Hermann Kurz
Denk- und Glaubwürdigkeiten – Jugenderinnerungen – Abenteuer in der Heimat
Hermann Kurz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Buch.

Aber, Menschenkind, was hast du da jetzt wieder angerichtet? Du, der selbstgefühlvollste, eifersüchtigste Sondergänger unseres mehr als dreißigspältigen literarischen Reiches, machst diesem für die Freiheit so wohltätigen Interregnum durch den gedankenlosesten aller Handstreiche ein Ende mit Schrecken, hebst noch obendrein einen anderen als dich selber auf den Schild und rufst ihn vor allem Volke zum ersten deutschen Klassiker unserer zweiten Periode aus!

Denn sieh nur den Schluß des vorhergehenden Buches an, und du wirst dir keine Täuschung darüber machen können, daß du wieder einmal ein Sic von non vobis geliefert hast. Deinen Senf als Urgewächs nachzuweisen, das würde dir schöne Mühe kosten, und gesetzt auch, dies gelänge dir, so hast du ihn in eine Bannmühle getragen, deren Zwingen und Bannen er unwiderruflich verfallen ist. Und dann betrachte dir die Form, die du dieser deiner Feudalleistung gegeben hast. Weißt du denn nicht mehr von der Schule und vom Kloster her, welche Art Autores durch diese Einteilung und Numerierung bezeichnet und ausgezeichnet werden? Hast du die kleinen Kapitel des Herodot vergessen, die oft nur aus einem einzigen Satze bestehen, aber eben darum oft so verzweifelt groß für eine unvorbereitete Schülerseele sind? Hast du sie gänzlich abgeschüttelt, die Erinnerung an das Kapitelchen von der Gallwespe, durch dessen seltene Bemeisterung du den lieben Kommilitonen in collegio ungeheuere Heiterkeit und dem Herrn Professor noch ungeheure Indignation bereitet hast? Schau, Männlein, einen Autor mit solchen Kapiteln und solchen Kapitelzahlen nennt mau einen Klassiker. Ein solcher ist soeben aus deiner Mache hervorgegangen, und du hast das Nachsehen.

Ja, wenn es nur mit dem Nachsehen getan wäre! Aber eine noch weit bitterere Strafe hast du über dich verhängt, nämlich das Nachtreten. Du kannst und darfst nicht zugeben, daß unsere gegenwärtige Periode nur einen einzigen Klassiker haben sollte; das bist du nicht bloß dir selbst schuldig, sondern noch weit mehr der Klassizität. Einen Schriftsteller, der nicht nach dieser ringt, sollte man ja mit einem Mühlstein um den Hals ins Wasser werfen, wo es am tiefsten, oder vielmehr, wo nur überhaupt Wasser zu finden ist. Überdies würde das Gleichgewicht Deutschlands darunter leiden, wenn jetzt nicht alles sattelte, was irgend beritten ist, um dem Vorgang, der nun einmal leider nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann, zu folgen. Du darfst noch froh sein, daß du die Neuigkeit aus erster Hand hast und den übrigen um eines Pferdes Länge zuvorkommen kannst.

Aber nicht wahr, etwas schmerzhaft ist es doch, bei dieser Gelegenheit der Worte Cäsars gedenken zu müssen, die man immer so besonders gut gefunden hat, er möchte lieber Dorfschulz als in Rom nicht der Erste sein? Und nun darf man fest im Sattel sitzen, wenn man in Stadt und Dorf auch nur der Zweite bleiben will. Doch – wunderbare Fügung, deren Finger jetzt eben sichtbar wird. Ist es nicht –? ja, wahrlich, es ist dieselbe Nummer, die man einst im großen Examen am Schlusse der theologischen Universitätslaufbahn davongetragen hat, II, b!Das geistliche Wahlreich, das aus dieser Schlußprüfung hervorgeht, zerfällt in drei Klassen mit je zwei Abteilungen, die in etwas den Ständen des weiland heiligen römischen Reiches entsprechen. Kl. I vergleicht sich dem Kurfürstenkollegium, und zwar, je nachdem's in I, a aussieht, mit keinem, einem oder mehreren Häuptern; II, a, umfaßt die Reichsfürsten, II, b die andern Reichsstände mit Inbegriff der Reichsstädte, III, a die Ehrbarkeit in Stadt und Land, III, b, mit einer Unterabteilung »unter dem Strich«, den gemeinen Mann, auch Herr Omnes u. dgl. geheißen. Es gibt am Ende doch so etwas wie eine Prädestination, einen Stempel, den man nicht los werden kann.

Ich mag die Sache überdenken wie ich will, ich scheine recht zu haben. Und doch empört sich gegen diese zweite Violine mein ganzes musikalisches Gefühl. O ihr meine opera quae supersind omnia,Literarhistorischer Ausdruck für die auf dem Lager befindlichen Vorräte. ihr in so manchen schönen Träumen mich umschwebende, was sagt ihr dazu? Und du, stolzbescheidene Anzeige,Die Bücheranzeigen halten sich in der Regel an das Programm: »Die Herren reiten selbst«, wenigstens die Lebenden; und dies ist so gebräuchlich, daß man eine Selbstanzeige von einer verlegerischen meist ziemlich genau unterscheiden kann. die schon so lang in meinem Pulte ruht, die ein gedoppeltes nonum prematur schon überschritten hat, wirst du, ach wirst du je noch in diesem Jahrhundert an das Licht gelangen?

Doch wenn das Schicksal gebietet, so hilft kein Sorgen und kein Grämen, noch selbstgemachte Pein; da gilt es, die Zähne übereinander zu beißen und die Zügel zu verhängen, wie Marcus Curtius tat, als er in den Abgrund sprengte.

Also nach!

1. Im Weinberg der Erinnerungen eines kleinen Lesers, wie man etwa meine beiden vorigen Bücher betiteln könnte, ließe sich noch eine reiche Nachlese halten. Beinahe reut es mich, daß ich »Gumal und Lina« übergangen habe, ein Buch, dem ich die erste Bekanntschaft mit dem Worte »Wüterich« verdankte, welcher Wortlaut in mir eine sonderbare, höchst verworrene Vorstellung, etwa dem Begriffe eines höheren Gänserichs ähnlich, hinterließ. Der Kreuz- und Querzüge des Ritters von A bis Z, des Junkers Kyx von Kaxburg und verwandter Blau-, Rot- und Bohnenbärte des seligen Humors unserer Großväter will ich nur aus dem Grunde Erwähnung tun, weil mir beifällt, daß ich im gleichen Zug mit ihnen zufällig auch den Don Quixote, und zwar in der Übersetzung von Tieck, zu lesen bekommen habe, eine Tatsache, die kaum wohl meine damalige Urteilskraft und Unterscheidungsfähigkeit erprobt, dafür aber einen dankenswerten Maßstab mir geliefert hat, der mich begreifen lehrt, wie ein gutes tolerantes und neutrales Publikum Kraut und Rüben, Hasenschrot und Koriander als gleich vortrefflich durcheinander genießen und in einem Magen zusammen verdauen kann. Greife ich aus der Menge jener Schatten, die sich um mich drängen, endlich noch den Heinrich von Eichenfels heraus, so ist es weniger darum, daß ich durch ihn etwa zu einer besonders klaren Erkenntnis Gottes gekommen wäre, sondern weil ich aus ihm die seltsame Kunde schöpfte, daß man auf dem Hackbrett musizieren könne, wiewohl mir dieses Wissen wenig half und manche derbe Ausweisung aus der Küche zuzog, bis ich mit der Erfindungsgeschichte der Musikinstrumente vertrauter wurde.

2. Hiemit aber bin ich bereits in der Vorhalle eines Literaturschatzes angekommen, dessen ich nicht vergessen darf, weil er trotz seines dürftigen, verschlissenen und armutseligen Aussehens einen hohen Rang behauptet, und von dem ich um so ausdrücklicher handeln muß, weil ich mir ein nicht gemeines Verdienst um ihn erworben zu haben glaube.

Die Literatur, die ich meine, gehörte gewissermaßen in die Familie, denn sie erschien, allezeit »gedruckt in diesem Jahr«, bei einem Vatersvetter, der einen Buchhandel für das Volk mit den beliebtesten geistlichen und weltlichen Schriften betrieb. Seine Offizin arbeitete auf einem etwas bescheideneren Fuße, oder, fachmäßig gesprochen, auf einem etwas kleineren Kegel als die Universitätsbuchdruckerei, daher ich auch erst später ihre Bekanntschaft machte, die aber dafür eine um so innigere wurde. Ich darf daher mit einem selbstbewußten Rückblick auf meinen Stammbaum sagen, daß ich sowohl von der Schwert- als Kunkelseite her mit Johann Gensfleisch zum Guttenberg verwandt und gewissermaßen für seinen Kultus geboren bin.

Die kleine reichsstädtische Presse, von der ich rede, hatte mit dem Nachdruck nichts gemein, oder vielmehr, der Nachdruck, den sie sich gestattete, war ohne Furcht und Tadel. Neben wenigen Originalartikeln reproduzierte sie lauter Schriften, deren Verfasser seit Jahrzehnten und Jahrhunderten kein geistiges Eigentumsrecht mehr in Anspruch nahmen, Schriften jedoch, die von dem anhänglichen Landvolke und von den spekulativen Hausierern an Markttagen fleißig gekauft wurden. Da war vor allen Arndts wahres Christentum und Paradiesgärtlein nebst Brastbergers Predigtbuch, dessen Titelbild die Inschrift trug:

Brastbergers Augenlicht strahlt hell aus diesem Schatten,
Wo Ernst und Liebe sich in edler Großmut gatten.

Dieses geistliche Magazin hatte jedoch auch weltliche Nachbarkammern. Ich erinnere mich einer alten Länderbeschreibung, worin unter anderen Bildern ein Tartarkhan sehr grausam in Holz geschnitten war, mit einer Unterschrift, die das Gegenstück zu der vorigen bildete:

Dies ist der Oberste der ungemenschten Tartern,
Die Christen bringen um, erwürgen, quälen, martern.

Ferner schwebt mir noch ein Roman aus dem vorigen Jahrhundert vor Augen, von einem Landsmann handelnd, mit Namen Hektor, der bei dem großen Brande unserer Stadt als Kind verloren ging, noch um sehr viel weiter als bis an den Bodensee geriet, und allerlei »wunderliche Fata« zu Land und Meer erlebte, bis er schiffbrüchig in ein fernes Land kam, eine Art Insel Felsenburg, wo er die Witwe des Königs heiratete und das Geschäft fortsetzte. Es schmeichelte mir doch ein wenig, einen König in meiner Sippschaft zu haben, was kaum zu bezweifeln schien, da dieselbe die ganze Stadt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfaßte; allein das Ausbleiben der Apanage enttäuschte mich zuletzt. Freilich wären es der königlichen Vettern und Basen an die zehntausend gewesen.

3. Der Hauptschatz aber, auf den ich jetzt eigentlich zu reden kommen will, bestand in den geliebten Volksbüchern. »Eine wunderschöne Historie von dem gehörnten Siegfried, was wunderlicher Abenteuer dieser teure Ritter ausgestanden, sehr denkwürdig und mit Lust zu lesen«; »Kaiser Octavianus, das ist: eine schöne anmutige Historie« etc.; »Historische Wunderbeschreibung von der sogenannten schönen Melusina« etc. etc. – wem geht bei diesen Erinnerungen das Herz nicht auf?

Der Rationalismus meines Vaters lag beständig mit den armen alten Historien in Fehde. Er verbot sie mir zwar nicht, da er sie nicht für schädlich hielt wie die Romane, aber er verspottete mich unbarmherzig wegen meiner Neigung zu dem »erlogenen absurden Zeug«. Ich glaubte ihm jedes Wort, und doch, so oft ich mich frei machen konnte, schlich ich nach einem verborgenen Plätzchen und erbaute mich in tiefster Andacht an dem »dummen Zeug«.

Der Fortunat war mein Lieblingsbuch; wie oft bin ich mit seinem Wünschhütlein in Gedanken durch die Lüfte gefahren und dem langsamen Erforscher der Behringsstraße, den ich gerade unter den Händen haben mochte, in die immer noch unentdeckte Atlantis vorausgeeilt! Nach dem Fortunat kamen die Haimonskinder, denen ich in ihrem Kampfe gegen Kaiser Karolus von Herzen beistand. Destomehr war ich mit dem Ausgang unzufrieden, bittere Tränen kostete mich die Versenkung des treuen Rosses Bayard, ich konnte dem Reinald diese seine Undankbarkeit nicht verzeihen, selbst sein Einsiedlerleben stimmte mich nicht versöhnlich, und noch als Heiliger war er mir verhaßt. Ich hätte anders mit dem Kaiser gesprochen! meinte ich. Am meisten aber gefielen mir die lustigen Streiche des Zauberers Malegys, die eine gewisse Verwandtschaft mit cartouchemäßigen Gaunerstücklein haben, wodurch die Erzählung einen modernen Zug erhält, den auch der Fortunat mit seinen Reiseabenteuern und seiner Geldwirtschaft hat.

4. In der Reihe dieser Volksbücher fehlte damals der größte aller Zauberer – ich nenne ihn so, weil er zur Entstehung des größten unserer Dichterwerke den Anstoß gegeben hat – der Faust; und diese Lücke gab mir Anlaß zu dem erwähnten Verdienst, das ich im Verfolge ruhmredig genug herausstreichen werde.

Die erste Gestalt, in der ich Faustum kennen lernte, war das einst vielverbreitete Drama von Klingemann. Eine wandernde Schauspielertruppe, die modernste Erscheinung in unseren puritanischen Mauern, hatte ihren Sitz bei uns aufgeschlagen, und ich wurde, ich weiß nicht mehr durch welche Vergünstigung, ihr täglicher Theatergast. Die Teufelsmühle am Wienerberge, das Donauweibchen und dergleichen Zauberpossen waren ihre beliebtesten Vorstellungen, aber auch der tragische Kothurn, meist nach Kotzebueschem Leisten, polterte über die Bretter der kleinen Bühne im Gasthause zur Post. Der Schutzgeist wankte in silbernen Flittern umher, die Kreuzfahrer rumorten in ihren papiernen Blechharnischen, und Armut und Edelsinn preßten die Tränendrüsen bis auf den letzten Tropfen aus. Einen besonderen Sturm erregten die Hussiten vor Naumburg unter der Schuljugend, deren eine Hälfte, zum Mitspielen abgerichtet, auf der Bühne »Genade! Genade!« schrie und von der anderen, den Gründlingen im Parterre, mit wieherndem Gelächter empfangen wurde. Die Verhöhnungen und Stichelreden führten nachher noch zu mancher Balgerei, bis endlich die sieben Mädchen in Uniform mit dem Jubel, den sie hervorriefen, das Andenken der gnadeflehenden Naumburger Bethlehemiten verwischten.

5. Nun verkündigte ein ungewöhnlich pompöser Zettel das Trauerspiel Faust. Noch heute meine ich ein Klingen von dem tragischen Gebrüll zu verspüren, womit das Bullenkalb, das seine Frau Käthe, seinen Vater Diether, und ich weiß nicht mehr wen sonst noch ermordet, die Kulissen stürmte. Aber mehr als die Reden, die ich kaum verstand, nahmen mich die Dekorationen in Anspruch, ja sie zogen mich so unwiderstehlich an, daß ich, nachdem der Vorhang zum letztenmal gefallen war und ein hoher Adel (wir hatten damals noch einen Kreisregierungspräsidenten) samt verehrungswürdigem Publikum sich entfernt hatte, mich mit einem meiner Schulgenossen auf die Bühne schlich.

Die Schlußdekoration war stehen geblieben, und wir befanden uns somit in der Hölle, wo wir's uns häuslich behagen ließen. Den meisten Spaß machten uns zwei sehr muntere Teufelchen mit roten Zungen und funkelnden Glasaugen; sie hingen an Schnüren einander gegenüber, und wir wurden nicht müde, sie tanzen zu lassen. Über diesem Spiel hatten wir uns ganz vergessen, bis zufällig jemand von den Schauspielern dazukam, uns im Licht einer noch glimmenden Lampe entdeckte und uns – sonderbarerweise in Ansehung des Ortes, wo wir waren – zum Teufel gehen hieß.

Es war mehr als eine Stunde seit der Beendigung des Schauspiels vergangen, und unsere Eltern schwebten in keiner kleinen Angst; denn das Posthaus lag jenseits des Flüßchens, und obgleich eine breite steinerne Brücke hinüber führte, so glaubte man uns, die wir nirgends zu finden gewesen waren, auch wieder einmal zur Abwechslung ins Wasser gefallen. Die Strafe, die auf mein Vergehen folgte, war eindrücklicher und nachhaltiger als das Reisegeld des alten Buchdruckerherrn; denn sie bestand in der Entziehung der Theaterfreiheit, die ich genossen hatte. Den ganzen Winter über mußte ich von den Herrlichkeiten erzählen hören, ohne teil daran zu haben, und so hatte ich, wie Gretchen, Zeit genug, an den Faust zu denken.

6. Dieser ersten schicksalsreichen Bekanntschaft mit dem Zauberer folgte später eine zweite von heiterer Art, nämlich nichts geringeres als ein Besuch bei ihm selbst, zu dessen Schilderung wir jedoch auf einige Zeit seinen Zaubermantel entlehnen müssen, um unsere Reichsstadt zu verlassen und nach der altpfälzischen Grenze hinabzuschweben.


 << zurück weiter >>