Isolde Kurz
Die Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen
Isolde Kurz

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Siebtes Kapitel

Der Weg

Und doch, das Aug' sieht sich an Schönheit satt,
Es krankt das Herz, das keine Wurzeln hat, –

so ging es nun seit einer Weile schon in meinem Lebenslied weiter. Ich bin dem jungen Wesen, von dem ich hier erzählen muß, lange Zeit in der Rückschau gram gewesen, daß sie so schwer zu sich selber fand, ja ich schämte mich ein wenig an ihr wegen ihres Zeitvertrödelns und daß sie so oft nach Tand und Larven griff, daß sie so früh wach und doch so spät reif wurde. Aber seit ich sie nun beim Sammeln meiner Erinnerungen näher ins Auge faßte, habe ich einsichtiger von ihr denken gelernt. Und da ich mich bemühe, über alle, von denen ich zu reden habe, gerecht zu reden, sehe ich nicht ein, warum ich die gleiche Billigkeit nicht auch der erweisen sollte, die von allen am unbequemsten gebettet war. Vielleicht reifen auch im Nichtstun oder Zeitvertrödeln Begabungen gesünder als bei zu früher und großer Betriebsamkeit, die sich schnell ausgibt. »Der Herr gibt es den Seinen im Schlafe« heißt ja wohl nichts anderes, als daß dem Schlafenden Kräfte 200 zuströmen, die er zum Werden und Wachsen braucht. Wenn sie nach Tand und Larven griff, so war's, daß sie darin Symbole sah, und Symbole sehen war ihr eigentliches Lebensgesetz. Vor allem aber stammte sie aus jenem weltfremden Geschlecht, von dem Hölderlin sagt, ihnen sei »der Fehl, daß sie nicht wissen wohin, in die unerfahrene Seele gegeben«.

So darf ich denn von ihr sagen, daß sie ähnlich wie andere Nichtstuer und unnütze Brotesser, wie etwa der Grüne Heinrich, der auch keine lineare Richtung im Blut hatte, zwar auf ihrer Fahrt ins Unerreichliche manchen Umweg gemacht und oft sich umgeschaut hat, aber doch immer ohne Ermatten weitergegangen ist. Und auch das darf ich für sie in Anspruch nehmen, daß so oft das Leben sie mit einer klaren Forderung aufrief, die Verträumte auf die Füße sprang und sich meldete, auch niemals fragte, ob der Auftrag ein leichter oder ein schwerer war. Mir scheint, nur wer auf linearem Weg nach Erreichlichem wandert, könne sich das Recht nehmen, sie zu schelten, aber er hat, wenn er angekommen ist, auch schon das Seinige dahin.

Wenn ich Nichtstuer und unnütze Brotesser sagte, muß auch dieses Wort richtig verstanden sein: das Brot, das ich aß, war mein eigenes, selbsterworbenes. Aber sollte das ein Leben ausfüllen: Romane sichten, Romane übersetzen oder übersetzte nachprüfen von der Art, wie sie ebensogut nicht sein konnten und in der Tat schon nach wenigen Jahrzehnten nicht mehr waren? Da ging es ja nicht um die hohe Übersetzungskunst, wie mein Vater sie ausübte, die ihren Lohn in sich selber trug, als er Gottfrieds zauberhafte Dichtersprache nachbildete und mit Ariost »Feenbrot aß«: nach solchen Werken und solchen 201 Leistungen herrschte im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts keine Nachfrage mehr. Es war ganz prosaisches Lesefutter, was vom Buchhandel gefordert wurde, und etwas so Köstliches, wie meinen Nievo, der bezeichnenderweise dem damaligen Italien ganz unbekannt war und erst jetzt in seinem Vaterland zu Ehren gekommen ist, fand ich in der ganzen italienischen Literatur jener Tage nicht wieder. Die erzählenden Werke, die mir durch die Hände gingen, bewegten sich im Schlepptau der Franzosen, wenn auch der rohe Zolasche Naturalismus in den feineren Verismus Vergas veredelt war. Es darf bei dieser Gelegenheit den damaligen Italienern nachgerühmt werden, daß sie die Mode des Schmutzigen nicht mitmachten und bei der Darstellung geschlechtlicher Dinge die Grenze des Erträglichen nicht verletzten, denn das künstlerische Maßhalten war noch immer ihr edles Griechenerbe.

Ich wußte also nicht, was ich wollte oder sollte. Auf die Lyrik, in der ich noch nach der eigenen Ausdrucksform tastete, wenn auch schon dann und wann ein Stück gelang, das seitdem geblieben ist, ließ sich kein Lebensschicksal bauen. Novellistische Versuche, die ich da und dort drucken ließ, blieben mir selber fremd und äußerlich, denn ich wagte meine Seele nicht hineinzugießen, weil diese Seele noch zu scheu und teils auch zu unreif war. Ich fühlte ja selbst, daß ich die Weihen noch nicht hatte. Junge Menschen brauchten damals länger zur Entwicklung, sie wuchsen unbewußter und lebensferner auf als die heutigen, von früh an auf Zwecke eingestellten; dafür blieb ihnen aber auch die innere Kindheit erhalten. – Bei mir kam noch ein besonderes Hemmnis hinzu: ich hatte als Kind, das ohne Schule aufwuchs, mit grausender Ehrfurcht die 202 Schulaufsätze meiner Brüder bestaunt, in denen all die reife Lebensweisheit der Lehrer niedergeschlagen war, in altklugen Worten, wie sie ein Kind gar nicht findet, denn es war Vorschrift, sich nicht von dem angegebenen Wege zu entfernen –, wenn sich der phantasievolle Edgar einen Seitensprung erlaubte, rief ihn der Rotstift zur Ordnung. Ich bewunderte also diese Unnatur aus aufrichtigem Gemüt, hielt sie für das Rechte, Gottgebotene, fühlte aber, daß ich dergleichen niemals würde machen können, und das verschlug mir für lange hinaus jeden Versuch zum Schreiben. Es ging mir damit wie mit der Vortragskunst einer Altersgenossin, die jedesmal, wenn ihre Eltern Gesellschaft hatten, auf ein Podium stieg, das kleine Wesen, und mit furchtbar falschem Pathos »Was willst du, Fernando, so trüb und so bleich« deklamierte. Aus dem Beifall der Großen schloß ich, daß es so gemacht werden müsse, nahm mir aber vor, selber niemals den Fuß auf dieses Glatteis zu setzen, daher es ganz unmöglich war, mich jemals zum Aufsagen eines Gedichtes zu bewegen. So war ich denn auch bis zum zwanzigsten Jahr nicht dazu gekommen, mich in Prosa zu versuchen; die in Tübingen begonnenen Märchen waren mein erster Sprung da hinein; sie wurden jedoch nicht am Schreibtisch verfaßt, sondern großenteils an Baldes Bettrand sitzend mündlich, um dem Leidenden die Zeit zu vertreiben, und erst hernach auf seinen Wunsch niedergeschrieben. Ich machte die kleine Sammlung in Florenz mit Liebe fertig und beschloß sie mit dem »Leuchtkäfer, der kein Mensch werden wollte«, einer Erfindung, in der ein stilles und zartes Herzensleid, nur mir vernehmlich, leise nachzitterte. Auf den Rat einer Bekannten, die gute Beziehungen zu England hatte, 203 übersetzte ich das kleine Ding, das mir in eigener Weise am Herzen lag, ins Englische, um es in einem hiefür geeigneten englischen Blatte drucken zu lassen. Bevor ich es aus den Händen gab, legte ich es einem Freunde, dem feinohrigen englischen Dichter Charles Grant, zur sprachlichen Begutachtung und allenfallsigen Berichtigungen vor. Der Spruch, den ich da empfing, war mir ebenso überraschend wie lehrreich. Zu berichtigen gebe es nichts, die Wortwahl sei unanfechtbar, der Satzbau richtig, nur sei kein einziger Satz englisch. Betreten fragte ich, ob er mir denn nicht helfen könne, ein richtiges Englisch daraus zu machen? Nein, war der Bescheid, denn in englisch gefühltem Englisch wäre es kein »Leuchtkäfer« mehr. Der Geist der beiden Sprachen sei so grundverschieden, daß das Englische für ein solches Schweben zwischen Lächeln und Wehmut, ein solch unausgesprochenes Rühren an letzte Dinge mitten in kindlicher Märchenunschuld gar keine Töne habe und daß gewiß ein feiner und gebildeter Engländer die kleine Legende lieber in meinem zwar fremdartig aber nicht unangenehm klingenden Englisch lesen werde als in einem richtigen, aus dem der ganze Märchenreiz weggeblasen wäre. Ich befolgte den Rat und bekam ein unerwartet gutes Honorar, aber nie den Druck zu Gesicht, was gelegentlich die Vermutung nahelegte, daß das Märchen unter anderem Namen gedruckt worden sei. Die bedeutsame Frage von der Übersetzbarkeit dichterischer Erzeugnisse wurde mehrfach mit dem englischen Freund erörtert, wobei es mir sehr einleuchtend war, zu hören, daß zwar der deutsche Übersetzer mittelst seiner zu unendlicher Dehnbarkeit und Geschmeidigkeit erzogenen Sprache jede englische Gedankenfärbung unverfälscht ausdrücken 204 könne, nicht aber umgekehrt der Engländer den deutschen Gedanken, wenn er in der Tiefe des Volksgemüts wurzle, weil seine Sprache als die eines hervorragend praktischen, gänzlich unspekulativen Volkes, ein einseitiges, nach der philosophischen Richtung unentwickeltes Werkzeug sei. Er hatte es selbst zu erproben, als ihn unsere gemeinsame Freundin, Frau Jessy Hillebrand, die englische Gattin des bekannten Essayisten, bei ihrer Übersetzung von Schopenhauers »Vierfacher Wurzel« zu Hilfe rief, an welcher Wurzel auch der feine Sprachkenner Grant gewaltig zu kauen fand, weil das Englische dem Schopenhauerschen Deutsch einen fast unüberwindlichen Widerstand entgegensetzte. – Ich hatte später oft Gelegenheit, mich dieser Gespräche zu erinnern, wenn sich mir die Erfahrung von der schweren Übersetzbarkeit meiner wenn auch noch so durchsichtigen Sprache erneuerte: jenes mitschwingende Etwas, das dem Fremden den Zugang zu erschweren scheint, ist nichts anderes als die mitschwingende, im Verborgenen wohnende deutsche Stammesseele. Der Massenerfolg, den unsere jüngstverflossene Literaturperiode im Ausland hatte und noch immer hat, geht eben auf das Fehlen jenes Etwas zurück, wodurch ein internationales, innerlich undeutsches Deutsch so leicht zu übersetzen ist und eine internationale Geisteswelt die deutsche Geistigkeit vor dem Ausland vertritt.

Die Märchen fanden in Deutschland freundlichen Empfang; sie wurden zuerst einzeln in Zeitschriften, später bei Göschen, Stuttgart, als kleines Büchlein unter dem Titel »Phantasien und Märchen« gedruckt. Sie blieben mir wert, weil ich darin zum erstenmal meinen eigenen natürlichen Ton gefunden hatte, besonders in dem Märchen vom Leuchtkäfer. Dem englischen 205 Freund, der so warm in meine Seele hinein empfand, ging es ebenso, er sah in dem kleinen Büchlein ein Versprechen für die Zukunft. It is no life but it hints at life, sagte er, um mich zu ermutigen. Aber so ein kleines Schwälblein macht keinen Sommer, und ich war noch nicht weit genug, um fernerhin aus den eigenen Fingern zu saugen.

Um die tiefe Enttäuschung, von der ich befallen war, nachträglich selber zu verstehen, muß ich das damalige Zeitgesicht aus meiner heutigen Überschau noch einmal zurückbeschwören. Das Hinschwinden der überpersönlichen Ziele war ja einer der Gründe, die uns aus Deutschland fortgetrieben hatten. Aber im öffentlichen Leben Italiens sah es nicht besser aus, die Auffassung von den Werten des Daseins war die gleiche, und auch sonst gab es der Parallelen mancherlei. Beiden Völkern war ein jahrhundertealter Traum, um den viel edelstes Blut geflossen, über Nacht erfüllt. Beide standen nach langer politischer Minderwertigkeit und Mißachtung, die sie zum Schmerz ihrer Besten erduldet hatten, geehrt und stark unter den Völkern Europas. Aber beiden wurde die äußere Erfüllung zum inneren Verhängnis. Wo die Väter geopfert hatten, wollte man genießen, allein man genießt nicht ungestraft, wo man nicht auch zum Opfern bereit ist.

Es war ja die Blütezeit des Kapitalismus, wo der Reichtum nicht als etwas äußerlich Anhängendes erschien, sondern als ein zweites, unantastbares Gottesgnadentum. Nicht nur daß die Besitzenden in den Augen der anderen höhere Wesen waren, sie waren es auch in ihren eigenen. Mehr als heute noch vorstellbar, schwebten jene Bevorzugten in einer goldenen Wolke von Gewißheit dahin, ihr Glück mit Verdienst 206 verwechselnd. Sie lebten zwar mit dem geistigen Adel auf dem Fuße der Gleichheit, aber es lag doch noch ein anderer Schmelz in der Stimme der Hausfrau, wenn sie eine durchreisende Finanzgröße empfing, als wenn ein armer Künstler oder Gelehrter ihr Haus betrat. Der Geist war ihnen Schmuck des Lebens, aber das Leben selber war der Reichtum.

Auch das Wirtsland befand sich zwischen den zwei Wellenbergen Garibaldi und Mussolini in einem langen und tiefen Wellental. Zu der natürlichen Sinnlichkeit eines sinnenfrohen und sinnenstarken Volkes gesellte sich der allgemeine Materialismus der Zeit. Das öffentliche Leben stockte und stickte in dem parlamentarischen Sumpf, Regierungen kamen und gingen, die Minister galten für käuflich, aus der hohen Politik floß die Skepsis über das ganze Land. Die höchste bürgerliche Stellung besaß wie in Frankreich der Advokat, und dieser als der gewandteste Redner hatte auch die nächste Anwartschaft auf einen Sitz im Parlament, wobei niemand von ihm erwartete, daß er andere als persönliche Zwecke verfolge. Die alten Kämpfer, die auf den Schlachtfeldern geblutet oder gar noch in Gefängnissen gesessen hatten, standen höflich gegrüßt aber als vergangene Größen abseits, die Jugend lächelte blasiert und skeptisch. Kurz, das Feuer des Risorgimento war niedergebrannt bis zu einem kalten Aschenrestchen. Meine gute Mutter, die mit der Phantasie ganz andere Dinge sah, war nicht wenig entsetzt, als ich ihr einmal nach einem Gesellschaftsabend erzählte, daß ein Offizier der florentinischen Garnison, den ich nach Garibaldi befragte, mir höflich nahegelegt hatte, den Namen dieses Banditenführers lieber nicht zu nennen, der Mann habe ja nicht einmal einen stato civile presentabile 207 (einen anständigen Familienstand). Da sah man nirgends etwas Großes, um das gerungen wurde, kein Ziel, um das man sich selber hätte freudig mitverströmen können, kein Beispiel, woran sich das Herz erhob. Man ist doch Kind seiner Zeit, da immer auch das Persönlichste mitspricht: man plätschert entweder lustig mit oder man muß abgestoßen alleinstehen. Im Lombardischen und Piemontesischen mochte es noch besser sein, aber in dem kulturalten Florenz, wo von je das Spöttertum zu Hause gewesen, war mit dem Glauben an ein höheres Leben auch der Wunsch darnach geschwunden. Nur bei armen Leuten wie Bauern, Fischern, kleinen Handwerkern konnte man noch gelegentlich auf Reste der alten Flammen stoßen. Denn der höchste Adel Italiens ist und bleibt das Volk, aus dem ja nun auch der große Staatsmann hervorgegangen ist, der diese morsche Welt aus den Angeln heben und eine völlig neue dafür hinstellen sollte. Es ist darum äußerst verkehrt, mir vorzuwerfen, wie schon geschehen ist, daß ich die Italiener nach ihren niederen Schichten beurteilte: mir scheint, man könne einer Nation keine schönere Gerechtigkeit erweisen, als wenn man sie nach denen beurteilt, die unbestritten ihre Besten sind und die die Stammesart am unverfälschtesten bewahren.

 

Von diesen Dingen hatte ich freilich fast nur durch die politischen Gespräche in befreundeten Häusern Kenntnis, wie bei Karl Hillebrand oder dem Marchese Guerrieri Gonzaga, einem unentwegten Politiker, Senatore del Regno und ehemaligen Garibaldiner, der eine Frankfurterin zur Frau und einen Faustübersetzer zum Bruder hatte und auch selber deutschem Wesen nahestand. Persönlich empfand ich die 208 öffentlichen Dinge mehr durch den Luftgehalt, dem alles Ozon fehlte und der das gesellschaftliche Leben auf die Länge immer ungenießbarer machte.

Freilich, ein Haus gab es in Florenz, das geistigste von allen, das Hildebrandsche, das mir immer gastlich offenstand und das mir, wie ich dankbar wiederhole, gerade in der bildsamsten Zeit viel zu meinem Reifen gab. Auf dem glückseligen Sitz unterhalb Bellosguardo, der ganz mit Werken edelster Kunst, mit Verochios und Donatellos und mit des Künstlers eigenen in Plastik und Malerei gefüllt war, in einer Weise gefüllt, die nichts Museumartiges an sich hatte, sondern diese Gebilde gleichsam in das Leben einbezog – in diesem Haus der Freude, inmitten einer immer schenkenden Natur, habe ich mich mehr als einmal von dem Druck, der in den letzten Jahren vor Baldes Tod auf dem unsrigen lastete, für acht bis zehn Tage erholen dürfen. Aber gerade dort hatte sich das Genußleben – dieses Wort in seinem höheren Sinn genommen – mit einem philosophischen Hedonismus zu solcher Unwiderstehlichkeit zusammengeschlossen, daß der Glückliche als der einzig wahre Mensch erschien: wen Kummer oder Mißgeschick getroffen hatte, der fühlte sich von einem Makel gezeichnet, den er verbergen mußte, so ganz war aus der Gegenwart der Schicksallosen, immer Ungetrübten die Erinnerung an Kampf und Not, an Schwäche und Krankheit, an Leiden und Sterben verbannt. Nicht aus Ästhetentum, sondern aus Überfülle des Lebens, das nichts als sich selber kannte. Eine Jugendfreundin von mir machte einmal auf San Francesco Besuch mit der Absicht, in dem Künstlerhaus das Bild ihres einzigen zarten Kindchens zu zeigen; als sie aber neben der üppig 209 prangenden Herrin des Hauses auf dem Divan saß und ein Heer urgesunder Hildebrandscher Sprößlinge um sie her kugelte, verlor sie den Mut und kehrte bedrückt nach Hause mit dem ungezeigten Bildchen in der Tasche. Ich erzählte Hildebrand das kleine Begebnis, da meinte der Künstler, der alles von der künstlerischen Seite sah, mit Lächeln, das gäbe ein wirksames novellistisches Motiv. –So strahlend sich das Glück der Gastfreunde ansah, ich selber hätte nicht in solchem ständigen Evoë! zu leben vermocht, noch hätte ich mir die Nachtseite des Lebens rauben lassen können, die mir so schön war wie der ewighelle, lange Hildebrandsche Tag.

Es ist eine große Pein, mitten in blühender Kraft sich unnütz zu fühlen. Vorübergehend ist es wohl den meisten in der weichen entspannenden Luft des Südens so gegangen, die den Einladungen der Zauberin gefolgt waren, ohne durch eine feste Aufgabe gebunden zu sein. Ich habe in meiner »Stillen Königin« den Zustand jener »Lotophagen«, wie ich sie nannte, geschildert, zumeist nordische Künstler, die entmutigt von dem täglichen Anblick einer seit Jahrhunderten fertigen, unüberbietbar vollkommenen Kultur, ohne den Sporn der eigenen Zeit- und Heimatgenossen und gleichsam unter dem Spott der großen schöpferischen Toten von der Tatenlosigkeit wie von einem saugenden Moor allmählich hinabgezogen wurden. Ich konnte nicht einmal die Bildungsmöglichkeiten richtig ausnützen, die mir der neue Boden gab. Dem weiblichen Geschlecht war dort wie in Deutschland jede höhere Lehranstalt verschlossen. Noch tiefer als bei uns, beinahe orientalisch tief, stand zu jener Zeit in Italien die Frau, nur daß sie nicht durch wissenschaftliche Lehrsätze, sondern allein durch 210 den Brauch herabgedrückt war, denn unbefangener als der Deutsche gab der Italiener den geistigen Ausnahmen ihr Recht. Das mochte noch der Nachglanz jener großen Frauen der Renaissance bewirken, die wohl dem Bachofenschen Ideal gleichgekommen wären, hätte ihnen nicht männlicher Besitztrieb, männliche Eifersucht jeden Versuch zur Selbstverfügung mit Dolch und Gift gewehrt. Wenn ich mich auch den Landesbegriffen nicht unterzuordnen brauchte, beschränkten doch schon die Lebenseinrichtungen meine Bewegungsfreiheit. Es war undenkbar für ein junges Mädchen, allein ins Theater zu gehen und unbegleitet den Heimweg durch die nachtdunklen Straßen zu machen, denn die Vorstellungen begannen erst gegen zehn Uhr und dauerten tief in die Nachmitternacht hinein. Edgars Junggesellennatur hatte alles für sich allein, auch den Menschenkreis mit dem er lebte und die Abende außer dem Haus, er kam für Ritterdienste nicht in Betracht. Jedesmal einen Wagen bestellen war zu kostspielig, also mußte ich sehen mich mit Bekannten zu verabreden, die den gleichen Heimweg hatten, wozu sich nicht leicht Gelegenheit ergab. Freilich wenn dann ein Tommaso Salvini auf den Brettern stand, so war auch etwas zu erleben, was mit so bezwingender Macht in der ganzen Welt nicht wieder vorkam. Die großen Augenblicke der italienischen Schauspielkunst, denen ich anwohnen durfte, blühen unverwelklich in meiner Seele weiter.

Hätte nur die Lichtheit meines Äußeren nicht so auffallend gewirkt, das die Gaffer auf Straßenweite anzog. Ich konnte nicht ungestört eine Kirchen- oder Palastfassade betrachten, weil ich gleich von einem Schwarm von Müßiggängern 211 umringt war, der mich anstarrte wie eine Erscheinung und mit mir zog, zuweilen bis vor mein Haus. Das hinderte mich sogar, die Stadt gründlich kennenzulernen. Oft flüchtete ich in einen Laden und stand dort lange wählend herum, bis irgendeine unliebsame Begleitung sich verzogen hatte. Es kamen Augenblicke, wo ich mir wünschte, endlich alt zu sein, weil mir meine Jugend ja doch kein Glück brachte, und mich wenigstens dafür frei bewegen zu können. Ich begann am Ende das Licht des Südens zu hassen, dieses unerbittlich strahlende, das nach Menschengeschick nicht fragt und mir sogar das Leid aus der Seele nahm, den leergewordenen Raum ganz mit Helligkeit füllend.

Auf diese Weise war ich allmählich dahin gekommen, meine überstürzte Auswanderung als einen verfehlten Schritt zu betrachten, den ich sobald wie möglich rückgängig zu machen hätte, wollte ich nicht rettungslos auf der Sandbank hängen bleiben. Es war gerade ein Augenblick, wo ich mich ohne Vorwurf von dem Mutterherzen losreißen konnte, denn sie hatte sich selbst wiedergefunden, besser gesagt: sie hatte sich nie verloren; auf die große Fassung, die sie beim Tode ihres Lieblings gezeigt, war kein Rückschlag erfolgt. Außer Josephinens Pflege und der Sorge für Edgars Bequemlichkeit hatte sie auch noch ein Kind zu betreuen, was ihr immer am wohlsten tat, einen kleinen venetianischen Jungen, Alfreds Stiefsohn, den dieser ihr gebracht hatte, damit er zu Haus nicht ganz verwildere, weil er selbst keine Zeit hatte, sich ihm zu widmen, und seine Mutter, eine Venetianerin, sich keine Zeit dazu nahm. Es lag auf der Hand, daß ich nicht ohne weiteres in die alten Verhältnisse nach München zurückkehren konnte, weil ich ja 212 die alten Verhältnisse nicht mehr gefunden hätte. Meine Schüler hatten natürlich nicht auf mich gewartet, die Lage war verschoben, und ein zweitesmal den Sprung ins Ungewisse wagen, kam nicht in Frage. Dennoch war die Rückkehr nach München, wo mir ja Freunde lebten, der einzige Schritt, von dem ich hoffte, daß er mich ins Gleise brächte; schon ein einsames Zimmer und ein fester Stundenplan, den niemand stören durfte, erschien mir als die halbe Rettung. Ich überwand mich, schrieb an Heyse, setzte ihm die Lage auseinander und bat ihn, wenn er irgend einschlägige Beziehungen hätte, mir einen festen Posten zu verschaffen. Die Antwort kam schneller als ich erwartete; hochauf schlug mein Herz: er hatte einen Posten! Aber während ich las, wurde mir enger und bänger. Nicht von einer Anstellung bei einem Verlag oder einer Zeitschrift, ähnlich der, die meine Gönnerin, Frau Rosalie Braun-Artaria, bei der »Gartenlaube« einnahm, wobei ich meine besonderen Fähigkeiten hätte zur Geltung bringen können – denn das war es, was mir vorschwebte –, war die Rede, sondern von einem kaufmännischen Büro, wo ich die fremdsprachigen Geschäftsbriefe zu schreiben und natürlich auch mit dem Rechnungswesen mich zu befassen hätte. Ausgesucht die Stelle, für die ich am allerwenigsten taugte. Denn die fremden Sprachen waren mir zwar durch eine natürliche Anziehungskraft von selber zugeflogen, mit dem Rechnen aber war es ein anderes Ding, da war ich unter Mamas Leitung bei den Anfängen stehengeblieben, und was sonst noch zum kaufmännischen Betrieb gehören mochte, davon hatte ich nicht die leiseste Ahnung. Heyse, der diese Sachlage jedenfalls nicht vermutete, drang auf Annahme des Vorschlags, weil ich bei 213 guter Bezahlung allerdings viel zu tun hätte, aber doch in den Abendstunden immer noch Zeit finden könnte, mich mit eigener geistiger Arbeit zu beschäftigen. Es war mir wenig wohl bei dieser Versicherung, aber ich wagte nicht nein zu sagen. Kurz zuvor war dieser Freund mit einem anderen Vorschlag an mich herangetreten: ich sollte einen deutschen Operntext ins Italienische übersetzen und hatte abgelehnt. Das Dichten in fremder Sprache anders als zu scherzhaften und persönlichen Gelegenheiten ist mir stets als Vergreifen an fremdem Heiligem erschienen. Die Dichtersprache kommt von weiter her als die Sprache des Tagesmenschen, man muß auch die Stimme der Ahnfrau in ihr raunen hören, diese aber vernimmt man nur in der eigenen oder höchstens einer nahe verwandten. Natürlich wußte dies Freund Paolo auch, er mochte denken, daß es bei einem Operntext nicht so genau darauf ankomme. Wenn ich jetzt in kurzer Zeit zum zweitenmal nein sagte, nachdem ich selber den Ratgeber angerufen hatte, fürchtete ich, eine launenhafte oder allzu wählerische Rolle zu spielen. Und etwas mußte ja doch geschehen, um einmal auf einen sicheren Weg zu kommen. Das italienische Sprichwort: di cosa nasce cosa gab mir die Hoffnung ein, daß wenn auch dieser erste Versuch mißlinge, vielleicht irgendwie ein zweiter, glücklicherer sich daran schließen könnte. Wer sich aber mit allem Nachdruck gegen den Vorschlag stemmte, war meine Mutter. Ihre Tochter, an der ihr höchster Ehrgeiz hing, ein Bürofräulein! Das klang damals noch ganz anders als heute. Meine eigenen Zweifel, ob ich bei meinem nicht ordnungsmäßigen Bildungsgang überhaupt die nötigen Kenntnisse hätte, um eine solche zwar untergeordnete, aber doch auf ganz 214 bestimmten Forderungen beruhende Stellung auszufüllen, wagte ich ihr gar nicht mitzuteilen. Ich tröstete mich ziemlich leichtsinnigerweise mit der Erwägung, daß ich schon manche Verrichtung, für die ich nicht geschult war, in der Ausübung gelernt hatte und daß zu dem Bürowesen wohl auch kein übermenschliches Können gehören werde. So meinte ich wenigstens den Versuch wagen zu sollen. Mama aber meinte dies gar nicht und warb sich einen Verbündeten.

Im Erdgeschoß unseres Hauses am Viale Principessa Margherita war seit einiger Zeit eine Künstlerpersönlichkeit von besonderer Prägung eingezogen und hatte sich mit einer Empfehlung aus der Heimat bei uns eingeführt. Es war ein begabter, vielseitig angeregter Mensch von eindrucksvollem Äußeren und weltmännischem Auftreten, auch ein glänzender Gesellschafter, sobald er wollte, aber keine frohe und aufgeschlossene Natur. Althofen, so hieß er, benützte alljährlich seine Ferien von einem Lehramt, um sich in Florenz künstlerisch weiterzubilden: zur Zeit war er mit einer Sammlung sorgfältig ausgeführter Aquarelle nach farbigen Terrakotten des Quattrocento beschäftigt, die er als Buch herauszugeben gedachte. Er erschien fast an allen unseren Abenden und paßte sich der Eigentümlichkeit unseres Familienlebens, wo jedes seinen besonderen Kopf hatte, ganz selbstverständlich an, indem er auf die verschiedenen Neigungen und Belange der Geschwister mit seinem hellen Weltverstand gerne mitberatend einging. Obgleich er sich sehr hoch nahm und auch von anderen so genommen sein wollte, sagte er von sich und der ganzen Menschheit nur Übles, und das Leben selbst behandelte er wie ein lästiges Anhängsel, das baldmöglichst abzustreifen ein 215 Gewinn wäre. Solche Stimmungen, die im Lichte des heutigen Tages nicht mehr verständlich sind, waren damals durch die Sattheit der langen Friedensjahre und durch jene große allgemeine Sicherheit, in der Nietzsche die Grundursache aller Zeitübel sah, wie auch durch den philosophischen Pessimismus in die Welt gekommen. Mussolinis pericolosamente vivere! lag noch in einer fernen Zukunft, und manchem erschien ein so rings umfriedetes und behütetes Dasein gar nicht mehr lebenswert. Es erzeugte vielfach gerade unter den geistigen Naturen einen Welt- und Lebensekel, der es als eine schöne und preiswerte Sache erscheinen ließ, auf die Verlängerung eines so fragwürdigen Zustands freiwillig zu verzichten. Althofen erzählte gern von Freunden, die ohne irgend persönlichen Anlaß, rein aus Überzeugung vom Unwert des Seins, ihr Leben mit eigener Hand geendet hätten, und von anderen, die sich mit den gleichen Vorsätzen trügen. Trotz seiner absprechenden Züge hatte seine Gegenwart doch immer etwas Förderndes, denn er war kein Neinsager von Hause aus, sondern auch schnell und freudig anerkennend, wo er das Schöne sah, und vor allem ununterbrochen tätig; aber irgendwie mit sich zerfallen, im innersten Zentrum beschädigt und von da heraus in Welt- und Selbstverneinung getrieben, die er durch Schopenhauersche Lehrsätze unterstützte. Was er von seinem eigenen Leben mehr ahnen ließ als mitteilte, hatte alles einen tiefdunklen Klang, aber es war nur wie ein Buch, von dem man ab und zu ein paar Seiten zu hören bekommt, die auf düstere und schmerzliche Kapitel schließen lassen, ohne einen Zusammenhang zu ergeben. Nach einem kurzen Befremden bei der ersten Begegnung, das auf gewisse Gewolltheiten 216 des äußeren Betragens zurückging, die aber mit der Fremdheit verschwanden, fand auch ich mich wie die andern mit ihm zurecht. Uns gab er sich als der ältere weltmüde Freund, der für sich nichts mehr erwartet, aber gern den Jungen, Suchenden mit seiner Erfahrung nützt. Daß er vielmehr in unserem Kreise den Jahren nach der Jüngste war, es aber wie eine Schande verheimlichte, wofür ihm sein viel älteres Aussehen zustatten kam, war eine der vielen seltsamen Grillen dieses reichen, aber kranken Geistes. Wir nannten ihn scherzhaft den Schwarzen, ebenso wegen der Dunkelheit seiner Erscheinung, die er noch durch schwarze Kleidung hervorhob, wie wegen seiner düsteren Weltanschauung. Das paßte ihm, und er betonte es gelegentlich selbst, indem er sich Niger unterschrieb in Anspielung auf das horazische Hic niger est, hunc tu caveto, denn es gehörte mit zu seinen melancholischen Wunderlichkeiten, daß er zuweilen vor sich selbst als vor einem unabsichtlichen Unheilbringer, einer Art Jettatore, warnte.

Mich hatte er vom ersten Tag an verpflichtet durch die Gefälligkeit, womit er sich mir zum Führer in den Galerien und zu den Kunstaltertümern anbot, weil ich meine Zeit in Florenz noch gar nicht so recht in diesem Sinne genützt hatte. Mit dem Quattrocento hatte ich mich überhaupt noch abzufinden: nach der hohen Geste der Griechenkunst, wenn ich sie auch nur aus Abgüssen kannte, war es mir zu wirklichkeitsnahe, zu menschlich bürgerlich, um mich ganz tief anzusprechen. Auch pflegten mich die großen Galerien, wenn ich sie so unvorbereitet betrat, durch ihre Überfülle mehr zu verwirren als zu beglücken. Ich hatte also allen Grund, dem Hausgenossen für die Zeit, die er mir widmete, dankbar zu sein; er 217 kürzte mir das Suchen ab und führte mich nur zum Besten, ließ mir auch die Zeit, dazwischen wieder im Freien zu Atem zu kommen, so daß mir von diesen Gängen der reine Gewinn, keine Übermüdung blieb. Wenn er an seinem Zeichentisch sitzend mich aus der Haustüre treten sah, schloß er sich häufig unerwartet an, und dann hatte er irgendeine Köstlichkeit im Auge, zu der er mich führen wollte. Mehr und Größeres wurde mir in den Folgejahren im Hildebrandschen Kreise geboten, wo ich das Entstehen des großen Kunstwerks miterlebte, seine Schwankungen und Wandlungen unter den Händen des Schaffenden, was dem wahren Wesen der Kunst näher brachte als jeder Anblick des Fertigen, unwiderleglich Gelungenen oder die kunsthistorische Betrachtung. Aber die ersten Einsichten dankte ich dem hypochondrischen Führer, und sie wären noch schöner gewesen, hätte nicht die Hypochondrie ab und zu phantastische Blasen heraufgetrieben, womit er sich und mir die schönsten Eindrücke verderben konnte. Es wurde viel zwischen uns über das Tages- und Nachtgesicht der Dinge gestritten; ich konnte es schlechterdings nicht begreifen, daß ein so von der Natur Begünstigter um jeden Preis unglücklich sein wollte. Ebensowenig wußte ich mit einer Philosophie anzufangen, die von vornherein die Freude leugnet und den Schmerz für den Normalzustand erklärt; wäre er das, wandte ich ein, so würden wir ja sein Dasein gar nicht spüren, wie ein mitgeborenes ständiges Zahnweh gar kein Zahnweh wäre. Vielmehr würde sein gelegentliches Aufhören befremdlich sein: daß wir uns gegen ihn stemmen, beweise ja schon, daß er als Eindringling und Störenfried komme. Aber natürlich war der Schüler Schopenhauers auf jede Einwendung vorbereitet 218 und auf philosophischem Weg nicht zu bekehren. Dennoch schien er nicht ganz seinen Dämonen verfallen, denn in Stunden, wo er sich vergaß, zeigte er auch die Gabe, mit den Fröhlichen fröhlich zu sein.

Diesen Hausfreund holte sich meine Mutter heran, daß er ihr helfe, mir den Bürogedanken auszureden.

Der Aufgerufene ging mit Eifer ins Zeug, und es bedurfte wahrlich keiner großen Überredungskunst, um mir klarzumachen, was ich von Anfang an wußte, wenn ich es auch nicht wissen wollte: daß die angetragene Stellung für mich die denkbar falscheste war, weil mein wirkliches Können dabei gar keine Verwendung fände, während umgekehrt mir alle geforderten Fächer fehlten. Daß es völlig irrig sei, zu glauben, man könne nach einem geisttötenden Schreibstubentag noch Schwung und Frische für irgendein schöpferisches Tun übrig haben; wer diesen Rat gegeben, der habe ihn nie erprobt. Ich würde vielmehr nach wenigen Jahren solchen Frondienstes ein zermürbter und aufgebrauchter Mensch sein, dem die Flügel für immer gebrochen wären. Und was es denn in aller Welt für einen Sinn hätte, untergeordnete Dinge zu lernen und auszuüben, die andere ebensogut und besser leisteten, dabei aber die natürlichen Anlagen und schon gelungenen Anfänge verkümmern zu lassen, die glücklich ausgebildet, auf die Höhe des Lebens führen konnten. Dies war alles ebenso unwiderleglich wie bedrückend, denn was mir fehlte, war ja eben das Sprungbrett, um zu jener höheren Tätigkeit zu gelangen. Jetzt aber trat der Berater mit einem Vorschlag hervor, der der ganzen Sache eine andere Wendung gab. Wir hatten schon wiederholt auf unseren Gängen bedauert, daß es keine 219 gemeinverständlichen übersichtlichen Darstellungen der großen Tage von Florenz gebe, woraus der Reisende sich über die Entstehung der Dinge, die er vor Augen sah, und über die Geschicke des Bodens, über den er wandelte, leicht und faßlich im Zusammenhang unterrichten konnte. Man kannte allenfalls ein paar große Namen; das weitere war Wissen der Fachgelehrten. Von unseren heutigen zahllosen Reise-, Geschichts- und Kunst-Wegweisern mit ihren Bildbeigaben wußte man noch nichts, es fehlte ja auch bei dem damaligen Stande der Lichtbildkunst die Möglichkeit einer mechanischen Wiedergabe der Kunstwerke. Noch kürzlich hatte mich ein durchreisender deutscher Freund gefragt, wer denn eigentlich diese Mediceer gewesen seien, von denen so viel Aufhebens gemacht würde, und ich hatte keine klare Antwort zu geben gewußt. Denn wenn ich den Namen Medici hörte, sah ich nur im Geiste einen großen Glanz aber keine bestimmten Züge. Die deutschen Künstler, die unseren vorzüglichsten Umgang bildeten, vorab die zwei Größen, Böcklin und Hildebrand, hatten keinen Sinn für die Vergangenheit, und Kunstgeschichte lehnten sie wie alles Theoretische ab; als Führer in Kunstdingen sollte jedem das eigene Auge genügen. Unter diesem Einflusse stehend, hatte auch ich mein Nichtwissen bisher mit der größten Unschuld getragen.

In diese Lücke, so war nun der Vorschlag, sollten wir zwei mit einem gemeinschaftlichen Werke treten. Mir fiel es zu, die einschlägigen Studien zu machen und die Texte zu schreiben, er wollte den graphischen Teil dazu liefern: Bildnisköpfe nach alten Gemälden, Vignetten mit Palastfronten, ausdrucksvollen Straßenecken und ähnliches. Außerdem 220 übernahm er es, in Deutschland den Verleger zu suchen. Ich ging mit Begeisterung auf den Plan ein. Es war wie ein Wunder: endlich war mein Weg zu mir gekommen! Das Bürofräulein meldete sich ab, und mit unerhörtem Glanze stieg die florentinische Renaissance vor meinem inneren Auge empor. Mein Mütterlein, hochbeglückt und immer großartig bei ihren winzigen Mitteln, schenkte mir die damals noch sehr kostspielige zweibändige »Kultur der Renaissance« von Jacob Burckhardt, die Althofen als Einführung in den Geist der Zeit mit den höchsten Worten pries und die mir schnell zum unschätzbaren Besitz wurde.

Nachträglich muß ich mich verwundern, wie ich mich so unvorbereitet in die Aufgabe stürzen konnte, ohne die Spur einer Besorgnis, darin zu scheitern. Die Zuversicht war der Ausfluß meiner Unkenntnis. Goethe bekennt, daß er sich nicht an den Iphigenienstoff gewagt hätte, wäre er zu jener Zeit vertrauter mit der Vielseitigkeit des griechischen Mythos gewesen. Man darf also auch die Unwissenheit unter die Zahl der Musen rechnen. Mir gab sie ein Unterfangen ein, für dessen Ausmaß mir zu meinem Glück jede Schätzung fehlte, sonst hätte mir wohl bange werden können. Ich fragte auch gar nicht, was etwa von anderen in dieser Hinsicht gearbeitet sei, ich fühlte mich einfach von den Unsichtbaren durch einen plötzlichen Ruck auf diesen Platz gestellt. Jetzt störten mich Raummangel und Unruhe der Wohnung nicht mehr. Ich hielt mich den langen Tag auf der Biblioteca nazionale auf, stöberte in Katalogen, machte Auszüge, verglich Überlieferungen, überwand sogar meine Schüchternheit, indem ich Fachgelehrte aufsuchte, um mir Quellenwerke nachweisen zu 221 lassen, und ich machte mir wieder aus Unkenntnis den Weg schwerer, als er hätte sein müssen, weil manche dieser Quellen, denen ich mühsam nachstieg, schon in bequeme Kanäle gefaßt aber von mir ungesehen, daneben flossen. Doch ich wollte ja auch gar nicht aus fertigen Büchern zusammenstoppeln, sondern die Toten selber anrufen, daß sie mir ihr Gesicht zeigten. Mit Gino Capponis anspruchslos geschriebener, aber übersichtlicher Geschichte von Florenz begann ich meine Studien, wobei es zunächst unwesentlich war, ob diese Forschungen etwa schon zum Teil durch spätere überholt und berichtigt waren; es galt vorerst nur, sich in den Stoff und in den Geist der Zeit einzuleben. Ich überwand glücklich die verwickelten und verwirrenden mittelalterlichen Stadtkämpfe, aus denen für die ganze Dauer der alten Republik die sonderbarste und ungerechteste aller Staatsverfassungen hervorging, aber zugleich durch die Unterdrückung des kriegerischen Adels und die Vorherrschaft von Handel und Finanz ein Zustand geschaffen wurde, der dem, was man vorzugsweise unter der florentinischen Renaissance versteht als der Wiedergeburt des Geistes der Antike und zugleich einer eigenen Kulturblüte ohnegleichen, die Stätte bereitete. Diese Epoche stand unter der Führung der frühen großen Mediceer. Nicht als ob sie allein das Zeug dazu gehabt hätten, jeder Florentiner trug damals schicksalhaft, wie vom Geist der Geschichte gezwungen, dasselbe Wunschbild in der Seele. Aber die Zeit war reif, die Erfüllung mußte kommen, und ihre politische Stellung legte sie in die Hände der Mediceer. Von dieser Familie, die dem Zeitalter den Namen gab, mußte ich den Ausgang nehmen. Es hieß also nicht mehr sich eine Stadt zueigen machen 222 sondern eine ganze Kultur, die glanzvollste und fortwirkende seit der griechischen; ihre Bedeutung ging mir jetzt auf ihrem Mutterboden zum erstenmal auf. Von Schritt zu Schritt lernte ich sie erkennen als die Wiege des modernen Lebens, aus der die Keime der geistigen Anregung in alle Länder flogen. Und die Menschen, die das alles geschaffen hatten! Was ist die Zeit? Eine Scheidewand aus Leinen und Pappe. Ich blies, da lag sie, und hinter ihr hervor traten sie, die lange gesuchten Freunde, die hohen Verwandten, die vor Hunderten von Jahren gelebt hatten!

Auch hier konnte ich nicht ab ovo beginnen und in der geraden Reihenfolge weitergehen, sondern ein heller Mittelpunkt, der zuerst meine Augen anzog, Lorenzo de' Medici, den sie, das Wort magnifico mißverstehend, den Prächtigen nennen – er war prächtig, aber der Beiname meinte anderes –, sandte seine Strahlen nach allen Seiten. Er zog zunächst nach rückwärts hinstrahlend seine Vorfahren und die Vorgeschichte seines Hauses samt ihren gestürzten Mitbewerbern in den Kreis. Dann belichtete dieses leuchtende Zentrum seine Zeitgenossen, die Freunde und Feinde, die Familienglieder, den mediceischen Künstler und Dichterkreis, eine sich immer weitende Welt, alles von dem Gestirn erster Größe Lorenzo in seinen wechselnden Aspekten überstrahlt. Aber auch sein Gegenspieler Savonarola, mir bis dahin nur ein Name, erschien und forderte sein Recht. »Ein mönchisches Scheusal« hatte ihn Goethe genannt; das war fast alles, was ich von ihm wußte; eine erschütternde Gewissensmacht, die sich totlief, kam zutage. Diese Gestalt wiederum deutete nach Rom und in die Kloake der Borgia hinein. So wurde der geschichtliche Umkreis immer 223 größer. Da war einer, ein Junger, in dessen Liebenswürdigkeit und Anmut ich mich schlechterdings verliebte, der schöne Giuliano, Lorenzos Bruder, der im Dom als das Opfer der Verschwörung der Pazzi fiel, wieder eine der frühsterbenden Jünglingsgestalten, die es mir schon in der Kindheit angetan hatten. Ich sah die Frau seiner Liebe, die schöne Simonetta, im offenen Sarg zu Grabe tragen und berauschte mich an dem Wohlklang der lateinischen Verse, die der Poliziano auf ihren Tod gedichtet hat. Das führte mich wieder auf die lateinische Sprache hin, die mir seit dem Wegzug meines Freundes Mohl aus Tübingen, weil ich sie nicht übte, schon fast entglitten war. So zogen die florentinischen Studien immer weitere Kreise und nahmen mehr und mehr von mir Besitz. Und weil das Pflaster, worauf ich trat, noch dasselbe war, über das jene Menschen einst wandelten, und die Stadt ihr Gesicht noch nicht allzusehr verändert hatte, brauchte man nur die inneren Augen zu öffnen, um sie noch in ihrem alten Rahmen zu sehen. Diese Längstverstorbenen wurden für mich lebendiger als das meiste, was sich um mich her bewegte: sie hatten mit mir die eine große Liebe gemein, die ich in solcher Stärke nie bei Mitlebenden gefunden hatte: die Liebe zu Hellas, dem sie die Auferstehung bereiteten. Hellas war das Kennwort, an dem wir uns augenblicks zusammenfanden, die Lebende mit den Toten die nicht sterben. Die Opfer an Gut und Leben, die nach dem Sturze von Konstantinopel von den Italienern für die Rettung und Erhaltung der Schätze des griechischen Geistes gebracht wurden, gaben ihnen wohl das Recht, sich für die Erben dieses Geistes zu erklären, wenn sie auch nicht die einzigen waren.

224 Freilich steckte auch diese strahlende Welt, die mich berauschte, voll von menschlichen Übeln, von Gewalttat und Verbrechen, es waren die Kehrseiten der großen Taten in Kunst und Wissenschaft; freilich mußte auch hier der Genius an die Tür der Großen klopfen um sein Brot, aber der Genius war naiv und schämte sich nicht und zweifelte nicht an der Weltordnung, die solches wollte, und die Großen wußten, was sie an ihm besaßen, wenn sie nicht gar wie Lorenzo selber oder Pico von Mirandola zu den Genien gehörten. Das Schöne lag in der wunderbaren Einheit, in dem Gemeinsinn, der die Züge dieser einzigen Stadt geprägt hatte, daß sie sich wie Familienzüge in jedem größten und kleinsten ihrer Gebilde wiederfanden.

Ich bin mit diesem Bericht meinen Ergebnissen zeitlich vorausgeeilt, denn es war eine lange Strecke, die ich da ohne Wink und Führung zurückzulegen hatte. Allein der Boden war geebnet, die Form, die ich dem Stoff geben wollte, lag in meinem Inneren, und im unbegrenzten Glauben der Jugend an sich selbst blieb ich unbeirrt von jedem Zweifel am Gelingen.

Meine gute Mutter jubelte, weil sie meiner nun wieder für geraume Zeit sicher war, die Weitläufigkeit der Anstalten bewies ja, daß es um eine Arbeit von langer Hand ging. Ich glaube, daß ich in jenen Tagen so etwas wie ein glücklicher Mensch gewesen bin. Werk und Leben lagen in meiner eigenen Hand. Ich sah mein Buch mit den Zeichnungen Althofens geschmückt, unser Buch, schon fertig als ein Geschenk an das deutsche Volk, ein willkommenes, notwendiges, wie ich hoffte, weil es einem hohen Kulturzweck zu dienen hatte und 225 weil es etwas ihm Ähnliches zur Zeit nicht gab. Ich dachte es mir in den Händen aller nordischen Reisenden, die fortan über die Alpen kommen und aus diesem Werk den Einblick in das unsichtbare Florenz schöpfen würden. Und schließlich dachte ich es mir als Brücke, auf der ich doch früher oder später ins Vaterland zurückkehren würde, nicht in gedrückter, untergeordneter Stellung sondern als eine, die etwas geleistet hat und sich sehen lassen konnte. Ich war damals gewiß die allerzukunftsreichste Eierfrau landauf landab; kein Gedanke, daß das Schicksal kommen und mir meine Eier zertreten könnte, beschlich meine Seele. Die Freude, die in mir tanzte, floß auf den Stifter zurück, der sich den »treuen Eckart« nannte – nicht mit Unrecht, denn er hatte gerade im letzten Augenblick meine Räder aus der falschen Spur zurückgedreht und in die richtige gelenkt. Mein Dank war ebenso groß wie verdient: ohne diese Begegnung hätte ich wohl die herrliche Stadt, die jetzt mehr als je die meine werden sollte, verlassen, ohne sie nur recht gekannt zu haben, und an der Stelle, wohin ich nicht gehörte, wäre ich unerfreulichen Erfahrungen entgegengegangen. Er mochte selber erstaunt sein über die Folgen seines raschen Einfalls, dessen Tragweite er nicht hatte voraussehen können, weil ihm jene versunkene Welt so neu war, wie sie mir noch vor kurzem gewesen. In den Straßen der Innenstadt wurden nunmehr alle Plätze und Winkel abgesucht, an denen irgendein wichtiges Geschehnis hing, wovon ein bildliches Erinnerungszeichen in abgekürzter Form dem Text eingefügt werden sollte. In Galerien und Kirchen ging man den Bildnissen jener Großen nach, die Museen bewahrten Münzen, die auf dieses oder jenes denkwürdige Ereignis 226 geschlagen worden waren; überall die Zeugen einer unerhörten Vergangenheit, zahlreich wie die Sterne am Himmel! Das war so anregend, daß auch der schwarzseherische Teilhaber von meiner Begeisterung mitberührt wurde und abließ mit Gespenstern herumzufechten. Man konnte für ihn hoffen, daß er die lebenswidrige Weltverneinung noch wie einen aufgelesenen unnützen Ballast von sich tun werde.

Es war ein ungewöhnlich schöner Herbst, solch ein Herbst des Südens, der ganz ohne Wehmut ist, weil er kein Sterben ansagt, sondern ein Wiederaufgrünen und Aufleuchten der Natur nach dem furchtbar sehrenden Sonnenbrand. Herrlich all die Fülle auf den Feldern und in den Vignen nach dem ersten Regen, und der freudige Fleiß der Menschen. In mir sprang ein neuer Liederquell hoch, leichte tändelnde Verse, von Mörike beeinflußt, aber mit eigenen, aus dem Leben geholten Motiven und eigener Bildersprache. Spätere Kritik hielt diese Rokokolyrik für mein erstes Gesicht, es war vielmehr die Absage an den hochgestelzten Charakter meiner wirklichen Anfänge, die mir in jener zweiten Phase höchlich zuwider waren, die ich mir aber heute eher nachsehen kann, weil sie kein wichtigtuerisches Wühlen in eingebildeten Schmerzen waren, sondern der Notausgang für viel stummes, festgepreßtes Herzweh meiner ersten Jugend. Auf diese zweite Phase wirkte nun die Berührung mit dem Hildebrandschen Geiste, dem einzigen Lebenden, von dem ich mir bewußt bin, eine unmittelbare geistige Einwirkung erfahren zu haben, auch dem einzigen, mit dem ich künstlerische Erfahrungen tauschen konnte, obgleich oder weil seine ganz naiv-idyllische Richtung das gerade Gegenteil meiner eigenen war. Nicht nur, daß er alles Heroische 227 ablehnte und was sich etwa mit Schillers Begriff des »Sentimentalischen« deckte; auch mit der gewaltigen Zentrifugalkraft Hölderlins hätte er nichts anzufangen gewußt, wenn ich etwa versucht gewesen wäre sie ihm nahezubringen, wovor mich schon meine Scheu vor dem vergeblichen Nennen geweihter Namen bewahrte. Mörike war unter den deutschen Dichtern sein Liebling, wie er der meines Vaters gewesen war; in seiner Mischung von Griechentum, Rokoko, ländlich derbem oder schalkhaftem Schwabentum mit einem drolligen Schuß Biedermeierei, die ohne literarisches Wärmhaus unmittelbar aus dem Boden der schwäbischen Heimat gestiegen kam, sah Hildebrand die duftendsten Blumen der deutschen Lyrik, und wer ihn hörte, gab ihm recht, nicht nur weil er recht hatte, sondern weil er zu denjenigen Menschen gehörte, deren Ansichten am schwersten zu widerstehen war: durch die bloße Strahlkraft seiner Gegenwart überzeugte er schon, bevor er gesprochen hatte. Seit der Bann der Unerlöstheit von mir abgefallen war, ließ ich mich gern von seiner Friedeseligkeit beeinflussen, soweit es die dunklen Fäden in meinem Lebensteppich erlaubten. Ganz unwillkürlich und unbewußt modelte er mir manches Schiefe weg, was durch die Schiefheit meiner früheren Lage in mich gekommen war, und machte mich dem Leben gegenüber unbefangener und vertrauender. Daß es kein Dichter, sondern ein Plastiker war, der an meinem künstlerischen Menschen mitgemodelt hat, das bewahrte mir die volle Freiheit auf meinem eigenen Boden. So wenig wie er in seinem Gebiet wußte ich in dem meinigen von Richtungen, Strömungen, »Ismen« aller Art, ich kam mit keinem Tagesgestirn in Berührung, das mich hätte in seine Bahn ziehen können, 228 noch lief ich Gefahr, von einer der vielen literarischen Gemeinden eingesaugt zu werden, deren Dasein ich nicht einmal kannte. Also blieb ich allein, unabwendbar und vollkommen allein, ohne Vorgänger noch Hintermann, und sollte es mein Leben hindurch bleiben.

Nach der Abreise Althofens wurden die florentinischen Studien mit unvermindertem Eifer fortgesetzt. Winter und Sommer wanderte ich zur Bibliothek, wo ich an dem einzigen Damentisch fast immer allein saß und mich durch eine Unzahl von Wälzern hindurcharbeitete, während der Austausch über das gemeinsame Vorhaben mit dem abwesenden Teilhaber brieflich weiterging. Als er im Spätsommer sich wieder einstellte, waren die Vorarbeiten zu Stapeln aufgehäuft, und ein Kapitel über die Anfänge des Hauses Medici war auch fertig geschrieben. Wie wurde mir aber, als nun der Freund in meinem Arbeitszimmer neben mir sitzend, während ich ihm das Geschriebene vorlas, wie geistesabwesend mit dem Stift auf einem Blatt Papier italienische Prachtvillen zu zeichnen begann, unter einer tropischen Pflanzenfülle, die wuchs und wucherte und zuletzt den Bau wie ein drohendes Element umzüngelte, bis unten am Abschluß der Prunktreppe an Stelle der Blumenschale oder Steinfigur ein Totenkopf entstand, der die Züge des Zeichners trug. Daß mein entsetzter und empörter Aufschrei ihn erst zu sich zu bringen schien und er versicherte, ganz unbewußt gezeichnet zu haben, machte die Sache noch unheimlicher, obgleich ich ihm das nur halb glaubte. Auch im Vorjahr pflegte der Künstler unser Gespräch mit dem Stifte zu begleiten, aber da waren es anmutige Einfälle gewesen: Fruchtgewinde über Prunkportalen, schwankende 229 Blumenketten von Amoretten getragen, spielerisch wie meine leichten Verse aus dem gleichen schönen Herbst. Auch seine Briefe waren manchmal nur ornamentale Phantasien über irgendein angeschlagenes Thema. Und jetzt an Stelle der liebenswürdigen Gewohnheit diese schaurige Spielerei. Aus der charaktervollen Schönheit seines Kopfes hatte er mit dem scharfen Künstlerauge die Umrisse des Schädels herausgeholt und gefiel sich darin, sie in immer neuer Anwendung abzuwandeln, denn immer wieder kam in landschaftlichen oder dekorativen Zeichnungen irgendwo im innersten Geschlinge und ebenso in der Namensunterschrift, wenn auch noch so klein, ein Totenkopf – der seine – zum Vorschein. Auch die Sucht, alles Traurige und Unheimliche, was es geben konnte, sich selber zuzueignen, bei jeder Gelegenheit mit dem Schicksal zu würfeln, wie um schlimmeren inneren Gefahren zu entgehen; der Hang, sich in zwei Personen zu spalten und sich diebisch zu freuen, wenn die Umgebung nicht mehr wußte, wen sie vor sich hatte, bis er sich mit wildem Lachen die Maske wieder abriß, das alles führte in ein Wirrnis zwischen Wahn und Wirklichkeit hinein, aus dem kein Ausweg war und das die Zusammenarbeit zum Anlaß steter Beunruhigung machte. Zwar wirkte der künstlerische Ernst und der strenge Fleiß immer wieder versöhnend und gab Hoffnung, daß die Verstörung sich legen werde, aber schon am nächsten Tag waren alle Beschwichtigungen zunichte. »Wen ich einmal mir besitze, dem ist alle Welt nichts nütze.« Da ich bemerkte, daß der wilde Gast sich in Männergegenwart weniger gehenließ und leichter über seine selbstzerstörerischen Grillen wegkam als unter Frauen, auf deren Nachsicht er rechnen zu dürfen glaubte, 230 beschloß ich nach dem heißen Sommer noch für kurze Zeit ans Meer zu gehen und mich dadurch den täglichen Bedrängnissen zu entziehen. Wogegen Edgar versprach, sich unterdessen des verstörten Geistes anzunehmen, ihn auch womöglich in zerstreuende Gesellschaft zu bringen. Er hielt sein Wort und nahm ihn fast täglich in seinem neuen schönen Wagen auf seine Berufsfahrten durch die Campagna mit, deren belebende Frische dem Angegriffenen wohltuender war als es die aufpeitschende Meerluft hätte sein können, um die er mich beneidete, von der ihn jedoch Edgar durch immer neue Einladungen ins Grüne zurückhielt. Ich schwamm und ruderte indessen in der Bucht von Lerici, und als ich nach vierzehn Tagen gebräunt und neugeboren zurückkam, waren die bösen Geister ausgezogen. Der Zurückgebliebene konnte mir einige von ihm entworfene Bildbeigaben zu meinen Textentwürfen vorlegen, und ich verehrte ihm zum Dank ein künstlerisches Erbstück des Hauses, das mir Mama zu diesem Zwecke überließ: das Bildnis meiner Urgroßmutter von Oetinger, von der Hand der Simanowitz, über dessen Verbleib ich nachmals nie wieder etwas erfuhr. 231

 


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