Hermann Kurz
Denk- und Glaubwürdigkeiten – Jugenderinnerungen – Abenteuer in der Heimat
Hermann Kurz

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Drittes Kapitel.

In meiner vermeintlich so festen Stellung nämlich fand ich mich, keines Überfalls gewärtig, mit einem Schlag auf allen Punkten alarmiert.

Der Angreifer, der mir so unversehens über den Hals kam, war nicht der Pfaffenkönig, denn auf diesen mußte ich ja gefaßt sein, sondern, zur Vermehrung meines Schreckens, eine durch und durch befreundete Gestalt. Es war, kurz gesagt, kein anderer Degen als der vorgenannte, die freundliche Lichtgestalt, die mir höher als Otto von Trautwangen, näher als der Truchseß mit samt dem ganzen Bunde, aber doch immer noch etwas ferner als meine Stadt und ihre Sache stand, und vor welcher ich daher in einer Mischung von ästhetischer Ehrfurcht und politischer Unzufriedenheit das sechzehnte Jahrhundert geräumt hatte. Dieser Held war mir unvermerkt auf meinem ganzen Rückzüge nachgerückt, trat mir nun überall mit gefiederter Waffe stürmend und verfolgend auf die Fersen, und drängte mich, trotz seiner den Bundesobersten gegebenen Versicherung, er sei in dieser Gegend nicht viel auf die Jagd gekommen, aus allen meinen Positionen zwischen Hohentübingen und der Alblinie hinaus.

Der Instinkt, der einen berühmten, dicken Ritter bei Shrewsbury rettete und einen hocherhabenen Heros dreimal um die Mauern seiner Polis trieb, kam mir zu Hilfe; aber er wirkte so stark, daß ich allen Heimatpflichten und Heimatrechten treulos wurde, daß ich selbst die Eindrücke meiner ersten Ausfahrt vergaß, und von der Troja, die ich schirmen sollte, mich weit, weit über Ofterdingen hinaus, ja bis in den Bodensee hinein, jusque dans sage ich, versprengen ließ. Die Flucht ging, wie ich später lernte, zum Teil durch dieselben Gegenden, die dreißig Jahre zuvor einen noch größeren Rückzug gesehen hatten, nur daß der gefeierte Held desselben festen Grund behielt und im folgenden Jahre wieder zu kommen verstand.

Das hatte ich nun gleichfalls im Sinn, denn ich wollte bloß für einen Augenblick auf einem geschützten Punkte meine Kräfte sammeln, um alsdann plötzlich wie ein Gewitter zum Entsatze meiner hartbedrängten Ghibellinen zurückzueilen. Zu diesem Behuf ließ ich sofort aus den Wellen des Bodensees eine Insel steigen, auf welcher zween Ritter mit geschlossenem Visier zusammentrafen und unverzüglich haarscharf aneinander gerieten.

Der eine dieser beiden Ritter war natürlich niemand anderes als unser erb- und eigentümlicher Blaubart Heinrich Raspe höchsteigenselbst; vorerst jedoch im Feierkleide der Romantik, im strengsten Inkognito. Diesen Kunstgriff hatte ich meinem Vorbilde so glücklich abgelauscht, daß ich ihn nicht früh genug an den Mann bringen konnte. Auch der andere Ritter trug den romantischen Staatsfrack, Inkognito geheißen, und zwar dieser mit dem besten Fug. Er war nämlich ein völlig unbekannter, junger Gutedel aus den Bergen und Burgen unserer Nachbarschaft, die eine so reiche Auswahl von romantischen Namen bietet, daß ich nicht mehr sagen kann, ob er Otto von Sondel-, Trochtel- oder Holzelfingen, Kuno von Degerschlacht, oder etwa Guntram von Bronnweiler hieß. Auch weiß ich nicht mehr, ob ich es vielleicht gewissen kirchlich-politischen Erwägungen vorbehalten hatte, ob er schon jetzt oder erst später der hohenstaufischreichsstädtischen Sache angehören sollte; indessen vermute ich das erstere. Über seine Haupt- und Schlußbestimmung war ich jedenfalls mit mir im reinen.

Von diesen beiden Unbekannten nun führte sich der größere gleich im ersten Auftreten als entschiedener Herodes und Nebukadnezar in die Geschichte ein, tat auf der Insel zu Hause, als ob sie seine »güldene Aue« wäre, und fuhr den anderen mit der Frage an, was er hier zu schaffen habe. Dieser gab, wie billig, die unbillige Frage zurück, und da keiner dem anderen seinen Paß vorzeigen wollte, so entwickelte sich alsbald ein lebhafter Dialog.

Ich gäbe etwas darum, wenn ich das Protokoll dieser Verhandlung noch besäße; denn da es, wie mir dünkt, eine ziemliche Zahl von Druckseiten, vielleicht einen halben Bogen, gegeben haben würde, so muß es doch wohl außer der Paßfrage noch etliche andere Staatsangelegenheiten des dreizehnten Jahrhunderts berührt haben, wohl gar ein und das andere in Helldunkel gehüllte Staatsgeheimnis, dessen Enthüllung mir der auf Quellen, die wahre Hungerbrunnen sind, verwiesene Geschichtforscher jetzt mit Gold aufwägen würde. Aber ich muß gleich im voraus bemerken, daß die vielen literarischen Schätze, deren Verlust wir beweinen, auch den in Rede stehenden Kodex zum Genossen haben: ein dunkles Fatum hat die Hand auf ihn gedeckt.

Daß ich jedoch mein »historisch-romantisches Tableau« mit einem wie aus der Pistole geschossenen Wortwechsel eröffnete, mag wohl einem abermaligen unbewußten Drange zugeschrieben worden, der übrigens gar nicht zu verwerfen war; denn ich fühlte vermutlich, daß der Dialog meine stärkste Seite sei. Meine schwächste war jedenfalls die »malerisch-romantische«: da ich den Bodensee und seine Umgebungen nie mit Augen gesehen hatte, so mußte ich die Farbenschachtel, der ich mein Landschaftsgemälde entnahm, sorgfältig, ja geizig zu Rate halten. Doch fehlte es auch hier nicht an allem und jedem Effekt, indem das bewegte Element, in dessen Schoße mein Eiland ruhte, durch die wiederholte Erinnerung an »See«, »Gestade« und »Wellenschlag« vergegenwärtigt und die Insel selbst mit einer Provision von Grün ausgestattet war, das immerhin zur Lämmer- oder wenigstens Gänseweide hingereicht haben würde.

Lebhaft, sage ich, war der Dialog, scharf war er, und das ist nicht zu verwundern. Das Jahrhundert, das so farbenhell begonnen, nähert sich ja bereits seiner dunklen Mitte, das Reich hochdeutscher Herrlichkeit zerfällt, und immer eiserner klingt der Tritt der Zeit. Auch an dem feinen Musenhofe von Wartburg-Eisenach ist das Lied der Nachtigallen, die in Landgraf Hermanns Tagen das Herz erfreuten, den Mut erhöhten, längst verstummt; selbst das Heiligmilde, das dem Weltlichschönen folgte, hat nicht Raum gefunden in der argen, harten Welt; rauhhärige Schwäger, unartige Hausväter, unglückliche Königs- und Kaiserstöchter, sturm- und drangvolle Hohenstaufenenkel schreiten dort jetzt über den entweihten Boden hin, den Boden uralt-südnördlicher Sprachvermählung, der noch zweimal im Laufe der Jahrhunderte die kräftigste Saat, die goldenste Blüte des deutschen Geistes tragen soll. Jetzt aber ist vorerst ein habsüchtiger Pfaffengeist dort eingezogen, und der Minnesang hat sich scheu vor dem politischen Liede geflüchtet, das schon Herr Walther von der Vogelweide – eine fröhliche Urständ verleihe ihm Gott, in dem er nun seit etwa zwanzig Jahren ruht! – so spitz und schneidig zuzuschleifen wußte. Schärfer noch mag's bei einem Raspe stechen oder hauen, wenn er's nämlich mit seiner Stahlfeder schreibt; über die Lippen jedoch kommt ihm vermutlich nur schlichte Prosa, und auch diese, wie der Name gibt, etwas geraspelt. Indessen wer sie dereinst in die Zunge des neunzehnten Jahrhunderts übertragen will, der wird den Mund wohl ziemlich voll nehmen müssen.

Ob ich nun bei diesem Geschäfte Betrachtungen solcher Art angestellt habe, weiß ich nicht mehr zu sagen. Übrigens stand mir ein Handbuch des Sprachschatzes zu Gebot, woraus ich den nötigen Vorrat in Fülle schöpfen konnte, nämlich Schlenkerts Friedrich mit der gebissenen Wange, bei welchem gleichfalls der Dialog die vorherrschende Seite ist. Wofern jedoch mein Raspe auch nur im Ulmer Bundeskriegsrat von 1519 beim Truchseß von Waldburg in die Schule gegangen sein sollte, so lautete sein Deutsch für meine Zwecke schon grob genug.

Aber auch du, mein biderber kleiner Held, gewiß hattest du vom Heimatboden etliche der »starken Wurzeln deiner Kraft« auf unseren Rückzug mitgenommen, Sprachwurzeln und Sprachformen, deren zum Teil weit über das Mittelalter hinaufreichende knorrige Eichenkraft eine Germanistenversammlung entzücken und einen romantischen Teetisch zur Verzweiflung bringen könnte. Aber eben aus letzterem Grunde wirst du, der du ja, wenn auch nur in Gedanken, zur Einführung in die »elegante Welt« bestimmt warst, gerade die verdienstlichsten dieser Wurzeln und Formen unterschlagen haben. Als unreifer Gutedel magst du inzwischen hinreichend herb gewesen sein, zumal im heimlichen Bewußtsein deiner Prädestination, den Störer deines insularischen Friedens dereinst an geeigneterer Stelle vor deinem Siegerschwerte weichen zu sehen.

Ha, wie schwungvoll mag er aus deinen Reden herausgeklungen haben, der stolze Ruf:

Ihr, ihr dort außen in der Welt,
Die Nasen eingespannt!
Auch manchen Mann, auch manchen Held,
Im Frieden gut und stark im Feld,
Gebar das Schwabenland!

So hat ja er, der jetzt auch der unsere ist, uns in jenen Tagen zugesungen, da wir ihm noch »Ausland« waren, in jenen Tagen, da auch der Seinen noch kaum einer ahnte, daß er dereinst in der Meisterschule als »Friedrich der Große von Schwaben« besungen oder besaget werden würde.

Beiläufig übrigens, bei Gottes Zorn, der Titel ist zu hoch für meinen beschränkten Untertanenverstand! Ich brauche den Ausdruck mit Bedacht, weil es ja ein Potentatentitel ist. Auf welchen Potentaten soll denn die Vergleichung gehen? Ich weiß nur einen, der ganzen Anspruch auf den Titel hat, nämlich den mit der Nr. 1 und der Ziffer 1152–1190, sofern sein gleichfalls großer Enkel, der an einem berüchtigten Bluttage geborene Tyrannensohn, in all seiner Würde und Anmut mehr Italiener als Schwabe gewesen ist. Ruhm und Ehre, aber auch Friede und Ruhe dem Gedächtnis, das um den Namen unseres ersten Friedrich schwebt! Volkskaiser, wie vor ihm nur Karl der Große und nach ihm keiner mehr, »demütig edel deutsches Blut«, das Romanorum Imperator, doch nicht ungermanischer Großmann sein wollte, dabei aber auch ein Donnergott über Groß und Klein, Deutsch und Welsch, der den Bart aufblasen konnte, daß man gern vor ihm drei und dreimal drei Jahrhunderte, der Völkerwanderung zum Trutz, zurückgewichen wäre! Nun mag ihm unser Dichter nach beiden Seiten etwas gleichen. Volkstümlich darf man ihn in hohem Maße nennen, da seine Werke, wie die Anzeige mit Wahrheit sagen kann, »in den Händen eines jeden sind«; nur brachte es bei dem Rotbart die Sitte seinerzeit sowohl, als der Beruf des Heerführers, Reichsvogts und Gerichtsstuhlherrn mit sich, daß er dem Volk persönlich noch um sehr viel näher stand. Die Neigung, das furchtbar strenge Gericht zu üben, das man im Mittelalter nach dem ersten und später nach dem fünften Karl benannte, mag wohl auch unseren Dichter dann und wann beschlichen haben; doch selbst im heißesten Drange des Xenienkampfes, riefen er und sein großer Kriegsgenosse einander zu, des Geistes Durindane dürfe nicht zur Karolina werden; weswegen es dahinsteht, ob er als Geschichtschreiber die Verurteilung deutscher Reichsfürsten zum Hundetragen gebilligt haben würde. Mit einer Demut, die keinen falschen Blutstropfen kannte, beugte er sich dem älteren und noch begabteren Mitoberhaupt im Reich der Geister; doch auch die geistige Unabhängigkeit, die persönliche wie die Freiheit der Völker, wahrte er nach jeder Seite hin, und wie würde er als Zeitgenosse des gewaltigen Kaisers für die Lombarden gesprochen haben! Der Mantel unseres kaiserlichen Schwabenfriedrich ist somit unserem großen Dichter nicht gerecht.

Oder gilt die »Pointe« seinem »pointiertesten« Zeitgenossen, dem »alten Fritze«, den man auch, und in mehr als einer Hinsicht mit Recht, den Großen nennt? Der würde sich denn doch wohl in seiner bekannten und pikanten Weise für den »gnädigen Spott« zu bedanken wissen, da er längst eingesehen haben wird, daß ihn, den größten nicht bloß, sondern auch den geistreichsten deutschen Fürsten seinerzeit, der Geist der deutschen Dichtung, der neuen wie der alten, stark am Zopf gerissen hat. Ebenso würde hinwiederum eine Vergleichung von anderer Seite, von politischer, bei dem Dichter übel ankommen, der als Geschichtschreiber, in welcher Eigenschaft ich gleichfalls ihn zu lieben mir erlaube, so helle politische Blicke in die deutsche Geschichte getan hat, daß er die politische Romantik des großen hohenzollerisch-brandenburgischen Regenten und Soldaten, sowohl in der mittelalterlichen Gestalt eines vorgeschobenen Gegenkaisertums, als in der modernen Form des Siebenjährigen Krieges, zwar bis zu einem gewissen Grade bewundert und zurechtgelegt, aber, was ja auch seine epische Desertion aus Friedrichs, wie aus Gustav Adolfs Lager andeutet, schwerlich geliebt haben kann. Das wird wohl keinen Streit mehr geben. Indessen stehet dieses alles geschrieben in den Büchern der Könige wie auch in der Chronika, und was dort geschrieben steht, »das steht eben da«. Alles wiederholt sich nicht im Leben, wenigstens nicht buchstäblich, und man wird daher einigermaßen der paritätischen Hoffnung Raum geben dürfen, daß gewisse kaiser- oder gegenkaiserromantische Phantasieen, die schon einmal in diesem Jahrhundert sich an Preußen die Milchzähne ausgebissen haben, jetzt noch gesündere Nüsse in Preußen wie in Österreich zu beißen finden werden. Wie jedoch dem sein möge, in unserem Dichter sehe ich, bei allem Heldengeist und manchem »Friedrichsblick«, mit dem alten Preußenhelden wenig Ähnlichkeit. Geistesverwandte sind sie, wie alle großen Geister der Geschichte. Da aber zur Vergleichung ein möglichst volles Maß von Gleichheit gehört, so würde, ungeachtet der großen Zeitenferne, ein Äschylos von Deutschland und Schwaben immer noch um ein Gutes näher liegen, als ein Friedrich von Schwaben oder Preußen.

Ich hab's also immer noch nicht heraus, wo der Witz der Vergleichung liegt. Und in der Meisterschule macht man keine Vergleichung ohne Witz. Das würde über der Lade gerügt werden, und davor nimmt man sich in acht. Doch jetzt glaub' ich eine Spur zu haben: ein großer Friedrich aus Schwaben! Das ist nun freilich ein Punkt, der mich gerade so berührt, wie mich nur in meinen grünsten Tagen die Affäre von Döffingen berühren konnte. Freilich ist's der Welt bekannt: wir Schwaben sind ein Menschenschlag, der nicht bloß selbst witzig, sondern Ursache ist, daß auch andere Leute witzig werden. Schlagen wir da im dreizehnten Jahrhundert einen Heinrich Raspe seinen Thüringern heim, die uns dafür und dazu im achtzehnten unseren Friedrich Schiller behalten! Es ist ein Schwank übrigens, bei dem man das Lachen unterdrücken kann. Zwar, eben wenn man ernsthaft davon sprechen will, mag man wohl nicht mit Unrecht sagen, die Schwaben seien damals im Herzog Karl aufgegangen und die Thüringer im Herzog Karl August. Dann läßt sich geltend machen, daß die Schwaben damals noch nicht einmal die Räuber bei sich auf der Bühne gesehen hatten, geschweige denn Wallenstein und Tell. Auch soll es unvergessen bleiben, daß das übrige deutsche »gebildete Publikum« dem großen edlen Geist, von dem wir reden, im Leben mäßige Ehre und kärgliche Treue bewiesen hat. Warum ist er denn so früh gestorben? Wenn man die Stücke, die dem ausgereiften Wallenstein auf der Ferse folgten, an einzelnen Stellen unbefangen in das Auge faßt, so erkennt man den ebenso bewunderns- als beweinenswerten Flug eines gehetzten Edelwilds; und wiederum, betrachtet man die Fülle geistiger Kraft, die im Tell, die vornehmlich noch in den Reliquien des Demetrius, »den Widerstand der stumpfen Welt besiegen« wollte, dann ruft man unwillkürlich mit dem alten Eckart aus; Jetzt kommen erst die herrlichsten Geschichten! Aber es hat anders kommen sollen:

Da folgt der gute Sänger schnell,
Er hat den Zug beschlossen!

Es ist ein öffentliches Geheimnis, daß er, obwohl es nicht an gutem Freundeswillen und beschränkten Freundeskräften für ihn fehlte, sein Leben der Nation und Menschheit geopfert hat, daß er, wenn auch nicht eben bei Brot und Wasser, den Keplerstod gestorben ist. Darum soll bei dem großen Festzuge, zu dem die Welt sich schon zu rüsten beginnt, neben den erhebenden Weiheklängen, den stolzen Posaunenstößen, auch neben den muntern Neckliedern, womit die unverwüstliche Schalkheit des Volks von jeher nicht bloß seine Edelinge und Könige, sondern selbst den hammerschleudernden Wagenlenker im Donnergewölk am roten Bart zu zupfen wagte, neben all dem Widerstreit der Feiertöne soll nicht der dumpfe, tiefe Wirbel des Heldentrauermarsches fehlen! Denn ganz aller Frömmigkeit bar ist ja der Deutsche nicht, und wenn er sie auch nur als »Pietät« zu hegen wagt. Doch hat ein unbewußter Fridolinszug, gleichwie ihn selbst zuzeiten, so auch uns zur Kirche hingeleitet. Haben wir nicht dem mit gemeinsamen Kräften errichteten ehernen Denkmal auch noch die geweihte Nachbarschaft des Gotteshauses erkämpft und für die Enthüllungsfeier jene Glocken herausgeschlagen, die einst Napoleon dem Großen, dem Wiederhersteller und Mehrer einer von Aachen bis nach St. Helena reichenden karolingischen Weltmonarchie, zum festlichen Einzuge läuteten? Und es war wohlgetan: denn auch die Frommen müssen wissen, daß der große Dichter und Denker eine Obrigkeit ist, die sie zu fürchten und zu ehren lernen sollen.

Aber halt ein – nun bist du von selbst darauf gekommen! Der Titel wird ihm gegeben, weil auch er ein Potentat gewesen ist. Das war er, ja. Hat er doch selbst es gewußt und ausgesprochen, daß der Dichter mit dem König auf der Menschheit Höhen stehe, der Denker ein König und Bauherr sei, der vielen Kärrnern zu tun gebe. In diesem Bewußtsein konnte er seiner Mitwelt hochfahrend gegenübertreten, oder auch großmütig, wie jener Amor bonorum, Terror malorum, von dem die Inschrift des Hohenstaufenkirchleins spricht. Allein sie sind nicht zu zählen, die Beinamen, die man ihm alle geben müßte, um sein Wesen ganz zu bezeichnen: der Strenge und auch der Milde, der Jugendliche und der Weise, der Sprühende und der Geduldige, der Eiserne, zumal gegen sich selbst, der Große, Größere und Größte für alle, die sich groß fühlen, der Vielgeliebte, und in jedem Sinn der Einzige.

So hätte uns endlich doch der Titel das Verständnis aufgetan, und wir könnten nunmehr weiter gehen. Doch nein, noch einmal stehe still, o Wanderer! »Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.« Auch diese letzte Auslegung wird durch die Größe seines Reichs zuschanden. Es umfaßt ja mehr, als was Karl der Große in Austrien und Neustrien, was das römisch-deutsche Reich jeweils in Germanien, Francien oder Gallien, Lothringen, Burgund, Arelat und Italien besaß. Auf der Briteninsel huldigen ihm, die nie diesem Reich sich unterworfen, schöne und stattliche Provinzen; in der vormals unbekannten neuen Welt besitzt er Sonnenlehen, deren Grenze wir nicht ermessen, und mit jedem jungen Jahre fallen ihm in allen Himmelsstrichen neue Lande zu. Der Königs- oder Kaisermantel eines Potentaten ist zu eng, zu klein für ihn.

Von jeder Seite hab' ich nun den Titel umgangen und darauf angesehen, ob ich mit ihm fertig werden könnte. Vergebens, da steh ich immer noch, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor. Da ich nun aber doch nicht mein Lebenlang vor dem Titel stehen bleiben kann, so muß ich mich vorderhand, vielleicht auf Wiedersehen, beurlauben und für meine Beschränktheit um Nachsicht bitten.

Es ist ohnehin jetzt hohe Zeit, daß ich das erste Kapitel meines historischen Romans zu Ende bringe.


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