustimmen, denn die Einwilligung hätte notwendig auch zu der Erlaubnis eingreifender Änderungen führen müssen, weil sonst 89 bei der Verschiedenheit der beiden Dichtertemperamente und auch der Altersstufe, auf der sie schufen, ein Einklang nicht herzustellen war; und solche Eingriffe in das Werk des Geschiedenen wären, besonders in der frischen Trauer, nicht tragbar gewesen. So mußte sich auch an dieser Waise, die zuerst von Freundeshand zur Pflege übernommen worden war, das alte Mißgeschick meines Vaters erfüllen und ihm sein Ruhmesteil gekürzt werden. Denn gerade an der tragischen Bruchstelle, wo das Gottfriedsche Wundergewebe den Händen seines sterbenden Meisters entsank, hatte sich in dem jugendlichen Hermann Kurz der eigene Dichtergenius losgerungen und aus dem gleichen Reichtum einen weitgeschwungenen episch-lyrischen Abschluß gedichtet, den sein Nachfolger Hertz hochpoetisch nennt und dem er die Ehre erwies, gar nicht mit ihm wetteifern zu wollen. Hier werden die lyrischen Abschweifungen, mit denen auch Gottfried je und je den epischen Fluß unterbricht, wie vom Schwung des Erdballs mit hinausgerissen: vom Einzelschicksal zum Allgemeinen strebend und wieder zurück zum Einzellos, erreichen sie nach Art der griechischen Chorgesänge eine Höhe und Weite, worin neben dem Sturm der menschlichen Leidenschaften die reinigende Kraft des Weltatems weht. Man kann ja, wenn man kritteln will, dagegen einwenden, daß die gehobene Sprache mit der immer objektiven Gottfrieds keine Stileinheit bildet und daß die vertiefteren Seelentöne, in denen alles Irren und Büßen einer unwiderstehlichen, mit dem irdischen Gesetz zerfallenen Liebe in tiefstem Wohllaut ausströmt, einem anderen Zeitalter angehören. Aber es geschieht der alten Dichtung nur, was immer ohne Schaden an den alten Domen geschah, daß liebende Hand sie aus einem 90 neuen Zeitstil zu Ende baute. Den Vergleich zwischen dem Werke Gottfrieds und dem Dom von Straßburg hat mein Vater selbst schon am Schlusse des Gedichts gezogen:

Es gleicht dem Münster, so deucht es mir,
Mit seinen Massen und seiner Zier,
Es gleicht dem steingewordenen Strahl,
Dran Türme und Türmchen ohne Zahl
Mit leichten Steingeweben
In die Lüfte des Himmels streben.
Ein halbes Werk von großer Hand
Wie noch so manches im deutschen Land,
Das fromme Treue sich jetzt erlas
Zum Ausbau im verkürzten Maß.

Die Schwächen jugendlicher Genialität, womit dieses Frühwerk da und dort behaftet ist, hatte mein Vater noch ausmerzen wollen, die Überschwenglichkeiten dämpfen, Längen zusammenziehen, wie die kleinen, in seinem Handexemplar angebrachten Zeichen und Winke beweisen. Unfaßlich ist es mir, daß von den vielen, immer wieder Längstbekanntes nachdruckenden Anthologien keine sich des brachliegenden Schatzes bemächtigt und die schönsten der lyrischen Stellen mit ihren langen, über die Heimlichkeiten der Menschenbrust hinfallenden Lichtern herausgebrochen hat, die in das Gestein des Epos wie Goldblicke eingesprengt sind, um sie, jede ein Gedicht für sich, der vaterländischen Dichtung zu retten. Ich denke an Stellen wie die aus tiefster Ehrfurcht für die Frau geborene: Das Weib ist Herz von Gottes Herzen – und jene andere, die mit dem Liebesleben des Mannes Abrechnung hält: 91

Und obs meinen Brüdern nicht behagt,
So bleibt es dennoch wahr gesagt:
Mannesherz ist ein ärmlich Ding –

Welch unverdorbenes junges Herz, wenn es der Macht der Poesie zugänglich ist, hätte für solche Töne stumpf bleiben können? Mit poetischen Wunderzeichen gleich diesen über dem Haupt hätte wohl auch die weibliche Jugend – denn sie ist es vor allem, die in der Dichtung den Wegweiser für das Leben sucht – nicht in das hetärische, um nicht zu sagen dirnenhafte, die Liebe in hundert Liebeleien verplempernde Treiben der Nachkriegsära fallen können, das aus dem herrschenden verderbten Literaturbetrieb unmittelbar seinen Ursprung herleitete. Kein zerschmetternderes Zeugnis für die entseelende Wirkung der jüngst verflossenen Literaturepoche als dieses Verhalten der Frauenwelt. Traurig ein Dichtergeschlecht, das sein Amt, die Jugend zu veredeln, abschwört. Traurig die Jugend, die es verlernt, sich in dem Stahlbad einer hohen und reinen Dichtung gegen die niedrigen Versuchungen zu kräftigen.

Aber Lebendes, das ins Dunkel gestoßen ist, will weiter zeugen, wenn auch auf namenlosen Wegen. Wer von den Millionen Hörern, die in allen Opernhäusern der Welt in Siegfrieds Liebestod geschwelgt haben, weiß etwas davon, daß diese ekstatischen Sehnsuchtslaute zuerst von einem Dichter namens Hermann Kurz im Schlußgesang seines Tristan angeschlagen worden sind und von da in das Tonwerk Wagners übergeströmt, nicht im Wort, versteht sich, sondern als erschütternder, die menschliche Natur in allen Tiefen aufwühlender Stimmungsgehalt. Soweit ich Dichtung kenne, weiß ich 92 keine, in der so die Qual des Wartens durch all die Länge ihrer unerträglichen Phasen dargestellt ist von dem furchtbaren Anruf: »Tod, hast du deinen Mann zuletzt –« bis zu der angstvollen, halberstickten Klage: »Warten und Harren, kommt sie nicht?« Aus Wagners Tristan hallt es zurück: »Im Sterben mich zu sehnen! Vor Sehnsucht nicht zu sterben!«

Ich habe schon vor Jahren bei einem zu Stuttgart gehaltenen Vortrag, gestützt auf die persönlich mir getane Äußerung von Frau Cosima Wagner, daß sie die Tristanbearbeitung von Hermann Kurz wohl kenne, die Ansicht ausgesprochen, der Tristan Richard Wagners sei von meines Vaters Tristan beeinflußt. Doch hatte ich für diese meine Überzeugung keine anderen als die inneren Beweise. Unterdessen sind mir vollgültige literarische Zeugnisse zugekommen, die meine persönliche Auffassung bestätigen. Am ausführlichsten bei dem Wagner-Biographen Wolfgang Golther: »Tristan und Isolde in den Dichtungen des Mittelalters und der Neuzeit«, 1929. Er sagt: »Gottfrieds Gedicht kannte Wagner aus der neuhochdeutschen Bearbeitung von Hermann Kurz. Mit einer schönen und gehaltvollen Einleitung war hier auf die mythischen Bestandteile der Tristanssage hingewiesen, die auch in der Siegfriedsage wiederkehren sollten . . . So erschienen ihm von Anfang an Tristan und Siegfried in einer gewissen inneren Verwandtschaft. Kurz betonte im Tristan vor allem den tiefen Ernst: ›Ein alter Mythus vom Erringen und Nichterlangen oder Verlieren zieht sich halbverklungen durch diese Sagen hin, und im Tristan schimmert noch das Heroische und Tragische zwischen dem Höfischen und Modischen hervor. Eben dieser tragische Faden ist mir auch in den glänzenden 93 Geweben Gottfrieds überall sichtbar und scheint mir von der Kritik lange nicht genug beachtet zu sein: so glaube ich zum Beispiel, daß die Rede der Königin im Garten, welche unter leichten Täuschungen eine dem Lauscher wohl verständliche Wahrheit birgt, in einem Trauerspiel von erschütternder Wirkung sein würde.‹

»Von diesem schönen Tristanbuch«, fährt W. Golther fort, »empfing Wagner tiefen und nachhaltigen Eindruck, der sich sogar bis in Siegfrieds Tod erstreckt.« Gemeint ist das Vergalten Gutrunes, die sich nach Brunnhildes Sterbegesang beschämt von der Leiche Siegfrieds weghebt, ein Seitenstück zu der Szene in meines Vaters Dichtung, wo es bei der Begegnung der beiden Isolden an Tristans Bahre von der eingeschobenen Legitimen heißt:

Sie schlich sich still und scheu hinaus,
Sie konnt' es im eigenen Herzen lesen,
Daß sie das Kebsweib war gewesen.

Die beiden falschen Bräute haben sich selbst gerichtet. Dem Hinweis des Wagner-Biographen fügt der Hermann-Kurz-Forscher Heinz Kindermann in »Hermann Kurz und die deutsche Übersetzerkunst im 19. Jahrhundert« bestätigend hinzu: »Der beste Beweis für die Nachhaltigkeit von Kurzens Werk liegt doch darin, daß es auf Richard Wagner, der Gottfrieds Dichtung zuerst in Kurzens Übertragung kennenlernt, überwältigenden Eindruck macht, der nicht nur in seinem Tristan, sondern auch in Siegfrieds Tod fühlbar wird. Auf Wagner wirkt nicht nur die poetische Leistung, sondern auch der hohe sittliche Ernst, mit dem er dem Meister mittelhochdeutscher 94 Kunst gegenübersteht.« Der Tristan hatte ja bis dahin als ein frivoles Gedicht gegolten: konnte es mir doch selber noch in jüngeren Jahren zustoßen, bedauert zu werden, daß ich einen so anrüchigen Rufnamen tragen müsse.

Aus einer ganzen Reihe literarischer Zeugnisse, die gemeinsam auf meines Vaters Dichtung als die Quelle zu Richard Wagners Tonschöpfung hinweisen, genügt es, diese zwei belangreichsten herausgegriffen zu haben. Betont wird auch, daß es die Bemerkung meines Vaters über die Bühnenwirksamkeit der Gartenszene war, die in Wagner überhaupt die dramatische Bearbeitung des Tristanstoffes anregte.

Es war das Schicksal dieses Dichters, viele Äcker zu befruchten, während seine eigene Saat im Schatten kümmerte. Als schmerzlich empfundenen, doch nicht unwillkommenen Ersatz für eigene Dichtung griff Hermann Kurz in unsern Tübinger Jahren auf die Übersetzertätigkeit seiner Jugend zurück. Sie regte ihn heiter an, besonders die Zwischenspiele des Cervantes, in deren Gesprudel er eine merkwürdig jugendfrische Ader ergoß – ich habe mich oft gewundert, warum das Theater sich ihrer nicht bemächtigt hat. In Stunden, wo er sich so verjüngte, wenn auch im Dienst einer fremden Sache, mag er sich doch ab und zu wieder als ein glücklicher Mensch gefühlt haben. Die Wortspiele der »Lustigen Weiber«, die er für die Bodenstedtsche Shakespeare-Ausgabe übersetzte, wurden gelegentlich im Familienkreis begutachtet und beraten. –

Gerne denke ich mir meinen Vater so, wie er meinem späteren Freund Ernst Mohl bei der ersten Begegnung erschien. Dieser rannte einmal als halbwüchsiger Jüngling in Tübingen um eine Ecke, als er gegen einen schönen, hochgewachsenen 95 Mann mit gebietendem Angesicht und strahlenden Blauaugen anprallte. Der Angestoßene hielt ihn mit den Armen ab und sagte lächelnd: Wohin so stürmisch? Miene und Haltung des Unbekannten wirkten auf den Jüngling so, daß er wie verzaubert nach Hause ging, denn es war ihm, wie er mir später erzählte, zumut, als ob er einen der großen germanischen Licht- und Siegesgötter leibhaft gesehen habe.

Er war auch bei allem Mißerfolg kein vom Leben Besiegter. Seine Traumwelt hatte ihn nicht verlassen. Noch stand die Poesie mit ihm auf und ging mit ihm zu Bett, durch ihren Spiegel sah er die Welt. So hatte Mörike einen großen Teil seines Lebens hindurch in der Poesie nur »als im Elemente« gelebt und hörte nicht auf, Dichter zu sein, auch wenn er völlig schwieg. Ja, er schien kaum etwas zu entbehren. Mein Vater als die viel tätigere Natur entbehrte wohl, aber er darbte nicht. Was ihm abhanden gekommen, war ja nicht die Fülle seines Geistes und Herzens, nicht das Auf- und Abwogen der dem Schöpfer dienenden Vorstellungsmasse, es war nur die magische Formel, die gestaltende Ordnung hineinbringt. Seine Forschungen über Shakespeare und Gottfried von Straßburg waren immer noch eine Art von dichterischer Tätigkeit, weil er mit jedem Wort, das er über seine Lieblinge schrieb, zugleich seiner eigenen inneren Welt Gestalt gab. Es war eine erlauchte Gesellschaft, mit der er, der Mitlebenden müde, Umgang pflog. Wenn er einen Brief an Heyse vom Schlachtfeld von Marathon datiert, über das er eben Studien machte, dann mit einem Shakespeare-Zitat beginnt, dem unmittelbar eins aus Rabelais folgt, um nach einer Reihe historischer und mythologischer Anspielungen mit einer ländlichen schwäbischen 96 Redensart zu schließen, so war das kein totes Buchwissen, sondern allseitiger lebendiger Verkehr mit der immer gegenwärtigen Geisterwelt.

In seinen letzten Lebensjahren milderte sich wenigstens der Druck der Sorgen über dem Haupte des Dichters. Der erfolgreiche »Deutsche Novellenschatz«, den er mit Heyse bei Oldenbourg in München herausgab, lieferte die immer sehnlich erwarteten »Hilfstruppen aus dem Oldenbourgischen«, die dem Haushalt so nottaten. Die Söhne, den schwer leidenden Jüngsten ausgenommen, studierten mit Auszeichnung; daß ich an dem »Novellenschatz des Auslands«, den die zwei Herausgeber dem deutschen Novellenschatz angliederten, schon als Mitarbeiterin tätig sein konnte, erfüllte ihn mit Genugtuung. Er legte die erste Lesung und Sichtung einer beträchtlichen Anzahl fremdsprachiger Novellen in meine Hände, wobei ich Wertloses von vornherein ausschalten durfte. Von den für gut bestätigten bekam ich selber einige zum Übersetzen, erinnere mich aber nur noch an zwei französische: Stendhals »San Francesco a Ripa« und »Le Mouchoir rouge« des Grafen Gobineau, welch letztere mir beinahe die persönliche Bekanntschaft des Verfassers eingetragen hätte, als dieser nach Tübingen kam, meinen Vater auf der Schloßbibliothek besuchte und auch Mademoiselle seine Aufwartung zu machen wünschte. Leider war Mademoiselle jenes Tages abwesend, wodurch ihr die Begegnung mit einem der feinsten Geister der Zeit, dem Dichter der »Renaissance«, den mein Vater als den vollendeten Kavalier der alten Schule schilderte, entging.

Wie gründlich satt er der Menschheit im ganzen war, so hatte er doch keine Anlage zum Timon: dem Einzelnen kam er 97 immer wieder mit der gleichen Güte entgegen. Wenn der jugendliche Wilhelm Raabe ihm nachrühmen konnte, daß jede Begegnung mit ihm ein Fest gewesen, so beweist es, mit welch unverlöschbarer Liebeskraft sein Herz jederzeit dem Gleichstrebenden zuflog. Auch Anfänger und Dilettanten, die sich um Rat und Förderung in dichterischen Dingen an ihn wandten, konnten der feurigsten Bereitschaft gewiß sein und einer Billigkeit zur Anerkennung, die gelegentlich fast zu weit ging. Seine Menschenliebe war so groß, daß er sogar einmal einen Menschen damit ins Unheil brachte. Er hatte auf der Neckarhalde einen Brief in den Kasten gelegt, als er, nach Hause gekommen, in seiner Brusttasche den Umschlag mit der eben empfangenen Rate seiner Besoldung vermißte. Vergeblich suchte er alle Wege ab die er gegangen war, da brachte ihm am anderen Morgen der Postbote das verlorene Geld. Gerührt von der Anständigkeit des armen Finders, schenkte ihm mein Vater die Hälfte des Betrags, ein schweres Opfer bei der wirtschaftlichen Lage der Familie. Das war des Mannes Verderben. Er vertrank das Geld, trank weiter, verlor seinen Posten und ging zugrunde.

Im Sommer 1873 brachte ein Sonnenstich, den er sich bei der Enthüllung des Uhland-Denkmals zugezogen hatte, wobei die Herren in praller Mittagsglut mit entblößtem Haupte stehen mußten, eine jähe Verschlimmerung des alten Leidens. Er hatte es geahnt und der Feier schon lange mit Mißtrauen entgegengesehen. Heftige Aufregungszustände stellten sich ein, wobei er niemand um sich haben wollte als mich. Täglich mußte ich ihn auf langen, sturmschnellen Gängen fliegenden Fußes begleiten; was ich damals an banger 98 Verantwortung trug, hat mein Gedächtnis später fallen lassen, ich fand es erst in den Briefen meiner Mutter aus jener Zeit wieder. Im September trat eine tiefe Ermattung ein, er muß das nahe Ende gespürt haben, ohne daß er davon sprach. Er konnte nicht mehr. »Ruhe nun aus, armer Vogel«, schrieb er unter Anführungszeichen an den aus der Ferne treuen Anteil nehmenden Freund in seinem letzten, vom 6. Oktober datierten Brief. Am 10. ruhte er schon für immer. Das Herz war ihm buchstäblich zersprungen.

Konnte es für ein Dichterherz, das so hart gekämpft und so schwer getragen hat, ein symbolhafteres Ende geben als dieses? Die Werke, die dem großen Herzen entströmt waren, lagen da, als wären sie nie gewesen. Weshalb dieses Los einem Dichter, der den Besten seiner Tage zum mindesten ebenbürtig war? Von je haben sich die berufensten Köpfe vergeblich mit dieser Frage gemüht, die sich mit wachsender zeitlicher Entfernung immer mehr als eine allgemein kulturelle herausstellt. Nach Kriegsende schrieb mir ein so feiner Literaturkenner wie Graf York von Wartenburg, der Sohn des Geschichtsphilosophen, über diesen Gegenstand einen ungemein geistreichen Brief, aus dem ich mich nicht enthalten kann, einige Zeilen wörtlich herzusetzen: – – – »Sie werden die Geschichte von dem österreichischen Feldmarschall und Aristokraten kennen, der dem alten Goethe in Karlsbad erklärte, daß er nur seit lange verstorbene Autoren lese und zu seinen Gunsten keine Ausnahme machen könne. Ganz so schlimm treibe ich es nun nicht, aber meine Kenntnis der deutschen Literatur nach den Romantikern ist ungebührlich gering. So bin ich denn auf die Werke Ihres Herrn Vaters erst aufmerksam geworden durch 99 die schönen Denkmale der Pietät, die Sie Ihren Eltern gesetzt haben. Ich entsinne mich, daß mein Vater inmitten schwerer Leiden Freude und Gefallen fand an des alten Kerners Haus- und Freundeskreis, wie sie von seinem Sohn geschildert werden, und ähnlich ist es mir mit Ihren Berichten über Elternhaus, Jugend und Heimat ergangen, sie haben mich erquickt in Zeiten, wo ich zu anderer Beschäftigung mich unfähig fühlte. Ursprünglichste menschliche Verhältnisse rein dargestellt wirken Teilnehmung, Anklang und Widerhall.

Aber abgesehen von mir, dem Einzelnen, scheint mir über den Schriften Ihres Herrn Vaters ein eigenartiges Verhängnis gewaltet zu haben. Tieck, sonst so aufmerksam auf weit geringere emporstrebende Talente, hat keine Notiz von ihm genommenDaß es eine Grille Mörikes war, die diesen bedauerlichen Umstand veranlaßte, ist in meiner Hermann-Kurz-Biographie vermerkt. – A. d. V., wenigstens enthält seine Bibliothek nichts von ihm, und in den vierzig- bis fünfzigtausend Bänden, die ich außer ihr besitze, fand sich ebenfalls keines seiner Werke, bis ich vor mehreren Wochen deren Fischersche Sammlung erhielt. Mehr noch, ich entsinne mich nicht, daß Dilthey, Hermann Grimm oder mein verstorbener Onkel Wildenbruch all die langen Jahre, wo ich sie sehr häufig sah, seiner gedacht hätten. Sie haben ihn wohl nicht oder nur sehr oberflächlich gekannt. – Dafür wird er weit über halb verschollene Tagesgrößen – unter die ich auch Paul Heyse zählen möchte – hinaus leben in demjenigen leider immer enger werdenden Kreise, der inmitten des nationalen UntergangsGeschrieben 13. Nov. 1919 das, was deutsch an uns ist, 100 repräsentiert und bewahren wird. Leben als einer unserer größten Erzähler, Otto Ludwig an Talent äqual, ihm überlegen an Breite, Vielseitigkeit und Geschichtsempfinden. Wie Storm und Raabe die Ein- und Abgeschlossenheit des Kreises, in dem sie sich persönlich und darstellend bewegen, zu poetischem Vorteil gereichte, so möchte ich glauben, daß die Enge der württembergischen Verhältnisse, die Ihren Vater so behinderte und ihm das Leben erschwerte, seinen Werken fördersam gewesen. Seit Grimmelshausen hat kein deutscher Romancier die volle Weite äußeren Geschehens umgriffen und wie die württembergische Landschaft allen Reiz und Heimlichkeit aus der Überschneidung kleiner Linien und der Einschränkung des Blickes zieht, der sich liebevoll in die Nähe vertieft, so ist gemütsstarke Heimatliebe recht eigentlich das Kennzeichen unserer süddeutschen Dichtung. Analog ist das Verhältnis des Dichters zu seinen Kreaturen. – Sie äußern sich bewundernd über Maupassant – ich teile dies Gefühl –, aber verhält er sich nicht den Menschen gegenüber wie der Jäger zum Wilde, das er beschleicht?«Ich teile auch diese geistreiche Bemerkung mit, weil sie so unübertrefflich den Gegensatz zwischen der liebeleeren scharfspähenden Kunst des großen französischen Naturalisten und dem breiten, ganz in Liebe getauchten Pinsel des seherischen deutschen Menschenschinders ausdrückt. Darum ist Maupassant auch nur in seinen köstlichen kleinen Ausschnitten aus dem Leben der unsterblichen Erzähler; wo er die Weite des Menschendaseins im Roman darstellen will, da scheitert er jämmerlich und – langweilig. – – –

Das Rätsel, wie ein Dichtergenius von dieser Stärke um die Wirkung auf seine Zeit und sein Volk hatte gebracht werden können, ließ den feinsinnigen Briefschreiber nicht los, daß er 101 in einem zweiten Schreiben vom 14. Dezember desselben Jahres noch einmal darauf zurückkam.

»Abends lese ich jetzt meinen Damen den Sonnenwirt vor«, schrieb er, »und genieße ihn so doppelt durch Wiederholung und Resonanz. Aber was an den Schriften Ihres Vaters den Zeitgenossen fremd gewesen, vermag ich noch immer nicht zu begreifen. Ich will mal mit Roethe drüber sprechen, vielleicht gibt der mir einen Fingerzeig. Ohne weiteres begreift man, daß die Generation der Befreiungskriege den Schopenhauer von 1819 ablehnte, dem ja noch Goethe erst für künftige Generationen unübersehbare Wirkung prophezeite; hier aber seh' ich wohl Qualitäten, deren die Coetanen wie Otto Ludwig, Raabe usw. ermangelten, aber keinen spezifischen Unterschied in der geistigen Struktur.«

Ob die Frage wirklich an den genannten Gelehrten gerichtet wurde und wie die Antwort lautete, ist mir nicht bekannt. Der Briefwechsel mit dem geistreichen Nachfahren des Wegbereiters der deutschen Befreiung riß ab, der angekündigte Besuch in München unterblieb, und ich selber konnte einer gastlichen Einladung auf Schloß Klein Öls in jener Zeit der Beschränkung nicht nachkommen. Und eben da ich mir die Erlaubnis zur teilweisen Veröffentlichung der mir so bedeutsamen Briefe an dieser Stelle einholen wollte, erfahre ich, daß der ritterliche Briefschreiber seit lange nicht mehr unter den Lebenden weilt. Ich hoffe, seine Manen werden es mir nicht verargen, daß ich mir nun eigenmächtig seine Zustimmung angeeignet habe. Es wäre verlockend, die Briefe vollständig zu drucken als Muster einer nahezu aus der Welt verschwundenen Hochkultur, die im Vaterländischen wurzelt, aber den geistigen Besitz aller 102 Völker mit umfaßt, doch ich beschränke mich auf das, was zur Sache gehört.

Gewiß ist die Wahrnehmung richtig, daß zwischen meines Vaters geistiger Struktur und der seiner Zeitgenossen kein grundsätzlicher, nur ein gradweiser Unterschied besteht. – Es gibt ja in der Tat Dichter, die schlechterdings von ihrem Jahrhundert nicht verstanden werden können wie Hölderlin, dessen gewaltiger Anlauf drei Zeitgeschlechter überschwang, daß man seiner eben erst wieder ansichtig geworden ist. Aber es war kein Grund gegeben, daß die Kunst meines Vaters mit der einfachen zeitlosen Menschlichkeit ihrer Inhalte und ihrer unverwelklichen Form unbegriffen bleiben mußte. Wenn der Dichter zu Lebzeiten im Buchhandel nicht durchdringen konnte, so liegt die Schuld einer engherzigen, byzantinischen Umwelt am Tage. Mitbeteiligt war die Armseligkeit des Zeitgeschmacks, die es möglich machte, daß Heinrich Laube, dem Auerbach den Stoff der »Heimatjahre« zur Verballhornung vorschlug, mit seinen albernen, durch und durch unwahren, keinem heutigen Gaumen mehr ertragbaren »Karlsschülern« von der Bühne herab dem ewig jungen Buch den Platz versperrte. Denken zu müssen, daß Schillers eigene Jugendgenossen, voran seine damals noch lebende Schwester, den »Karlsschülern« Lob spendeten, vielleicht nur weil sie in der Dürre der Zeit sich freuten, einem Schiller, wenn auch einem grundverzeichneten, auf der Bühne zu begegnen, während die »Heimatjahre«, in denen Schillers Jugend leibhaft lebt und glüht, ungelesen vergilbten! Es war Folge der gleichen Verderbnis, daß neben Auerbachs unechten, rührseligen Bauerngeschichten die echte Dorfnovelle, der aus den tiefsten Quellen des Volkstums gespeiste 103 »Weihnachtsfund« nicht aufkommen konnte. – Ich wußte übrigens zu meines Vaters Lebzeiten wenig von den einzelnen Stationen seines Kreuzwegs, er war zu feinbesaitet und zu stolz, um je den Mund zu einer Klage zu öffnen. Was soll man nun aber dazu sagen, daß nach seinem Heimgang Storm den Lyriker Hermann Kurz als unebenbürtig nicht in einem mit Heyse herauszugebenden Dichterbuch dulden wollte – Storms dünnblütige Kunst gegen meines Vaters mächtigen Dichteratem! –, und daß Heyses Freundeswille zwar die Aufnahme erdrang, aber gerade unter den schwächeren Stücken die Auswahl traf? Beide Dichter konnten über ihre Zeit nicht hinaus, die eine satte, rationalistische war und für solche ahnungstiefen Töne wie »Die Glocken der Vaterstadt« oder das erschütternde, fast mythische »Senkt die Gefallnen hinab« kein Gehör hatte. Ich zweifle, ob mein Vater selbst sich später noch bewußt war, was er mit Gedichten wie diesen beiden, ja vielleicht mit seinen Werken überhaupt geschaffen hatte, denn wenn sich der Genius fort und fort mit falschem Maßstab gemessen sieht, so muß er ja am Ende dahin kommen, daß er sich selber nicht mehr fühlt und kennt.

Wie steht es nun um das Gestirn meines Vaters in unseren Tagen? Darauf ist zu antworten, daß seine Gesammelten Werke in beiden Ausgaben, der neuen Fischerschen und der älteren, von Heyse besorgten, vergriffen sind, daß die verbilligte Neubearbeitung der alten Literaturgeschichte von Heinrich Kurz (der so oft mit meinem Vater verwechselt wurde) von einem Dichternamen Kurz überhaupt nichts weiß. Und daß in dem letzten Vierteljahrhundert Hermann Kurz, der Dichter, für personengleich gehalten werden konnte mit einem 104 gleichnamigen schweizerischen Romanschreiber vom krassesten Naturalismus, daher man immer wieder in den Katalogen der Sortimenter unter demselben Verfassernamen im bunten Strauß zusammengestellt finden mußte: Hermann Kurz: Die Schartenmättler. Schillers Heimatjahre. Die gerupfte Braut. Der Sonnenwirt usw. (Die Titel des Schweizers sind von mir gesperrt). Gegen den Schaden, der hiedurch dem Namen meines Vaters zugefügt wurde, konnte ich niemals dauernde Abhilfe finden. Zu allem Unheil seines Lebens auch noch dieses posthume!

Gibt es vielleicht wirklich jenes launische Numen, das man »das Glück« zu nennen pflegt und dem es nicht darauf ankommt, die hohlste Mittelmäßigkeit für Lebenszeit auf den Schild zu heben, dem Genius aber jeden Fußbreit streitig zu machen, bis er sieglos ins Grab sinkt, ja, ihn noch über das Grab hinaus zu verfolgen? Wer solches meinen will, braucht sich seines Aberglaubens nicht zu schämen, er ist in guter Gesellschaft: man weiß ja, daß Napoleon an den wichtigen Punkt nicht den fähigsten General stellte, sondern den glückhaften. Es scheint mir aber, daß man nicht im Reich der Mystik die Verantwortung zu suchen braucht. Der Literaturgeschichte lag es ob, dem Dichter zu geben was ihm das Leben versagt hatte. Aber auch die Literaturgeschichte ist keine göttliche Offenbarung, auch sie ist von Menschen gemacht, von Menschen, die über die Grenzen des Subjekts nicht hinaus können. Ein gefeierter Hochschullehrer kann einen verdienstvollen Dichter, für den ihm persönlich das Verständnis fehlt, auf lange Zeit, vielleicht auf immer, zu den Schatten werfen. Persönliche Mißhelligkeiten spielen auch eine Rolle. Er 105 braucht nicht einmal Nachteiliges von ihm zu sagen, bloßes Schweigen genügt, damit die Hörer den Namen überhaupt nicht kennenlernen oder unter der Vorstellung der Unerheblichkeit. Treten dann die unselbständigen jungen Menschen ihrerseits in den Lehrberuf, so hat sich das Fehlurteil vielleicht schon so in ihrem Denken festgerammt, daß sie es ohne Nachprüfung den eigenen Schülern weitergeben, die es dann später den ihrigen vererben und so fortwirkend verewigen. Wie wäre es sonst möglich gewesen, daß der glänzende aber barocke Geist Friedrich Theodor Vischers aus festgewurzelter Wunderlichkeit seinen Deutschen auf Generationen hinaus den Zugang zu Faust II sperrte, das unerschöpfliche Spätwerk mit den letzten Blitzen der Titanenkraft ob etlicher matterer Stellen als Altersgrille verwerfend. Vischer war am Stift meines Vaters Lehrer gewesen und bewahrte ihm von jener Zeit her eine Abneigung, die er auch dem reifen Dichter gegenüber nicht mehr ablegte. Bei unserer letzten Begegnung vor seinem Tod bekannte sich der Hochbetagte vor mir aus innerstem Drang der an meinem Vater begangenen Ungerechtigkeit schuldig. Er war sich bewußt, Gottfried Kellers literarische Stellung gemacht zu haben. Wie leicht hätte der berühmte Ästhetiker, dessen Wort in ganz Deutschland und weit darüber hinaus über Wert und Unwert einer dichterischen Erscheinung entschied, die Lose des verkannten Hermann Kurz – das was man seinen »Unstern« nannte – wenden können. Er brachte es fertig, in »Altes und Neues. Mein Lebensgang« die »Beiden Tubus« eine »niedliche Novelle« zu nennen! Es war meines Wissens das einzige Mal, daß er seiner überhaupt Erwähnung tat. Der hohe Schatten hat ihm, wie ich glaube, 106 verziehen, weil er an der Tochter, die er schon in ihren Jungmädchentagen ins Herz schloß, die Unbill gutzumachen gesucht hat. Wie seine Voreingenommenheit sich aber literargeschichtlich auswirkte, dafür lieferte mir einer seiner begabtesten Schüler, Richard Weltrich, der mein und meines Bruders Erwin treuer Freund gewesen ist, ein überzeugendes Beispiel, da er von einem immer durchzufühlenden inneren Sträuben gegen die Werke meines Vaters nicht zu bekehren war. Dabei lag in beider Wesen nichts Gegensätzliches, vielmehr hätte ihr Verhältnis zu Schiller und Weltrichs spürendes ästhetisches Gewissen ein Verstehen und Eingehen begründen müssen. Vielleicht haften überhaupt bei dem Gelehrten, der gewohnt ist, seinen Gedankenbau Stein um Stein wissenschaftlich aufzumauern, die einmal empfangenen Richtlinien fester als bei dem wissenschaftlich unbeschwerten Geist, der auch einmal Gedachtes wieder umdenkt. »Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt.«

Daß meinem Vater nicht nur der volle Dichterkranz, der ihm gebührte, vorenthalten worden ist, daß sogar dem Gelehrten und Forscher Hermann Kurz die Anerkennung für seine bahnbrechenden Funde und Entdeckungen auf wissenschaftlichem Gebiet Schritt für Schritt bestritten wurde, wird einen künftigen, ins einzelne eindringenden Biographen noch zu beschäftigen haben. 1906 schrieb mir Otto Crusius, der Gräzist und Poet: »Daß ich in Ihrem Vater nicht nur auf germanistischem, sondern gar auf klassisch archäologischem Gebiet einen Fachgenossen von genialer Kraft zu verehren habe, war mir neu. Sie kennen doch die enthusiastischen Worte, mit denen eben Furtwängler (in der Jubiläumsschrift unserer 107 Akademie) ihn gepriesen hat als den ersten Entdecker des Aphäaheiligtums auf Ägina. Diese wissenschaftlichen Aufsätze gehörten eigentlich gesammelt neben seine Dichtungen, um das Bild des ganzen Mannes zu vollenden, wie Uhlands Schriften für Sagen- und Literaturgeschichte.«

Der Fund, von dem Furtwängler spricht, war nur im Vorübergehen gemacht und teilte das Los der anderen wissenschaftlichen Arbeiten meines Vaters, von den Zünftigen zum Teil verurteilt, zum Teil niedergeschwiegen zu werden! Nur zu wohl erinnere ich mich noch aus Kindertagen dieser Schollenwürfe auf das Haupt eines Lebendigbegrabenen.

Wer soll nun also die richtende Waage halten über einen Genius, dem sein Jahrhundert nicht gewachsen war, vor dem die Literaturgeschichte versagte und an dem sogar der Spruch der Dichtergenossen, nach ihren eigenen, schwächeren Maßen zugeschnitten, fehlging? Ich denke, die Zeit, die ihr Gottesurteil schon damit gesprochen hat, daß sie das Werk des Dichters unverwelkt der Zukunft entgegentrug.

Neuerdings ist nun doch wenigstens dem Forscher und Gelehrten Hermann Kurz aus der Fachwissenschaft selbst ein mit allem gelehrten Rüstzeug ausgestatteter Kämpe erstanden in Professor Heinz Kindermann, in seiner grundlegenden kleinen Schrift »Hermann Kurz als Literarhistoriker«, worin das so gut wie unbekannte und doch so vielsagende wissenschaftliche Lebenswerk des Dichters ans Licht gehoben ist. Es darf nahezu als eine Entdeckung gewertet werden, daß der Verfasser in Hermann Kurz »eine der interessantesten, weil vielseitigsten und entwicklungsfähigsten Dichterpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts« erkannt hat. »Philosophische und 108 literarhistorische, politische und archäologische, kulturhistorische und anthropologische Arbeiten«, sagt er, »entstehen da mitten zwischen seinen dichterischen – und daneben erwächst überdies eine übersetzerische Arbeit, die ihrem Umfang und ihrer Qualität nach allein ein Lebenswerk für sich bedeuten könnte.« Eben dieser übersetzerischen Tätigkeit hat derselbe Gelehrte schon 1918 die bereits angeführte Studie »Hermann Kurz und die deutsche Übersetzungskunst im 19. Jahrhundert« gewidmet und darin mit außerordentlicher Spürkraft die weit verstreuten, fast unübersehlichen, aus allen Bereichen und Zonen stammenden Früchte der Verdeutschungskunst meines Vaters zusammengefaßtSelbst diesem gründlichsten Forscher ist noch eine übersetzerische Leistung meines Vaters entgangen, die zwar keinem ernsten oder bedeutenden Gegenstand gewidmet ist, aber doch ein weiteres Mal Zeugnis ablegt für die unvergleichliche Schmiegsamkeit und Spannkraft seiner Sprachkunst. Ich meine die zehn Canzonen des Boccaccio, die in den Decamerone eingeflochten sind und die dem ersten vollständigen Boccaccioübersetzer Gustav Diezel wegen ihrer großen Schwierigkeit so mißlangen, daß er bei der dritten Auflage seiner Übersetzung (1855) meinen Vater zu Hilfe rief, der dann auch mit gewohnter Meisterschaft die aus der bequemen Reimfülle und dem beweglichen Satzbau des Italienischen geborenen Lieder mit all ihrer spielerischen Grazie in unserer so reimarmen und an eine starre Syntax gebundenen Sprache wiedergab.. Mit Recht sieht der Verfasser an dieser ausgeschütteten Fülle eingeheimsten Fremdgutes das Streben nach einer deutschen Weltliteratur und einen erfolgreichen Kampf für die Weltgeltung deutschen Geistes.

Ich kann nicht ohne stille Trauer daran denken, daß ich neben diesem weltenweiten Genius heranwachsen durfte und doch nicht anders an ihm teilhaben als durch die schweigende Luft, die ihn umgab, und daß ich mir später von dem entgangenen 109 Erbgut Stück für Stück, soweit es mir erreichbar, allein erwerben mußte. War's, daß seiner Natur jeder lehrhafte Zug fehlte und er nur zu eingeweihten Geistern über das sprechen mochte, was ihn innerlich erfüllte? Oder war's, daß er sein Schweigen überhaupt nicht mehr brechen konnte, hinter dem er das bittre Leid seines Lebens so streng verbarg, daß seine Umgebung nichts davon empfand? War's meine eigene Schuld? Die Unreife und Scheue meiner Jugend, daß ich es verschob, ihn nach so manchen Dingen zu fragen, bis unversehens die Stunde da war, wo es keine Antwort mehr geben konnte. – Ich habe nie begriffen, daß man sich in den unbekannten Reichen eine Fortdauer in der eigenen irdischen Persönlichkeit wünschen mag, da es doch nunmehr an der Zeit schiene, auf eine höhere Stufe zu gelangen und das hier Erlebte, bis zu Ende Gekostete, von sich zu tun. Wenn ich mir aber doch ein Wiedersehen denken könnte, so wäre es mit der ruhevollen Größe und Güte meines Vaters, der mir ein unerfülltes und unvollendetes Stück Leben geblieben ist. Es war einer der schönsten Träume, die ich je geträumt habe, daß er mir einmal in eigener Gestalt, aber das Haupt in ein unbeschreibliches Licht getaucht, auf einem Friedensgefilde schnell und freudig entgegenkam; es schien mir, daß er mit mir zufrieden sei und daß er wohl wisse, wie viele Lanzen ich für ihn gebrochen habe. Mir aber war bei dieser Begegnung zumute, als sei nun endlich der alte Schmerz gesühnt und ihm sein Recht geworden.

Kurz vor Ausbruch des Weltkriegs wurde zwischen dem jugendlichen Begründer und Inhaber des Georg-Müller-Verlags und mir eine Gesamtausgabe von Hermann Kurz vereinbart, die schlechterdings ganz vollständig sein sollte, alle 110 dichterischen und wissenschaftlichen Werke, Gedrucktes und Ungedrucktes, je mehr desto besser, die Übersetzungen mit Einschluß des Tristan und sogar des dreibändigen »Rasenden Roland«, der »Lustigen Weiber« und der »Zwischenspiele«, dazu einen Band Briefe oder zwei, den köstlichen Text zu Konewkas »Falstaff und seine Gesellen«, ja – so weit ging die Großzügigkeit dieses Verlags – auch die dazugehörigen Scherenschnitte, um das Verständnis des Textes zu erleichtern. Es wäre ein ganz großes und gewaltiges Werk von unübersehlicher Vielseitigkeit geworden, das den Manen des großen Toten Genüge getan hätte. Was diesmal dazwischentrat, das war kein persönlicher Unstern mehr, sondern ein Weltverhängnis. Und noch in den ersten Kriegsmonaten wurde das Unheil unwiderruflich, weil eine jähe Krankheit den unerschrockenen jungen Verleger hinwegriß.

Was jugendlicher Wagemut und Opfersinn eines Einzelnen geplant hatte, ist niemals später zustande gekommen. Wird nicht im Dritten Reich, das sich die Wahrung aller nationalen Güter zum Ziel gesetzt hat, endlich einmal eine Hermann-Kurz-Gesellschaft zusammentreten, um die Bergung der wie Strandgut an den Zeitufern ausgeworfenen dichterischen Ladung des deutschesten Dichters durchzuführen? Wer immer in der Zukunft an diese Aufgabe herantreten mag, der sorge dafür, daß neben den erzählenden Werken, die ja einzeln nie aus dem Buchhandel verschwunden sind, auch die längst vergriffenen und die nie ans Licht getretenen Sachen, soweit sie der Zeit etwas zu sagen haben, obenan der Tristan, mitgeborgen werden. Auch in den Briefen meines Vaters an Rudolf Kausler, worin das ganze geistige Schwabenland von dazumal wie im 111 Spiegel aufgefangen ist und von denen Hermann Fischer nur kurze Inhaltsangaben veröffentlicht hat, bleibt noch ein Schatz zu heben. Desgleichen möge ein kleines, 1857 geschriebenes und 1871 einmalig gedrucktes Werklein mit dem Titel »Aus den Tagen der Schmach, Geschichtsbilder aus der Melacszeit« nicht vergessen sein, das neben manchen auch heute beherzigenswerten historischen Streiflichtern den sehr verdienstlichen Nachweis enthält, daß es 1688 – andern verkleinernden und bespöttelnden Darstellungen entgegen – wirklich und wahrhaftig die tapfere Tat der Weiber von Schorndorf war, die den Anlaß zur Befreiung Württembergs von den französischen Mordbrennern gegeben hat.

Alle sind sie nun schon, die großen Verkannten des vorigen Jahrhunderts, in der Sicherheit ihres Ruhmes geborgen. Wie lange soll der Eine noch im Vorhof stehen, der die Seele seines Volkes am männlichsten und zartesten gesungen hat? Soll dieses heldische Leben nicht endlich in seinem ganzen Umfang unserem Deutschland zugute kommen? Ich habe getan, was meines Amtes war, indem ich die menschliche Persönlichkeit in dem »Leben meines Vaters«Vormals: »Hermann Kurz, ein Beitrag zu seiner Lebensgeschichte« festhielt, das eigentlich Literarhistorische der Fachwissenschaft überlassend. Die beiden obengenannten Monographien von Heinz Kindermann haben dem Literaturforscher und dem Übersetzungskünstler Hermann Kurz zu seinem Recht verholfen. Eine Zusammenfassung der künstlerischen Gesamterscheinung als Dichter, Forscher, Verdeutscher steht noch aus. Wann wird der Berufene kommen und den noch unübersichtlich daliegenden Erzkoloß zu seiner ganzen majestätischen Größe aufrichten? 112

 


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