Isolde Kurz
Die Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen
Isolde Kurz

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Fünfzehntes Kapitel

Das Verglimmen

Die Lenze schwinden,
Die Sommer verglühen,
Durchs Fenster nur seh ich
Die Blumen blühen
Und hör das Leben, das lockt und lärmt.

Mich rufen klagend
Des Lebens Stimmen,
Ich hüt' ein Lämpchen, das im Verglimmen,
Wenn draußen die Freude vorüberschwärmt.

Ich folg' ihr nimmer, ich horch' in Zagen
Auf eines Herzens schwächeres Schlagen,
Das mit dem meinen sich freut und härmt.

Und möchte die Stunde
Umklammern und halten,
Die noch mit süßen Liebesgewalten
Das sterbende Lämpchen durchhellt und wärmt.

467 In den ersten Tagen nach Edgars schnellem Aufbruch war es gewesen, als ob er alle, die er einst mit sich nach Italien gezogen, auch jetzt wieder nachziehen müsse; war ja selbst sein Freund, der lebenslustigste aller Menschen, vorübergehend dem Eindruck erlegen, als ob das Leben jetzt ganz leer und ausgelebt sei. Bei der Mutter hatte ich diese Stimmung durch das verklärte Lebensbild ihres Einzigen – denn das war und blieb er ihr neben allen seinen Geschwistern – gleich zu Anfang ablenken können. Aber würde der leichte Champagnerrausch, in den sie versetzt war, vorhalten? Das Wunder geschah, er hielt vor. Sie verbrachte die Stunden damit, seine Gedichte, die sie mit auswählte, für den Druck abzuschreiben und schrieb sie immer von neuem ab, für sich und andere. Auch in Forte, wo sie nun niemals wieder die geliebteste Gestalt aus dem Nachbarhause treten sah, erwies sich die fast unglaubliche Unabhängigkeit ihrer Liebe von der sinnlichen Erscheinung. Dazu halfen auch die Freunde mit, für die er gleichfalls ein Lebendiger blieb. Vor allen anderen, wie sich's versteht, sein zweites Ich, sein Carlo Vanzetti.

Gleich nach Edgars Tod hatte Hildebrand gegen mich die Meinung geäußert, dieser werde nun ohne den Freund in sein Nichts zurücksinken. Aber Vanzetti war ein Stück Volk und darum unverderblich. Der strengen Wissenschaftlichkeit Edgars gleichsam entschlüpfend, ließ er jetzt seiner magischen Natur erst recht die Zügel schießen. Er geriet beim Landvolk in den Ruf eines Wundertäters, und auch viele von den fremden Badegästen, für die er noch etwas von dem Nimbus Edgars an sich trug, gewann er für seine Kuren. Was er verschrieb, kam weniger in Frage, der Glaube tat es, den 468 er besaß wie irgendein Magier. Daß auch mein Mütterlein dem Zauber verfiel, war für mich ein großer Segen; ich konnte sie ihm zuweilen zur Obhut überlassen und mich innerlich ausrasten. Er hatte die eigene Mutter verloren, an der er mit so ängstlicher Liebe hing, daß er nie den Mut fand, ihr Herz zu behorchen, und ihre Behandlung Edgar überlassen hatte; so verstand er meine Bangnis und war trotz seiner Leichtherzigkeit immer zur Hand, wenn man den Arzt brauchte. Wenn er pfeifend am Strande herankam, von der Jugend und der Weiblichkeit wie ein Rattenfänger umschwärmt, so glänzte sie auf und zählte die Schritte, bis er mit einer rauschenden Woge von Fröhlichkeit ins Haus trat. Trotz aller äußeren und inneren Unähnlichkeit sah sie doch immer ein Stück Edgar in ihm. Seit er ganz frei von geistigen Belangen nur noch die Bauernhöfe in den Bergwäldern aufsuchte oder am Strand mit seinen Patienten Ball und Boccia spielte, erinnerte er mit den zugespitzten Ohren unter dem dunklen Ringelhaar mehr und mehr an Pan, den ländlichen Gott. Da er nicht wußte, was das für ein Ding war, so ließ ich ihm zu seinem Entzücken aus Berlin ein Lichtbild von dem schönen Pan des Signorelli im Friedrichsmuseum kommen, zu dessen bocksfüßiger Majestät die Lebensalter ihre Wünsche und Klagen bringen; in dieser Gestalt erkannte er sich selbst. Nur die schmerzliche Tragik im Angesichte des Gottes war ihm fremd; in solche Tiefen drang die unbeschwerte Seele nicht, die auch längst schon die Trauer um den verlorenen Freund in heiter liebende Erinnerung verkehrt hatte.

469 Meine Mutter war bis zu Edgars Tod niemals ernstlich krank gewesen mit Ausnahme eines einzigen Falles im Vorjahr, der auf eine bei Krankenpflege im Hause des Sohnes, von der sie sich nicht abhalten ließ, geholte Überanstrengung zurückging. Ich hatte sie damals bei mir gehabt und gesund gepflegt; die glückliche Seelenverfassung hatte dem Körper schnell wieder aufgeholfen. Jetzt war es anders. Die vorigen beängstigenden Erscheinungen stellten sich von Zeit zu Zeit aufs neue ein, und da war in ihrem Florenz kein Edgar mehr, sie richtig zu überwachen. Der erste neue Anfall trat auf, als sie es durchgesetzt hatte, mit Freunden in deren Wagen den Vielgeliebten auf Trespiano zu besuchen, wobei es auf der Heimfahrt gerade an der steilsten Stelle zum Zusammenstoß mit einem anderen Fuhrwerk kam. Sie trug zwar keine Verletzung davon, denn man fuhr noch nicht mit Benzin, wohl aber eine starke Erschütterung, so daß sie sich für Tage legen mußte, für sie eine harte Zumutung. Von da an konnte ihre flammende Seele nicht mehr verheimlichen, daß es eine Achtundsiebzigjährige war, die der Tod ihres Lieblings ins Herz getroffen hatte! Sie war nicht krank, aber sie kränkelte, ein Rad war gebrochen in dem so wunderbaren Gefüge, wenn es auch weiter arbeitete. Auch das Zusammenleben wurde schwieriger: Gesichter, die sie nicht gerne sah, durften nicht mehr ins Haus, gleichviel, in welche Lage ich dadurch geriet. Für sie war es das Recht des Unglücks, auch Ungerechtes zu fordern, und ich mußte willfahren, um schlimmste Krisen zu vermeiden –, nicht weil sie meine Mutter, sondern weil sie mein Kind war, mein schwer getroffenes Kind, das, wie ich mir nicht verhehlen konnte, jetzt seine letzten Kräfte verbrauchte. Den Verbrauch 470 verlangsamen, schonen und wieder schonen war das einzige, was zu tun blieb. Aber nur die Sommer in Forte taten ihr noch wohl; in dem ihr öde gewordenen Florenz hatte sie keine Ruhe mehr. Bald zog sie's nach Venedig, wo Alfred immer sehnsuchtsvoller die Arme nach seiner Mutter ausstreckte, bald nach München zu Erwin. Die Wahl fiel auf München, wohin ich sie in Begleitung von Hildebrands vorausreisen ließ, um selber die Wohnung aufzuräumen und nachzufolgen. Ich suchte mir eine Pension in ihrer Nähe und hoffte wieder einmal aufzuatmen, aber nun quälte sie eine ahnende Sorge um Alfred. Ich war der Reise nach Venedig entgegen gewesen, weil ich wußte, daß der sie am tiefsten von allen ihren Söhnen liebende am wenigsten imstande war, ihrem Seelenfrieden Rechnung zu tragen. Denn weil er in seiner venezianischen Ehe keine Spur von dem häuslichen Umsorgtsein hatte finden können, das deutschen Männern ein Bedürfnis ist, und es einen geistigen Umgang dort für ihn nicht gab, war er in eine Lebensweise verfallen, die seine Gesundheit aufs schwerste schädigte und der er bei der feurigsten Liebe zu den Seinen nicht mehr zu entsagen vermochte. Da wurde mit einem Male der Drang zu diesem Sohn in dem Mutterherzen unwiderstehlich, daß sie sogar den ganz phantastischen Entschluß faßte, allein zu ihm zu fahren; so blieb mir nichts übrig als nach einer Reisegesellschaft für sie zu suchen. Aber ehe sich Gelegenheit fand, rief ein Telegramm der Angehörigen Erwin zu dem jählings Schwererkrankten nach Venedig. Er fuhr augenblicklich und kam gerade recht, ihm die Augen zuzudrücken, – der zweite tiefgeliebte Bruder, den er in weniger als zehn Monaten sterben sehen mußte. Hatte der eingliedrige aber zähe Edgar 471 vierzehn Tage mit dem Tode gerungen, so fiel Alfreds strotzende Kraftnatur auf den ersten Streich. Er hatte keinen Widerstand mehr aufzubieten, denn bei dem Verluste dieses Bruders war das Herz in ihm gebrochen. Er hatte in der Tat mehr verloren als alle andern. Seit er erwachsen war, hatte er in dem älteren Bruder, der ihm in der Wissenschaft wie im Leben voranleuchtete, seinen väterlichen Vormund und Berater gesehen, wie er in der Mutter nach wie vor die Führerin sah, der er zwar oft aber immer mit schlechtem Gewissen ungehorsam war. Bei den beiden je und je ein paar selige heimatliche Tage in Florenz in der Via delle Porte nuove zu verbringen, das war für ihn der Traum des ganzen Jahres. Nun war dieses ganze Florenz für ihn eingestürzt; er saß an Leib und Seele frierend in seiner letzten schönen Wohnung, dem Palazzo Falier am Canal Grande, und verbrachte seine Nächte einsam bei den großen Bücherschätzen, die er von seinem Freund, dem Pastor Elze in Venedig, geerbt hatte, und beim Wein, der ein tröstendes Gift für ihn war.

Als ich mit der Todesbotschaft zu der Mutter trat, wußte sie gleich alles und saß auch diesmal wie eine Niobe, stumm und ohne Tränen. Seltsam war es, daß mich mehrere Nächte zuvor eine Ahnung des Kommenden in symbolischer Weise gestreift hatte. Es träumte mir, ich säße in Florenz zwischen den beiden älteren Brüdern an Edgars Schreibtisch, und dieser in seiner gewohnten entschlossenen Haltung setzte dem Jüngeren, Unschlüssigen eine Sache, die ihn stark zu bewegen schien, mit Nachdruck auseinander, irgend etwas Medizinisches, ein Unternehmen, zu dem er Alfred zu überreden suchte. Ich hörte nicht zu, ganz befangen von der Verwunderung, daß dieser, 472 den ich doch im Sarge gesehen hatte, hier wieder lebendig vor mir saß. Ich benützte den ersten Augenblick, um ihn mit gehemmter Zunge mühsam zu fragen, wie es ihm jetzt gehe. Er sah mich nachsichtig lächelnd mit seinen durchdringenden dunkelblauen Augen an, als ob ich etwas ganz Verkehrtes gefragt hätte, nahm, ohne zu antworten, mit den langen spitzigen Fingern, die den meinigen ähnlich waren, ein Blättchen Seidenpapier vom Tisch, tupfte mir damit vorsichtig wie ein Augenarzt die vordringenden Tränen weg und wandte sich wieder – er selbst in jeder Bewegung – an Alfred, der dem Zwang der Überredung nicht länger widerstehen konnte und sich noch zögernd erhob, um ihm aus der Tür zu folgen.

Auch diesmal griff ich zu dem schon bewährten Mittel, den ersten Mutterschmerz zu lindern, indem ich das Lebensbild auch dieses Geschiedenen schrieb und es zuerst in der »Allgemeinen Zeitung«, dann in meinen »Florentinischen Erinnerungen« neben dem seines Bruders veröffentlichte. Diesmal hatte ich nicht einen Kämpfer und Helden, nicht einen Forscher und Dichter zu schildern, nur ein goldenes, an Liebe und Güte unerschöpfliches Herz, einen aufopferungsvollen Arzt, einen Freund und Schützer aller Kreatur und ein freudiges, sinnenfrohes, aber doch immer im Geistigen verwurzeltes Temperament voll strahlender Laune. Dieses goldene Herz besaß ringsum in der Welt Freunde, denen er in seinem Venedig Gutes getan, – bei seiner großen Zugänglichkeit besaß er deren sogar mehr als sein weit bedeutenderer älterer Bruder. Sie alle erreichte der Nachruf in der »Allgemeinen Zeitung« und erweckte die dankbare Erinnerung, daß sie sich mit teilnehmenden Briefen an die Mutter wandten und damit 473 die erste durch den Ausfall der Sohnesbriefe entstandene Leere deckten. Aber der Riß ins Leben war zu groß geworden, als daß eine Fortsetzung des bisherigen Zustands möglich gewesen wäre. Schon der vergangene Winter hatte gezeigt, daß ein trauliches Eigenheim als Nest der Geborgenheit und Arbeitsstille mit dem Mütterlein zusammen sich auch jetzt nicht durchführen ließ. Ihr beginnendes Siechtum, das doch das starke Temperament nicht dämpfen konnte, hinderte den Gleichlauf der Tage. Und nun fehlte nicht nur Edgar, es war auch kein Alfred mehr da, sie wenigstens aus der Ferne zu umsorgen. Zwar die strahlenden Sommer in Forte konnte ich ihr und mir noch erhalten. Aber die schöne Wohnung in der Via de' Bardi mußte schließlich aufgegeben werden, nachdem sie zwei Jahre lang so gut wie leer gestanden hatte. Nur der Eintritt in eine festgefügte, von anderer Hand geleitete Hausordnung konnte die Not wenden und mir die Kraft zur Pflege und, wenn möglich, auch noch ein Endchen Zeit für die Arbeit am Schreibtisch wahren. Denn die Lebensbeschreibung meines Vaters, für die ich noch im letzten Sommer in der Via de' Bardi die schriftlichen Zeugnisse gesammelt und gesichtet hatte, war ja im ersten Stadium des Werdens, und die beiden älteren Brüder, auf deren Mithilfe ich, wenn auch bloß durch belebende persönliche Erinnerungen, gezählt hatte, waren dahingegangen, bevor ich auch nur in der Lage war, die Absicht mit ihnen durchzusprechen. Es gibt ein italienisches Sprichwort: Chi ha tempo non aspetti tempo, eine Umformung des alten Carpe diem: So gern läßt man ja den nächsten Augenblick aus der Hand, auf einen besseren wartend, der nicht mehr kommt. Meine Mutter war zu phantasievoll und zu 474 persönlich befangen, um als sichere historische Stütze dienen zu können. Außerdem fehlte es stark an einschlägiger Literatur, die sich in Florenz nicht auftreiben ließ. Also war ich wieder einmal fast ganz auf mich selber angewiesen, und wenn es mir schießlich doch gelang, die schwerwiegende Aufgabe zu lösen, so habe ich wahrhaftig keiner Gunst der Umstände zu danken, sondern einzig der Größe und Bedeutung des Gegenstands. Dabei widerfuhr mir der seltsame Irrtum, daß ich mich in der Vorrede zu einem Bruch bekannte, der – vermeintlicherweise – durch die jähen Schicksalsstöße während der Arbeit in die Darstellung gekommen wäre. Es soll nur niemand glauben, ein Unrecht, das er sich selber getan, werde je von fremder Seite berichtigt werden; ist eine Formel geprägt, so bleibt sie stehen. Die Kritik, die im übrigen das Buch sehr warm aufnahm, bemächtigte sich meines falschen Geständnisses, und ich bekam wieder und wieder zu hören, daß ein Bruch durch das Buch gehe. Als ich aber nach Jahr und Tag einmal selber das Buch mit unbefangenen Augen musterte, entdeckte ich, daß da von einem Bruch keine Spur war: dieser war nur durch meine eigene Seele gegangen! Bei der jüngsten Neuauflage nun, aus der besagtes Vorwort wegblieb, geschah das Sonderbare, daß die Kritik mich wegen der endlichen Entfernung des störenden »Bruches« belobte, in Wahrheit war jedoch der Text – photographiert!

Die sieben Jahre zwischen dem Tode Edgars und dem letzten Zucken des Lämpchens sind die dunkelsten meines Lebens gewesen. Ein stetes Umherziehen von Pension zu Pension, von möblierter Wohnung zu möblierter Wohnung, von Italien nach Deutschland und umgekehrt. Das war noch ganz anders 475 als zur Zeit, wo ich allein den Fluch des Unbehaustseins kostete, aber doch das liebste Haupt geborgen wußte. Jetzt konnte jede Schädlichkeit zum Verhängnis werden, jede schlecht gekochte Speise oder ein zu kaltes Zimmer. Es gab auch Häuser, wo man ein so gebrechliches Alter überhaupt nicht mehr aufnehmen wollte. Dann kamen die Krisen, wobei es jedesmal die Frage war, ob das Herz die Stöße noch einmal überstehen würde. Es kamen die langen Nächte, wo ich neben ihrem Bette kniend in den verkrampftesten Stellungen ihren Puls hielt und ihre Atemzüge überwachte. Glücklich, wer das wachsende Leben betreut, sei es auch in Todesgefahr, aber wissen, daß es unabwendbar abwärts geht, daß jede Besserung nur ein kurzer Aufschub des Letzten sein kann, das ist auf die Länge schlimmer als das Letzte selbst. Meine Seele fror im Gedanken an den kalten Abgrund jenseits der Liebe, der mich erwartete. Ich war ja so einsam geworden, weil ich schon längst gar keine Zeit mehr hatte für andere Mitlebende. Einmal in Forte hatte ich einen Traum. Die Erde war ausgestorben, stumm, ohne Wärme, ohne Licht, ohne ein einziges grünes Hälmchen, ohne einen Vogellaut. Ich war der letzte Mensch auf dem vereisten Planeten; auf geneigter Fläche glitt ich über den ewigen Schnee hinab zwischen weißen Schneewänden, einsam wie es niemand je zuvor gewesen. Auch als sich noch ein anderes menschliches Wesen herzufand, dessen Gesicht mir nicht erkennbar war, änderte das nichts an meiner Einsamkeit. An dem völlig weißen Schneehimmel sah ich eine blasse, runde Scheibe, den Mond. Ich wollte mich freuen, daß er noch da sei, da rollte er sich wie ein Fladen zusammen und fiel in weißen Schneefetzen herunter. Jetzt ist auch der Mond gestorben, 476 sagte ich hoffnungslos. Da öffnete sich in der Schneewand zu meiner Linken eine Nische wie ein Tabernakel, ein weibliches Bildnis bog sich bis zu halbem Leibe heraus – meine Mutter! Vom Übermaß der Erschütterung erwachte ich. Sie lebte damals noch und schlief im Nebenzimmer; ich konnte mir sagen, daß die Vereisung des Planeten noch einige Zeit für mich hinausgeschoben war. Aber festen Fuß faßte ich nicht mehr auf der Erde.

Und die Welt wurde leer und leerer. Wenn ein erster Verlust das Leben eines Menschen erschüttert, so scharen sich die Freunde enger um ihn, alle Wohlgesinnten treten herzu, daß er die Lücke minder schwer empfinde. Wenn aber das Unheil weiter nur und weitergeht, wenn das Schicksal immer aufs neue in die Kerbe haut, daß der Getroffene wie gezeichnet steht, dann wenden sich leicht die Herzen der Menschen. Die Schwachen, die Flauen fallen ab, und die Verwöhnten holen sich aus ihrer Geborgenheit heraus das Recht, sich über den Glückverlassenen zu erheben. Damals brachen Freundschaften. Was bricht, das breche. Wer in dieser Not meinem Herzen nicht naheblieb, fiel für immer aus meinem Leben. Küchentöpfe kann man kitten, ein edles Glas von Murano nicht. Vorübergehend verzerrte sich mir das Gesicht der Welt. Ich trug eine innerliche schreckliche Vision mit mir – war's Dichtung, die werden wollte, oder war's kommendes Weltgeschick, das noch tief unter dem Horizonte stand? – ich erlebte in mir Krieg und Flucht und Verfolgung; zwei Frauen, eine von ihnen alt und gebrechlich, die von Haus und Heimat vertrieben, ohne Ziel von Ort zu Ort irren, und zuletzt in einer Zone von Verwüstung irgendwo am Wegrand vergehen. Andere 477 Male waren es zwei Schwestern, Perdita und Peregrina, die der Schicksalssturm durch die Welt warf. Jahrelang gingen diese beiden Schemen in wechselnden Gestalten, blutlos, denn ich konnte sie nicht nähren, neben der traurigen Wirklichkeit: es war die alte Leidverwandlung, die auf luftigere Schultern abzuladen strebte, wofür die eigenen nicht mehr ausreichten. Was mir trotz allem den Mut nicht völlig sinken ließ, war, daß die geliebte Last gar keine Erdenschwere hatte, daß sie auch in den ärgsten Krisen ihre strahlende Laune und die Frische ihres Geistes nicht verlor, die zwei unzerstörbaren Merkmale der Feenkinder.

Damals schloß ich mit dem Schicksal einen Pakt, daß es mir dieses letzte Beste, um das ich schon soviel geopfert hatte, lassen müsse, solange ich es mit dem klammernden, durch nichts zu lockernden Liebeswillen festzuhalten vermöchte. Ich glaubte an solche Wunder der Seelenkraft, und auch die Mären der Völker wußten davon. Daß der Webstuhl stillstehen mußte, war der schwerste Verzicht, aber da war nichts zu retten, denn wenn ich die schaurige Kälte, vor der ich mich immer am meisten fürchtete, in mein Herz eindringen ließ, so mußte mein Schaffen ja doch mit erfrieren, weil es aus meinem eigenen Leben seine Wärme zog.

Auch diese hoffnungslosen Jahre waren dann und wann von hellen Lichtern durchstrahlt. Noch flossen die Sommer golden über den Glücksstrand von Forte und brachten je und je einen Stillstand in den Abbau des geliebten Lebens. Und die dortigen Freunde blieben treu; allen voran Vanzetti, der, wo es anging, seine Schultern unterschob, und Hildebrand, der niemals wechselte. Und so kam auch wieder einmal ein Herbst 478 am stillgewordenen Strande, wo mir in der karg bemessenen Zeit eine rein dichterische Gestaltung reifte.

Schon seit dem Poggio Imperiale trug ich einen Lieblingsstoff mit mir, über den ich des öfteren, ganz gegen meine Gewohnheit, mit meinen Nächsten sprach. Ich hatte von je die altjüdische Sage von Lilith, Adams erster Frau, als von einem bösen dämonischen Wesen, das sich aus Hoffahrt mit dem Manne nicht vertrug und nach einem Zwist, ein Verzauberungswort aussprechend, ihm entflog, um fortan in Klüften und Höhlen als gefährlicher, männernauflauernder, männerkraftzerstörender Vampyr zu hausen, für eine Ungereimtheit angesehen. Warum sollte Gott, der Alleswissende, seinem Adam eine so üble Lebenskameradschaft ausgesucht haben? Und was hatte es damit auf sich, daß Lilith Flügel besaß und Adam keine? Sie sollte, hieß es, drei Dinge mit den Engeln, drei mit den Menschen gemein haben: mit den ersten das Schwingenpaar, das leichte Schweben von Ort zu Ort und die ahnende Kenntnis der Zukunft. Mit den Menschen aber das Sichernähren, Fortpflanzen und Sterben. Sollte Gott bei einer so ungleichen Verbindung nicht einen höheren Zweck im Auge gehabt haben? Lag hier nicht eine verdorbene, parteiisch gefärbte Überlieferung des frauenverachtenden alten Judentums vor, hinter der sich eine frühere edlere Gestalt verbarg? Ich forschte nach Quellen, aber alles war verschüttet, nur unter dem Namen der griechischen Ilithyia, der ja einen günstigen Dämon bezeichnet, sollte so etwas wie ein Anklang herauszuhören sein. Doch das ging mich im Grunde nichts an, ich wollte ja keine Mythenforschung treiben; um so mehr hatte ich die Freiheit, nach meiner Eingebung zu schalten. So 479 schrieb ich das Gedicht »Die Kinder der Lilith«, worin ich versuchte, die Züge der Sage zu einer Erklärung des Weltplans und seiner Widersprüche umzudeuten.

Gott war im Laufe der Äonen seiner wandellos vollkommenen Engelscharen und des ewig gleichen Ganges aller Dinge müde geworden. Jetzt lüstet ihn nach dem Unvollkommenen, nach Werden, Wachsen und Vergehen, er schafft die Pflanzenwelt und alles Getier der Erde, aber sie befriedigen nicht seine Sehnsucht nach einem Wesen, das wie er das All in der Brust trüge und würdig wäre sein Gefährte zu sein. So bildet er aus einem Erdenkloß den Menschen und gibt ihm den holdesten seiner Geister, die lichte, leichte, mit Sternen wie mit Seifenblasen spielende Lilith zur Gefährtin, daß sie mit tausend Lieblichkeiten und Launen den erdenschweren Adam zu schöpferischem Tun ansporne. Aus dem täglichen verliebten Zwist und der Wiederversöhnung der beiden entstehen die Anfänge der Kunst, und es scheint, als sollte der Mensch das Ziel der göttlichen Absicht im Fluge erreichen. Aber mit der von Gott nicht gewollten Eva tritt ihm ein Hemmnis in den Weg, das den Entwicklungsplan durchkreuzt. Als ein Stück von Adams Körper, dem er gezwungen ist, anzuhangen, zieht sie ihn in seine sinnliche Trägheit zurück und zerstört den ersten jugendholden Liebesbund. Lilith, an dem entarteten Adam verzweifelnd, entflieht, und Eden, die Stätte ihrer jungen Seligkeit, geht in Flammen auf. Der Mensch, auf die Erde verbannt, muß mit der Menschin ein sinnliches, wölfisches Geschlecht erzeugen, in dem sich Schuld und Strafe unauflöslich weiter verketten, bis der Schöpfer seinen Plan auf langen Umwegen durch die Nachkommen der Lilith doch ans Ziel 480 führt. Ihr im Paradiese geborener, durch Seraphim aufgezogener Sohn ist es, den Gott je und je in neuer Verkörperung als Führer seiner geringeren Brüder zur Erde schickt, gegen den sich aber auch die Kinder der Eva im voraus zusammenrotten: »Er ist Einer und wir sind viele«.

Ich konnte die Dichtung eben noch unter Dach bringen, bevor das irrende Leben wieder begann. Und es war hohe Zeit, denn schon hatte mein Mütterlein, dessen Ungeduld nicht warten konnte, bis mir der Augenblick reifte, begonnen, den Stoff, wie ich ihn mir umgeformt hatte, unter die Menschen zu tragen und zu seiner Bearbeitung anzuregen. Sie hatte sich sogar schon selber in ihrer feurigen Art daran versucht, wenn auch in anderem Sinne als dem von mir geplanten, indem sie den Widerstreit zwischen den Liebenden als Kampf der Geschlechter um das gleiche Recht auffaßte, was an meiner Absicht nebenaus ging. Ich mußte mich also sputen, wollte ich nicht zu spät kommen und meine Erfindung durch vorangegangene fremde Bearbeitungen gar als Nachahmung gestempelt sehen. Freund Kröner, der ja ein Verleger von höherer Art war und dem Poetischen gegenüber nie versagte, nahm sich des Gedichtes mit größter Wärme an und brachte es auch gleich in ansprechender, nicht veraltender Ausstattung heraus.

Aber ich hatte wieder einmal ahnungslos in ein Wespennest gestochen. Ich wußte ja gar nicht, daß die Wespen der rückständigen Männlichkeit noch soviel Gift in ihren Stacheln hatten. Die männliche Bequemlichkeit, die in dem Evastyp über Küche und Alkoven ihre Bedürfnisse erfüllt sah, schnob vor Entrüstung; meine erstaunten Ohren konnten sogar aus sonst verständigem Munde die Behauptung hören, daß es gerade 481 die dumpfe, erdgebundene Frau sei, die den Mann zum größten Aufschwung beflügle, – schauerlicher Irrtum gleich dem des Alkoholikers, der zu schweben glaubt, während er taumelt. Andere zeigten sich beleidigt, da für sie doch ein für allemal das »Er soll dein Herr sein« zu gelten hatte. So wenig war noch in den Durchschnittsgehirnen der Sinn für Nietzsches »Übersichhinaufbauen« gereift. Ein Schulmann, der als Kritiker Ansehen genoß, schrieb in hämischem Tone eine von unbegreiflichen Gehässigkeiten strotzende Besprechung. Ein großes Blatt, das eben erst aus bedeutender Frauenfeder eine warme Anzeige gebracht hatte, fiel um und druckte nun diese, »damit auch eine andere Stimme zu Wort komme«. Der dem Buch zugefügte Schaden wurde noch größer durch den Umstand, daß auch Heyse sich mit leidenschaftlicher Heftigkeit dagegen wandte. Er hatte selbst in seinen »Mythen und Märchen« eine ganz im alten Sinne des Talmud gefaßte »Lilith« gedichtet, Spätling einer müde gewordenen Feder, aber ihm vielleicht gerade deshalb besonders ans Herz gewachsen; so konnte er nicht wohl unbefangen urteilen. Er erklärte die Poesie für nicht berechtigt, eine Sagengestalt in ihr völliges Gegenteil umzudeuten, was sich durch den bloßen Hinweis auf Euripides widerlegen ließ, der es hatte wagen dürfen, seinen Griechen die Ehebrecherin Helena als ein Muster der Gattentreue vorzuführen. Mein Rückschluß aus der »Frau Venus« als mittelalterlicher Teufelinne auf eine ähnliche Verzerrung der Lilith ins Dämonische goß nur Öl ins Feuer, weil man damals nicht gewohnt war, festgestellte Männermeinungen durch eine Frau sachlich widerlegen zu hören. Diese Gegnerschaften gereichten dem Buch zum dauernden Schaden, 482 den auch der größte private Beifall zuständiger Richter nicht ausgleichen konnte, denn was sich zu seinen Gunsten in der Öffentlichkeit regen wollte, wurde abgeblasen und das Gedicht dem Totschweigen überantwortet.

Ich hatte keine Zeit mich über das böse Schicksal eines meiner Lieblingskinder zu härmen, denn gleich setzte der kalte Sturmwind meines Lebens, der mich unaufhörlich in meinem Inferno umhertrieb, wieder ein. Wer je erfahren hat, was es heißt, an jedem Morgen beim Erwachen nach dem Nachbarbett hinüberzuhorchen, ob der geliebteste Mund noch atme oder ob die Stille, die eben von dort herüberweht, schon die letzte sei, wird mich verstehen.

So wurden die »Kinder der Lilith« die letzte größere Arbeit, die ich zu Lebzeiten meines Mütterleins fertigbrachte, abgesehen von den »Florentinischen Erinnerungen«, die ein Jahr später erschienen, aber zum größeren Teil schon früher in der glücklichen Via de' Bardi geschrieben waren. Auch entstand noch ab und zu in Pausen der Krankheit etwas Kürzeres, aber ich war doch wie ein Schwimmer, der nur einen Arm gebrauchen kann, weil den anderen eine geliebte Last an der Bewegung hindert. Daß ich nur unter dem unmittelbaren Zwang der Eingebung schreiben konnte, machte jede gewollte Ausschlachtung der erlangten Gewandtheit, die notwendig den Druck des Augenblicks hätte zeigen müssen, unmöglich. Das war in jedem höheren Sinne mein Glück: »es hasset der sinnende Gott unzeitiges Wachstum«. Aber es stellte mein Dasein auf immer schmalere Basis, und kaum waren noch die Mittel dafür zu erschwingen. Nur dann und wann in ihrem letzten Lebensjahr gab es bei vorübergehendem Stillstand des 483 Leidens, das, wie ich glaube, von den Ärzten nicht richtig gedeutet war, einen flüchtigen Freudenschimmer wie ein paar Goethetage in Weimar oder eine Dolomitenwanderung mit Weltrich. Das zeitigte schnell nacheinander zwei Novellen, die noch einmal aus dem Vollen geschöpft waren, der »Strahlende Held« und die »Allegria«. Daß ich sie ihr noch vorlesen durfte und sie damit in eine neue Jugendspannung zurückversetzen, war die letzte große Freude unseres Zusammenlebens. Von der »Allegria«, die sie an allerlei Miterlebtes erinnerte, wollte ich den Schluß nicht mehr lesen, weil es traurig ende. Ihre Antwort, das Traurige sei ja eben das Schöne, zeigte mir wieder einmal ganz, wie tief sie in allem Dichterischen zu Hause war.

Sie wohnte um jene Zeit bei Erwin in München und ich im Erdgeschoß eines Nachbarhauses, so daß ich immer zu ihr konnte und sie zu mir. Nur während ich an den zwei Novellen schrieb, brauchte ich mehr Zeit für mich. Das war ihr unnatürlich, denn es zog sie wie mit Ketten herüber; ihre klagenden Zettel die zu mir flogen zerrissen mir das Herz. Noch immer lief sie wie im Flug ihre drei hohen steilen Treppen herunter zu mir ins Nachbarhaus, sobald die vorübergehende Sperre aufgehoben wurde, und war jedesmal früher da als verabredet. Ihr Morgenbesuch an meinem letzten Geburtstag, den sie erlebte, war das Rührendste was sich denken ließ. Sie hatte noch immer die Gewohnheit beibehalten, mich an diesem Tag mit einem brennenden Weihnachtsbäumchen aus dem Schlaf zu wecken. Das Bäumchen war im Lauf der Jahre kleiner und kleiner geworden, diesmal war es nur noch ein in den Topf gesetztes Tannenreis mit ein paar armen 484 Wachslichtern darauf, aber in diesen brannte die ganze unendliche Liebe einer Mutter.

In dieser Zeit der abnehmenden Körperkraft muß sie die Erkenntnis mit Schrecken durchdrungen haben, in welcher Vereinsamung ich zurückblieb, nachdem ich alle die Jahre her, fast ganz vom Verkehr abgeschnitten und jeder anderen Bindung beraubt, nur noch für sie gelebt hatte. Ohne mein Wissen begann sie nach allen Seiten Briefe zu schreiben, die Vertrauenswertesten unter den Freunden auf mich zu vereidigen, um einen Schutzwall von Liebe und Treue um mich aufzurichten für die Zeit, wo sie nicht mehr sein würde. »Denke nicht mehr an mich, ich bin deine Vergangenheit«, schrieb sie einmal im letzten Herbst ihres Lebens, als ich mich vorübergehend bei einer Freundin auf dem Lande aufhielt. Was mag ihr ein solches Wort gekostet haben. Jene irrten, die mich nachmals ermahnten, ihr die so sehr ersehnte Ruhe zu gönnen: nur in der gefaßten Stärke ihres Gedankens trug sie den Tod mit sich und äußerte sich so auch in Briefen, ihr Gefühl stieß ihn immer aus, denn solche Lebensfülle hat keine wahre Gemeinschaft mit dem Nichtmehrsein. Im Kreis der Enkel war sie noch immer die Jüngste und Lachendste. Und wenn Thole sie auf der Treppe traf, so pflegte er sie festzuhalten, damit sie »zur Schonung seiner Lunge« die Stufen langsamer nehme. Gegen das Frühjahr wurde eine Wohnung im Hause frei, die ich mietete und mit einigen geliehenen Möbelstücken ausstattete, denn mein eigener Hausrat moderte schon im siebten Jahr in dem Gartenpavillon, wo ich ihn bei Freunden in Florenz untergestellt hatte. In dieser Wohnung sollte sich das Letzte erfüllen. Die Frühjahrsstürme Münchens, die ihr so 485 schrecklich waren, nahmen ihr durch die Wände hindurch den Atem, sie saß Nächte lang nach Luft ringend und ich sie im Arm haltend, ihr den Rücken reibend, ihr Sauerstoff zuführend. Das waren Jammernächte. Nun kam die Unruhe der Scheidenden über sie, vermischt mit dem Drang nach dem geliebten südlichen Land, wo sie dreiunddreißig Jahre lang gelebt hatte und wo drei ihrer Söhne schon den langen Schlaf schliefen. Dorthin wollte sie jetzt mit aller Kraft ihrer Seele, sich zu ihnen legen. Welches Fegefeuer eine solche Reise ins Sterben für mich gewesen wäre, stellte sie sich nicht vor; wir besaßen ja in Florenz keine Heimstatt mehr, und wo mag man Gäste aufnehmen, die mit solcher Aussicht kommen? Einzig Forte de' Marmi konnte noch einmal das Reiseziel sein, aber auch nur, wenn der Strand von den Sommergästen bewohnt war und der ärztliche Freund uns nahe, denn sonst gab es keine Hilfe dort, und zu jener Zeit noch nicht einmal eine richtige Apotheke. Die Kranke mußte sich also auf den Frühsommer vertrösten lassen, und ich begann auch wirklich noch einmal die vorläufigen Anstalten zu treffen. Ich hielt mich noch immer an dem Pakt, den ich mit dem Schicksal geschlossen hatte, fest: daß sie nicht sterben dürfe noch könne, solange ich mich mit meiner ganzen Seelenkraft dagegen zu setzen vermöchte. Es mag wie ein Wahnsinn klingen – vielleicht war in jenen Tagen etwas Wahnsinn dabei. Das Wesen verlieren zu sollen, in dessen Liebe man vom ersten Atemzug wie im warmen Kinderbad gelegen hatte. Es war so hold, noch immer Kind zu sein und zur Mutter ein Wesen zu haben, das fast nicht irdisch war, das einem anderen, geheimnisvollen Reiche anzugehören schien. Sie wußte alles, ich wußte es ebenfalls, aber wir taten, 486 als wüßten wir nichts, scherzten und lachten zusammen wie Kinder. Es war wie ein Spielen mit dem Tod, er spielte mit, freundlich, denn er ließ noch Zeit, aber er war zugegen. Zugleich waren auch alle die ernsten und großen Dinge noch da, mit denen sie sich zu beschäftigen pflegte. Während der Körper mehr und mehr schwand, glühte der Geist weiter, er strahlte mit fast unwahrscheinlichem Glanz aus den Augen und lag in einem unbeschreiblichen Lächeln um ihren Mund. – Ein unbewußter, tief unschuldiger Mensch, ohne Schwere wie Luft und Raum! und so ist sie in mir geblieben. Möchte ich einmal den gleichen Nachruhm hinterlassen, denen die mich umgaben, Luft und Raum gewesen zu sein!

Aber das letzte Ringen war furchtbar. Es war wie ein verzweifelter körperlicher Widerstand im Unbewußten gegen die hereinbrechende Übergewalt. Wie lange es noch dauerte, weiß ich nicht, ich hatte zuletzt die Zeitbegriffe verloren. Ihre in meinem Mutterbüchlein dargestellte letzte Lebenszeit ist die von ihr selbst gelebte, die schönere, denn sie sah ja nicht hinter die Kulisse, wo meine seelische und leibliche Not sich verbarg; die steten herzensbangen Nachtwachen, und daß ich kaum noch ins Freie oder zu warmer Nahrung kam, hatten mich gänzlich ausgeschöpft. Ich hatte am Ende keinen Blutstropfen mehr im Gesicht und kämpfte stündlich mit dem Schwindel. Ich mußte fürchten selber bewußtlos niederzubrechen, in die Klinik gebracht zu werden und bei meiner Rückkunft den Platz neben mir leer zu finden. Da lockerte ich halb bewußt die gewaltige Willensanspannung, mit der ich sie noch immer hielt, damit ihr nicht das Schwerste zustieße, ohne mich ihren letzten Kampf auszukämpfen. Sobald ich aber wieder Kräfte 487 fühlte, war es auch nur durch ein paar Stunden Schlaf, so suchte ich sie abermals auf das hinsterbende Leben zu übertragen. Doch das Spiel war am Ende. Nach einer schrecklichen Nacht, wo die Lebenskraft noch einmal gewaltsam durchbrach, daß sie sich in meinen Armen wand und rang, wie um sich das Irdische vom Leibe zu ziehen, kam der Augenblick, wo sie aus tiefem Morphiumschlaf in den ewigen hinüberschlief. Ich erlebte diesen Augenblick nicht mehr mit wachen Sinnen, denn ich lag selber im Betäubungsschlaf.

 

Unter den Freunden, die meine arme Mutter in ihren letzten Monaten aufgerufen hatte, damit sie mir beistünden, war Einer, der dieses Rufes nicht bedurfte, weil er nie einen höheren Wunsch gekannt hatte als mir nahe zu sein: Ernst Mohl, der Freund meiner frühen Tübinger Tage. Er hing auch an meiner Mutter mit der tiefen Zärtlichkeit eines Sohnes. Seit vierzig Jahren in Rußland lehrend, zuletzt als geadelter russischer Staatsrat an einer zarischen Hochschule in Petersburg, war er mit dem Herzen immer dem Gefühl seiner ersten Jugend treugeblieben, auch während wir in Italien lebend durch mehr als nur räumliche Ferne von ihm geschieden waren. Und er hatte schon lange mit seiner deutschrussischen Gattin, die seinem Herzenswunsch nicht entgegen sein wollte, verabredet, daß er, sobald seine für das Ruhegehalt nötige Dienstzeit abgelaufen wäre, den Abschied nehmen und mit ihr nach München ziehen würde, damit sie in einem gemeinsamen Haushalt mir die Sorgen des Alltags abnehmen und er sich mit mir in die Pflege der Mutter teilen könne. Unterdessen war er Witwer geworden, und als er erfuhr, wie es bei uns 488 stand, säumte er nicht länger. Da er nur noch für sich selbst zu sorgen hatte, ließ er die größere Rente fahren, auf die er binnen kurzem Anspruch gehabt hätte, kündigte augenblicklich seinen Posten und löste seinen Haushalt auf, um mir zu Hilfe zu eilen und meine Mutter noch einmal zu sehen. Sie wußte, daß er über alle Hindernisse hinweg zu uns eilen würde, und dieses Wissen erleichterte ihr das Scheiden. Er kam gerade in ihrer letzten schweren Nacht und saß bis zum Morgen wartend, ob ich ihn riefe. Aber er sollte sie nicht mehr lebend sehen, denn ihr Geist war schon fern und hätte ihn nicht mehr erkannt.

In diesem Freund hatte mir das Schicksal einen Ausgleich für die Verluste und Enttäuschungen meines Lebens von lange her aufgespart. Aber ich konnte es noch nicht verstehen. Mein Inneres war für Leid und Freude tot, ich spürte nichts mehr als eine ungeheuere Leere. Ich glitt wie ein Schatten über den Erdboden hin, den meine Füße nicht mehr erreichten, weil ich mit der Wurzel herausgezogen war. Der Freund umsorgte mich aus zartgefühltem Abstand und wartete, wann er mir um ein Kleines mehr sein dürfte. Ein freundlicher Zufall hatte es gefügt, daß gerade bei seiner Ankunft aus Rußland eine angenehme sonnige Wohnung im gleichen Hause, ein Stockwerk tiefer als die meinige, frei wurde. Diese bezog er und richtete sie ein mit dem Sinn für das Traulich-Häusliche, den er aus seinem heimischen Pfarrhaus mitgebracht und auch inmitten der sogenannten »Breiten Natur« des damaligen Russentums sich bewahrt hatte, – ein lieber Freundschaftswinkel für die kommenden Weltstürme. Aber damals glitt ich achtlos an allem vorüber. So sehe ich mich schattenhaft unbeteiligt neben 489 teuren Freunden durch die Brunnenanlagen und Parkwege von Karlsbad wandeln, wohin sie mich vom Sterbehaus weggeholt hatten, sehe mich mit Erwin und seiner Familie die Felsenstufen von Stubbenkammer erklettern und auf der Spitze von Arkona dem Swantewit in seinem Tempel einen Besuch abstatten und wenige Wochen später mit einer Freizügigkeit, wie sie nur der genießt, der nirgends hingehört, über den Rollepaß in dem Dolomitendorf San Martino di Castrozza einfahren. Dort wartete der italienische Freund auf mich, um gemeinsam ein paar Besteigungen auszuführen, wie sie mir früher schon einmal heilsam gewesen und von denen er annahm, daß sie mich wieder aus der Erstarrung erwecken müßten. Es kam auch so, daß in der ungeheuren Größe der Bergwelt, bei den kristallenen Wundergärten des Eises unter der herbstlich gemilderten Südsonne und im kalten Glanz der Sternennächte die in sieben schweren Notjahren tiefhinabgedrückten inneren Sprungfedern sich wieder aufrichteten und mich an der Umwelt teilnehmen ließen. Ich machte landschaftliche Aufzeichnungen für den vorlängst geplanten, aber nicht begonnenen Dolomitenroman »Der Caliban«, der danach noch lange Zeit im Limbo der Ungeborenen wohnen sollte. Und endlich sehe ich mich wieder in Forte in einer noch warmen Novembernacht damit beschäftigt, im Vorgarten meines Hauses einen Holzstoß aus harzduftenden Scheitern und prasselnden Lorbeerzweigen zu entzünden, damit der letzte unerfüllbare Herzenswunsch der Geschiedenen, dem geliebtesten ihrer Söhne in dem Land ihrer Liebe in die Flammen zu folgen, doch im Symbol noch erfüllt würde. Eine stille unvergeßliche Feier, mit Vanzettis und des halbblinden Armando Hilfe 490 aus dem Tiefsten ihrer eigenen Seele heraus für sie im Angesicht des rauschenden Meeres vollzogen und später mitten unter dem Schrecken des Weltkriegs zum bleibenden Gedächtnis in die fügsame Masse des Wortes geprägt.

– – Die starre Pania, Hochsitz der Gewitter,
Stand geisterhaft in ihres Marmors Glasten,
Es wetterleuchtete in der blauen Nacht
Um ihre Stirn, doch ihre Flanke trug
Zwei stille Feuer, große wache Augen,
Die niedersahen, Allerseelenfeuer.
Das Fest der Toten war's. Auch wir entfachten
Die Lohe hell. Und was das Haus verbarg
An Heiligtümern, Hüllen der Verblaßten,
Noch wie belebt von ihres Lebens Spur,
Das gaben wir der heiligen Natur
Zum Opfer, daß die Zeit es nicht versehre.
Zu würziger Zähre schmolzen die Zypressen,
Der Lorbeer flammte prasselnd, hochauf stieg
Der Rauch und wallte breit als schwarze Fahne
Hinaus aufs Meer. Er trug die Düfte hin
Wie Grüße der Geschiedenen. Doch die Flamme
Umwandelnd dämmte sie mit seinem Stabe
Der Freund, und wo sie allzu gierig leckte,
Ward sie gelöscht mit Güssen edlen Weins.
Und sieh, ein Anblick, nimmer zu vergessen,
Wie plötzlich tief in des Gerüstes Mitte
Ein seltsam feuriges Gebild entstand,
Gleich einem Vogel mit gebreiteter Schwinge. 491
Es sprach der Freund: Wird jetzt ihr Herz zum Aar
Des Himmels, daß es auf zum Äther dringe?
Zum Phönix, sprach ich leis. Nun sank die Glut
Zusammen. Wie ein Korb voll roter Rosen
Lag sie am Grund und glomm die Nacht hindurch.

                        (Aus »Jenseits des Blutstroms«, 1915) 492

 


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