Hermann Kurz
Denk- und Glaubwürdigkeiten – Jugenderinnerungen – Abenteuer in der Heimat
Hermann Kurz

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7.

Einen anderen und stärkeren Antrieb zum Geisterglauben, als den Gewinn einer schnurrigen Geschichte, hatte ein gewisser Freund, den ich zu den ziemlich dicken rechnen darf. Dieser pflegte förmlich auf die Geister Jagd zu machen – aus Unsterblichkeitsbedürfnis. Ihm wäre mit der Doktrin von der Seelenverknöcherung schlecht gedient gewesen, denn eine solche Knorpelbildung würde mehr für das Diesseits als für das Jenseits gezeugt und somit eine elende Bürgschaft für die persönliche Fortdauer im höheren Sinne abgegeben haben. Zwar glaubte er felsenfest an diese, aber man weiß ja, der Glaube hat keine Ruhe, er sehnt sich immer nach Beweisen.

So war denn unserem Freunde kein Weg zu weit und keine Nacht zu finster, wenn ihm verkundschaftet wurde, daß »einer« auf dieser Heide »laufe« oder an jenem Waldeck »schwebe«. Ich bin mehrmals mit ihm auf die Gespensterjagd gegangen, nicht weil ich dabei die Unsterblichkeit auf dem Korn hatte, auch nicht etwa weil ich die Seelenleberverhärtung unter das Seziermesser zu nehmen wünschte, sondern aus freundschaftlicher Teilnahme. Wir sind aber jederzeit ohne Weidmanns Heil nach Hause gekommen, was mich eben nicht verdroß.

Einmal in einer Neujahrsnacht zog ich mit ihm und ein paar anderen guten Gesellen nach einem öden Steinbruche, wo es spuken sollte. Während die übrige Menschheit sich beim Jahresabschiede gütlich tat, tappten wir uneigennützige Forscher – so kann ich wenigstens das Gefolge im vollsten Sinn des Wortes nennen – in der äußersten Finsternis und mit Gefahr, Hals und Bein zu brechen, die schlimmsten Pfade auf und ab, um unserem Ungeduldigen zu dem gewünschten Solawechsel auf die Ewigkeit zu verhelfen. »Alles wieder vergebens!« seufzte er zuletzt, nachdem wir die ganze Örtlichkeit ohne Erfolg durchstöbert hatten; da, siehe, im gleichen Augenblick loderte eine blaue Flamme unmittelbar zu seinen Füßen empor. »Ich hab' ihn!« rief er gierig und warf sich mit ausgebreiteten Händen auf die Erscheinung, wie man tut, wenn man einen Schmetterling am Boden haschen will. Aber die Flamme erlosch, und der Geruch von Kunstfeuerwerk, der ihr folgte, verriet alsbald, daß ein mutwilliges Mitglied der Gesellschaft mit gewandter Hand eine bengalische Täuschung hervorgezaubert hatte. Wir kamen noch eben recht zur Silvesterbowle heim, bei der wir es uns zur angenehmen Pflicht machten, den unbefangenen Mut unseres Geisternimrod, der ohne Stutzen und Grausen die andere Welt am Fittich gefaßt hätte, mit gebührendem Gläserklange zu ehren.

»Auf die Fortdauer der Persönlichkeit, ohne die es nicht der Mühe wert wäre, hienieden zu leben!« erwiderte er mit uns anstoßend.

Wir taten ihm gerne Bescheid. »Es ist jetzt nicht die Stunde zu metaphysischen Kontroversen«, bemerkte sodann einer von der Gesellschaft, »ich will daher die Frage selbst ruhen lassen, aber, ist es denn auch wirklich ein so großes Glück um die Unsterblichkeit, daß sie uns wünschenswert erscheinen sollte?«

»Wie?« rief unser Freund, »und sollte es den Guten nicht wünschenswert sein, drüben den Lohn zu empfangen, der ihnen diesseits meist vom Schicksal verkümmert, von den Menschen unterschlagen wird?«

»Die Auffassung ist nicht ganz uneigennützig,« bemerkte der andere. »Indessen, wie dem sein möge, die Seligkeit dürfte denn doch gar sehr getrübt werden durch das Herniederschauen auf die Hinterbliebenen, die gleichfalls vom Schicksal verfolgt, von den Menschen mißhandelt werden. Denke ich mir vollends Eltern, welche, um den stärksten Fall zu setzen, zusehen müssen, wie ihre verlassenen Kinder hilflos durch die Welt irren, im Elend verwildert, zu schrecklichen Entschlüssen geführt, so muß ich in der persönlichen Fortdauer, besonders für ein Mutterherz, eher eine Strafe als einen Lohn erkennen, und zwar eine Strafe, die man, mitten unter den himmlischen Freuden, den Höllenstrafen gleich achten darf.«

»Es ist aber,« wurde eingewendet, »ein reinerer Zustand möglich, denkbar wenigstens, worin dem Abgeschiedenen das Weh der Erde verborgen bleibt.«

»Das wäre ein sehr unzureichendes Auskunftsmittel,« entgegnete der Redner. »Um bei dem Gleichnis von den Eltern stehen zu bleiben, so würden sie mir in diesem Falle über dem Genusse der ewigen Seligkeit entweder nicht besser vorkommen, als so manche irdische Eltern, die dem Vergnügen auf Bällen und Lustbarkeiten nachziehend ihre Kinder in fremden Händen verwahrlosen lassen, oder nicht glücklicher als Eltern, die durch eine traurige Fügung von den Ihrigen verschlagen sich in Angst um das unbekannte Los derselben verzehren. Da würde also eine Hauptbedingung der Glückseligkeit, die doch körperlosen Geistern vorzugsweise unentbehrlich sein müßte, die innere Freude und Ruhe nämlich, fehlen.«

»Welche Bedenken!« rief der Kämpe der Unsterblichkeit. »In jenen seligen Gefilden übersehen wir das Ganze des Weltlaufs, dort lösen sich dem erschlossenen Auge die scheinbaren Widersprüche, die Rätsel, Wirrnisse und Trübsale des Menschengeschickes, dort werden wir, wenn der Ausdruck noch erlaubt ist, den göttlichen Ratschluß verstehen lernen, der aus dem Dunkeln ins Helle, durch das Übel zum Guten führt.«

»Damit ist nicht viel gewonnen,« erwiderte der Gegner. »Unsereiner wird's dort drüben doch schwerlich weiter bringen, als hier schon die Frömmsten der Frommen, und wenn diese bei schweren Schicksalsschlägen sich nicht enthalten können, dem »unerforschlichen Gott,« wie sie ihn dann, mit aufgehobenem Finger gleichsam, anreden, ein in ein »Warum?« gehülltes konstitutionell-loyales Tadelsvotum auszusprechen, so würden auch wir im himmlischen Schauspielsaale als Zuschauer der Welttragödie die kritische Frage nicht zu unterdrücken vermögen, ob denn das Stück nicht auch ohne die vielen Grausamkeiten durchzuführen wäre, ob denn die Führung der Völker nur durch Blut und Tränen möglich sei, ob der Triumph der Gewalt und Ungerechtigkeit, der Verrat am Edelsten, und, was ärger ist als alles physische Übel, die Seelenfolter, die geistige Verzweiflung unvermeidlich in den Weltplan gehören.«

»Wenn aber diese Übel notwendig und diese Notwendigkeiten gut sind?«

»Das ist ja eben der Jammer! Ich mag das noch so sehr glauben, oder glauben müssen, so bin ich damit um nichts besser dran. Wenn ich auf Erden hier, wo Gott vor sei, einem meiner Lieben eine grausame Operation und schreckliche Verstümmlung angetan sähe, so könnte ich mich, bei aller Einsicht in die Notwendigkeit und Heilsamkeit, so weit nämlich Krüppelei heilsam ist, gewiß nicht sonderlich freuen. Drüben aber wäre es ganz der gleiche Fall, nur unendlich erweitert, denn als ein vollkommeneres Wesen, viel reiner und inniger fühlend, müßte ich ja, weit über die mehr oder minder egoistische Teilnahme an meinem engeren Kreise hinaus, allen Jammer des Universums von den höchsten Geistesschmerzen bis zu den Windungen des zertretenen Wurmes mitempfinden, müßte also unrettbar dem Weltschmerz verfallen, den wir mit Recht hienieden aus unserem Denken und Dichten verbannen, der aber wohl einer geläuterten Gestalt fähig sein mag, als Keim einer neuen Religion vielleicht, einer Religion des absoluten Mitleids, wie sie in den gesamten heidnischen und christlichen Religionsformen nicht dagewesen, wenn auch etwa hie und dort angedeutet ist.«

»Auf was für Grillen kommt man nicht, wenn man von einer falschen Voraussetzung ausgeht! Drüben brauchen wir kein Mitleid mehr, da sind alle irdischen Leidenschaften abgestreift, und der beschränkte Maßstab menschlicher Eintagsweisheit bleibt diesseits des Grabes zurück.«

»Das heißt mit anderen Worten: es wird eine Zwiebelhaut um die andere abgeschält, bis von der Zwiebel selbst zuletzt gar nichts mehr übrig ist. Die gröberen Leidenschaften will ich gerne der Verwesung übergeben; wenn aber auch die feineren und edleren den Würmern verbleiben, alle die Nahrungsstoffe des Feuers, das in jedem einzelnen gerade so und nicht anders brennt und ihn unbefriedigt und ruhelos an der Befreiung und Verschönerung des Menschenlebens arbeiten heißt, wenn der Schmerz über das unendliche Weh der Welt, der seine Berechtigung einfach in unserem Dasein hat, und der mit dem Schwinden des abstumpfenden Leichtsinns, mit dem Versiegen der mildernden Träne nur um so tiefer werden müßte, wenn die innige Teilnahme am Lose geliebter Wesen, wenn das alles uns nicht hinüber begleitet, was wäre dann der Rest? Entweder das Nichts oder etwa ein Fortdämmern im All, ohne Erinnerung, ohne Bewußtsein, jedenfalls ohne Mitgefühl für die verlassene Heimat, als ob sie keine Stätte des Geistes wäre, ein Zuschauen, wenn's hoch kommt, des kaltlächelnden Sternes, der gelassen auf das Elend von Tausenden scheint. Nennt mir das eher alles andere, als eine Fortdauer der Persönlichkeit. Freilich verlassen uns die Leidenschaften, und gerade die edleren, oft mit zunehmendem Alter schon, die Persönlichkeit entblättert sich gleichsam auf langem Lebenswege, und das läßt uns schließen, was das Ende sein mag.«

»Genug!« rief ein anderer. »Lassen wir das dunkle Jenseits, und halten uns an das Wort, das unser Freund, der Dichter des Alexander, seinen jugendvollen Helden in diesem Falle sprechen läßt:

Füllen wir indes
Mit unvergänglichem Gehalt dies Leben,
Dann komme was da will.«Ludwig Bauer, Schriften, Seite 50.

Alle erhoben die Gläser und stießen, wenn auch nicht gerade auf das Vollbringen, doch auf den Vorsatz und den guten Willen an.

Freund Himmelsstürmer wollte jedoch seine Fahne behaupten. »Nicht alle Zwiebelhäute gehen ab,« rief er, »es bleibt ein Kern zurück, nicht die ganze Flamme erstirbt, sie reinigt sich nur vom Rauch –«

»Halt ein!« unterbrach ihn ein lustiger Rat, der das Disputieren satt hatte, »mich dünkt, der Punsch räuchelt ohnehin schon ein wenig, und wenn er auch noch vollends beharrlich in Gefahr gebracht wird, nach Zwiebeln zu schmecken, dann wehe mir, Alhama!«

»Vertagen wir also den platonischen Dialog,« erwiderte er lachend. Doch gab er sich noch nicht ganz zufrieden, sondern wendete sich zu mir und belobte den Eifer, mit dem ich ihm Jagdgenossenschaft geleistet, wobei er zu verstehen gab, daß dergleichen wohl nicht ganz ohne Neigung und Glauben geschehen sein könne, ja gar vielleicht gewisse Erfahrungen im Hintergrunde stecken.

Ich verwahrte mich. »Ich bin nur ein Feiertagskind,« sagte ich. »Nicht einmal meine unbekannte Zukünftige hat mich bis jetzt zu sich auf die Vorschau entrückt. Am Reich der Schatten anzuklopfen habe ich außer unseren Streifzügen wenig Beruf gespürt, und noch weniger hat mir dasselbe Veranlassung gegeben, ihm ein Herein! zuzurufen. Zwar gehe ich gern mit abgeschiedenen Geistern um, aber ich kann dabei des Stechblicks entraten, denn teils läßt mir die Erinnerung ihre Gestalten aufsteigen, teils sind die Beschwörungsformeln, deren ich mich zum Geisterverkehr bediene, jedem zugänglich, der sich durch das Alphabet so weit durchgeschlagen hat, um die Errungenschaften genießen zu können, die ihm durch die gesegnetste aller schwarzen Künste bereitet sind. Und dennoch,« setzte ich hinzu, »kann ich Geister beschwören, die der Acheron besser verschlingt.«

»Rezensentengeister?« fragte einer spöttisch, auf das Schicksal anspielend, das einem armen kleinen Bündchen Gedichte – leibliche Kinder diesmal – rauh und kalt in den Weg getreten war.

»Nein, o nein! Es sind zwei wirkliche Gespenster, die ich wohin getragen habe.«

»Unsinn! In einem Steinbruch oder unter eine Glasglocke?«

»Auf eine öde Insel sind sie gebannt, die in keinem Reisehandbuch verzeichnet steht, und die niemand kennt als ich.«

»In der Südsee?«

»Nein, im Bodensee.«

»Das wäre!«

Die Gesellschaft wurde neugierig, und unser Freund rückte unwillkürlich näher, obgleich seine Hoffnung auf einen Gewinn, den er in seinem Sinn einen geistigen hätte nennen können, schwach genug sein mochte.

Was ich jetzt beichtete, das habe ich seitdem einem kleinen, aber, wie sich von selbst versteht, gewählten Kreise ebenfalls erzählt. Nachdem ich jedoch in meinem gegenwärtigen Vortrage schon einmal die Schwachheit gehabt, statt des Teufels oder wenigstens eines klassischen Autors mich selbst zu zitieren, darf ich mir diesen allen Gesetzen der Literaturwelt hohnsprechenden Unfug nicht noch einmal beigehen lassen. Ich muß daher denjenigen ehrsamen Leser, der sich etwa hieher verirren sollte, ohne jener vertrauten Minderheit anzugehören, zu meinem Leidwesen auf seine eigene Gefahr nach der aufschlußgebenden Stelle, Band X, Seite Y, Zeile Z ff., tasten lassen. Ob er sie nun findet oder nicht, – so viel kann ich ihm verraten, daß ich von der Silvestergesellschaft wegen meiner Beichte weidlich ausgelacht worden bin.


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