Hermann Kurz
Denk- und Glaubwürdigkeiten – Jugenderinnerungen – Abenteuer in der Heimat
Hermann Kurz

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Viertes Kapitel.

Was jedoch unter allen Erzeugnissen der mir damals zugänglichen Romanliteratur den mächtigsten Eindruck auf mich machte, das war der Lichtenstein. Ich stand eben auf dem Punkt, die Grenze der Knabenjahre zu überschreiten, als dieses Buch die Lesewelt überraschte. Daß ich es fast gleich nach seinem Erscheinen zu sehen und zu lesen bekam, ist ein Beweis von dem Aufsehen, das es erregte; denn – ausgenommen ein mit dem Mantel von Marengo und der Sonne von Austerlitz illustriertes Ehrendenkmal Napoleons, das ein Freund meines Vaters aus dem Französischen übersetzt hatte, waren die Bücher, die ich in meiner beschränkten Umgebung kennen lernte, längst über Wunsch und Furcht der ersten Aufnahme weg und nicht mehr von den »trüglich wankenden Planeten« der öffentlichen Meinung abhängig.

Daß nun im Lichtenstein die Erfindung leicht abgetan und die Geschichte sorglos behandelt ist, was verstand ich davon, und wer kümmerte sich darum in der ersten freudigen Ergriffenheit? Hier erschien mir zum erstenmal die Heimat in dem Lichte, in welchem unsere anderen Erzähler meist nur die Ferne zu zeigen bestrebt gewesen waren. Während diese den Zuruf Goethes, in das Land des Dichters zu gehen, buchstäblich nahmen und am überseeischen Tische eines reichen Mannes fremde Brocken mit fremdem Munde kauten, hat der jugendliche Dichter des Lichtenstein, zwar nach dem Vorbilde der Waverleynovellen, aber zugleich in Uhlands und seiner Freunde epischen Spuren gehend, für unsere Dichtung zuerst wieder recht eigentlich die Heimat entdeckt, der er nur allzufrüh durch den Tod entrissen wurde, um in den Wirklichkeiten der Welt so dichterisch-heimisch werden zu können, wie er im Wunderreiche des Märchens zu Hause war.

»In dem gesegneten Schwabenlande« – so hatte zwar auch der Zauberring begonnen; doch die Burg und Aue an der Donau schwebten in einer unbestimmten Dämmerung, in welcher sich Traumgestalten bewegten. Im Lichtenstein aber sah ich Bekanntes und Unbekanntes im hellen Tageslichte, und schien der Mond einmal, so war er selbst dann, wenn er etwa aus den Memoiren des Satans im OstenVgl. Gesamtausgabe von 1840, Bd. 3, die geographisch-astronomische Kombination von S. 159, Z. 11 v. o., mit S. 162, Z. 10–8 v. u. unterzugehen gelernt hatte, doch immer unser guter alter geschichtlicher Mond. Unter dem Unbekannten verstehe ich das, was ich noch nicht gesehen hatte, und dessen war viel, so zum Beispiel das ganze Donaugebiet der Erzählung, und mehr als das halbe Tal des Neckars, den ich zwar seit der Reise nach Ofterdingen an diesem und jenem Punkte schon überschritten hatte.

Fremd war mir namentlich unsere stolze Schwesterstadt Ulm, und welchen Reiz der Ferne übte der Bankettwein, den sie schenkte! Aus dem Witwenkrüglein meiner »Frau Dote« stoß zwar ein goldheller »Häsliwein«, den selbst ein Herzog Ulrich nicht verschmäht hätte; aber an dem Uhlbacher des Ulmer Rathaussaales las ich mich in einen magischen Rausch hinein, als ob das flüssige Feuer zu Malvasia, auf Cypern oder bei der Zaubergrotte von Kreta gewachsen wäre. Und doch waren meine Lippen diesem tropischen Gewächse bereits mehr oder weniger nahegekommen; landschaftlich einmal gewiß, ja zweimal, denn so oft war ich schon die »Weinsteige« hinabgezogen, um die für mich zur Herrin gewordene Hauptstadt oder vielmehr den in ihr gelegenen schwäbischen Olymp, den Sitz des Prüfungsreichen »Landexamens«, zuerst mit einer »Petition« und dann mit einer »Prima-Exspektanz« zu stürmen;Für das chinesische Publikum, dem diese Verhältnisse unbekannt sind, ist hier zu bemerken, daß die Herbstlesen des obengenannten Berges drei Jahrgänge und drei Prüfungsgrade umfaßten, so daß, wer fernd zum Petone gereift war, heuer als Expectans prima vice und übers Jahr desgleichen secunda, also in zweiter, dritter und letzter Erwartung, zum Examen kam. vielleicht aber auch einmal körperlich, denn als »Petent« war ich nebenbei aus dem Stande reichsunbemittelter Niedrigkeit in den alt- und neuwürttembergischen »Verwandtschaftshimmel«, ja, in den gastfreien Schoß eines jovialen Herrn Prälaten erhoben worden, der einen sehr guten Tisch und einen noch besseren Keller führte. Daher dürfte die Konjektur nicht zu gewagt sein, daß meiner persönlichen Bekanntschaft mit dem Junker Dietrich von Kraft die seines Leibweins vorausgeeilt sein möchte, wiewohl ich in diesem Fall das edle Getränke nicht als Kenner, sondern, wie man zu sagen pflegt, als »unwissender Ignorant« verkostet haben würde, und zudem einen Jahrgang, der vermutlich älter, gewiß jedoch preiswürdiger war als der, mit dem der gute alte Herr von Breitenstein sich »anstreichen« ließ, nämlich einen in der Kelter gedruckten.

Überhaupt kann ich nicht im vollen Sinn des Worts von unbekannten Gegenständen reden, weil ich – mit Ausnahme des Uhlbachers, der mich übrigens durch seinen wiewohl schuldlosen Namen eher ein bißchen an den Kasper a Spada, als an den Zauberring hätte erinnern sollen – auch das Unbekannte vom Lesen und Hörensagen beinahe so genau kannte, wie wenn ich es gesehen hätte. Des Bekannteren war aber auch nicht wenig. Lichtenstein und Nebelhöhle traten nicht bloß an das Ohr, sondern auch an das Auge heran. Im Hirsch zu Pfullingen hatte ich bei einem und dem andern kleinen Ausflug der Familie mit eingekehrt, und auf dem Tübinger Schlosse war mir sozusagen jeder Stein befreundet. Dieses Schloß bewahrte ja noch, wie oft von mir gelesen! die schwarze Tafel mit den Namen der vierzig Ritter, die ihr Lehnsherr dort hatte aufhängen lassen, die Namen nämlich, und aus dieser kitzlichen Geschichte war für mich ein Silberstück erblüht, weil ich durch die unschuldige Frage, warum denn diese vierzig im Kalender ohne Namen stehen, dem Zwerchfell des dortigen Großvaters eine kleine Wohltat erwiesen hatte, die der alte Herr als solider Mann honorieren zu müssen glaubte.

Und alle diese Gegenstände, die mir, mit der schon genannten Ausnahme, teils vom Sehen, teils vom Hören alltäglich waren, sah ich nun auf einmal »romantisch« verklärt, und wurde gewahr, daß das Bekannte – vielleicht jedoch etwas mehr in der Beleuchtung der Vergangenheit, als im Lichte der Gegenwart – die dichterische Wirkung befördert, anstatt sie aufzuheben, oder, anders gesagt, daß das Heimatgefühl für sich selbst schon eine Quelle der Dichtung ist. Daß wir der Dichtung nun, besonders wenn sie aus dieser Quelle schöpft, noch immer einen fremden Namen geben, das beweist eben, daß wir uns ihres Ursprungs, wie unserer eigenen Ursprünglichkeit noch immer nicht ganz vollbewußt geworden sind. Oder beweist es vielleicht noch etwas mehr?

Jedenfalls ist und bleibt es mir lieb, daß ich früher aus dem Uhlbach, als aus der Tweed und Themse getrunken habe, so reinlich und unerschöpft bei dem »Ariost des Nordens« diese Ströme fließen; denn wenn sie mich auch für einen Augenblick halb zum Briten und beinahe ganz zum Schotten machten, so wirkte doch gerade in diesem ihrem Zauber am stärksten ein leiser Nachklang jener Heimseligkeit, die ich einst über dem Lichtenstein empfunden hatte.


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